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Ja, das war der Tag, der unvergessen in Emmerode fortlebte, und nur einer war, der eine beinahe gleiche Teilnahme geweckt hatte, der, an dem es hieß: »Die Störche ziehen, aber in Bocholts Haus ist einer angekommen.« Und so war es; Hilde war eines Kindes genesen, eines Knäbleins mit spärlichem rotblondem Haar, und die weise Frau hatte gesagt: »Es wird nicht alt. Es ist zu hübsch und zu durchsichtig und sieht aus, als wüßt' es alles.«
Und nur zu bald zeigte sich's, daß die weise Frau richtig gesprochen, obschon es anfänglich gedieh und runde rote Backen hatte. Doch ehe noch ein Vierteljahr um war, konnte jeder sehen, daß es krank war, denn mit eins wurd' es blaß, und seine Wimpern schlossen sich, und das Atmen wurd' ihm schwer. Und wenn dann der Anfall vorüber war, schlief es ein und nahm keine Nahrung und schlief viele Stunden lang, als wär' es tot. Und dann kniete Hilde vor der Wiege nieder und seufzte leise: »Armes Kind«, und küßte es, erst still und dann leidenschaftlich; ach! sie durft' es, ohne Furcht und Sorge, es aus dem Schlafe zu wecken. Das müde Kind schlief eben weiter. Und zuletzt kam Grissel, die, seit das Kind da war, wieder zu Hilde hielt, und schickte die junge Frau hinaus, in Feld oder Garten, »daß sie doch mal was anderes säh' als das arme kranke Wurm«, und setzte sich selbst heran, auf einen Schemel oder eine Fußbank, und sang ihr »Buküken von Halberstadt« mit solcher Gewalt über die Wiege hin, daß es immer war, als ob sie dem Kinde was von ihrer eigenen Lebenskraft einsingen wollte. Und dabei ging die Wiege wie auf hoher See. Wenn dann aber ein neuer Anfall kam, so holte sie heiße Tücher vom Ofen oder aus der Küche her und legte sie auf den Leib des Kindes; denn sie hatte ganz bestimmte Heilmittel und ging davon aus, daß es ein »Reißen« sei; »Kinder hätten immer das Reißen, und sei kein Unterschied, ob in Kopf oder Zahn, oder Ohr oder Leib.« Aber die heißen Tücher machten es nur schlimmer, und die heftigen Anfälle minderten sich erst, als Grissel eines Tages mit dem alten Melcher Harms gesprochen und dieser ihr gesagt hatte: sie solle die heißen Tücher lassen und statt ihrer einen Doppelspezies oder einen großen Mansfelder Taler auf die Herzgrube des Kindes legen. Und wenn er da drei Vaterunser lang gelegen, dann solle sie den Spezies oder den Mansfelder wieder fortnehmen und einen neuen hinlegen. Denn das Kind brauche Kühle, nicht aber Hitze.
Das half denn auch, wenigstens auf Wochen hin, und der alte Melcher Harms würde vielleicht noch weiter geholfen und jedenfalls der Mutter ein Trosteswort gesprochen haben, wenn er nur hätte ins Haus kommen und das Kind sehen dürfen. Aber das litt der Heidereiter nicht, und als Hilde sich ein Herz nahm und es bei sich bietender Gelegenheit in bestimmten Worten von ihm erzwingen wollte, wurd' er rot und sah so bös aus wie früher, wenn ihm die Zornader schwoll. In allem anderen aber war er stiller geworden und weniger streng und ließ vieles hingehen, und nur gegen den Melcher Harms, wie Hilde mit jedem Tage mehr erfahren mußte, verblieb ihm ein Groll, der um so tiefer saß, als er sich mit dem mischte, was er sonst nicht kannte: mit Furcht. Er mutmaßte nämlich, daß der Alte damals, als er an seinem Bette gewacht, allerlei von dem, was das Fieber auszuplaudern pflegt, gehört haben müsse. Von diesem Verdachte konnt' er nicht los, und eines Tages, bald nach der Hochzeit wurd' es ihm wie zur Gewißheit.
An diesem Tage war Melcher Harms wie gewöhnlich des Weges gekommen, seinen Spitz neben sich und sein Strickzeug in der Hand, und die Kühe des Heidereiters, als sie das Läuten von fernher gehört, waren von selbst aus der offenen Stalltür getreten und hatten sich angeschlossen. Alles wie sonst. Und so war der Alte vorbeigezogen, mit einem Gruß gegen Hilde, die, blasser noch als gewöhnlich, an dem offenen Fenster gestanden hatte. Hinter dem Gehöft aber war er nicht nach rechts hin auf die Berglehne hinaufgebogen, sondern hatte, weil die Sieben-Morgen schon abgeweidet waren, alles weiter talaufwärts, auf Diegels Mühle zu, getrieben. Überall stand Unterholz, und der schmale verwachsene Weg hielt ihm von beiden Seiten her die Herde zusammen. Und so war er bis dicht an den Fuß von Ellernklipp herangekommen und hatte schon das Elsbruch oder doch die Vorläufer davon zu seiner Rechten, als sein Spitz, ein altes abgerissenes Stück Zeug zwischen den Zähnen, aus dem Gebüsch herauskam und es zu Füßen seines Herrn niederlegte. Der bückte sich, und weil er sparsam sein gelernt hatte, nahm er's auf und tat es in seine Ledertasche. Und siehe, es traf sich, daß er auf der Stelle fast einen Nutzen daraus ziehen sollte. Denn als sie wenige Minuten später aus dem Bruche wieder heraus waren und eben etwas lehnan an einem Plankenzaune vorbei wollten, wurde die vorderste von des Heidereiters Kühen in die Planken hineingedrängt und riß sich an einem rostigen alten Nagel das Fleisch dicht über dem Knöchel auf. Es blutete heftig, und Melcher, als er's sah, legte den Leinenlappen, den ihm sein Spitz aufgestöbert hatte, sorglich um die Wunde herum.
So verging der Tag.
Als aber Joost am Abend in der Stalltür stand und beim Anblick der rückkehrenden Herde gewahr wurde, daß die Braune, die die beste Milchkuh war, lahm ging und bei jedem Schritt einknickte, rief er den Heidereiter, daß er käme und sähe, was es sei. Der kam denn auch und wickelte zunächst den Verbandlappen wieder ab. Als er ihn aber in Händen hielt und sah, daß es das Stück Sacktuch war, das er damals abgerissen und um den Spatenstock gewickelt hatte, kam ihm ein Schwindel, und er fiel ohnmächtig an der Stalltür nieder. Und in der Nacht sprach er wieder irr, und alle glaubten, daß er einen Rückfall in die schwere Krankheit haben werde. Doch er überwand es, und eine Woche später ging er wieder in den Wald und hatte seinen Mut und seine Farbe wieder; nur dem Melcher Harms wich er aus, weil es bei ihm feststand, er hab' es ihm zeigen wollen. Darin aber ging er fehl. Alles war Zufall gewesen (wenn es einen Zufall gibt), und nur in dem einen traf er's, daß der Alte, so wenig er einen bestimmten Beweis in Händen hatte, vor sich selber fest überzeugt war: der Heidereiter wisse nicht bloß um Martins Tod, sondern sei schuld daran.
Unter allen Umständen aber war es von dem Tag an, daß Baltzer Bocholt erklärt hatte, den Melcher Harms in seinem Hause nicht mehr sehen zu wollen. Ja, sein Groll war weiter gegangen und hatte von Hilde gefordert, daß sie die Freundschaft mit ihm fallen lasse. Das passe sich nicht für sie. Die Gräfin oben, die dürfe das. Aber eines Heidereiters Frau, die müsse sich in ihrem Stand halten und dürfe nicht Freundschaft haben mit einem Schäfer.
Und Hilde widersprach nicht und unterwarf sich in allem.
Als aber das Kind kam und kränkelte, da schickte sie doch die Grissel heimlich hinauf und ließ fragen, und als es immer schlimmer ward und auch der Spezies und der große Mansfeldertaler auf der Herzgrube nicht mehr helfen wollten, da faßte sie sich ein Herz und stieg selber hinauf auf die Sieben-Morgen und brachte dem Alten oben das Kind, daß er sähe, was es sei. Und er legte sein Ohr an die Brust des Kindes und behorchte den Atem und wie das Herz ging. Und dann gab er es ihr zurück und sagte: »Ja, Hilde, das Kind ist krank.«
»Ach, was ist es? Ihr seid so klug, Melcher Harms. Macht es mir wieder gesund. Ihr kennt alle Kräuter und habt so viele Mittel und Sprüche. Helft ihm doch. Seht, es ist mein ein und alles. Und wenn es stirbt, so hab' ich nichts mehr. Denn ich werde kein anderes haben. Und ich will auch kein anderes; nein, nein! Ach, weiß es Gott, ich habe mir auch dieses nicht gewünscht. Aber nun ist es da und sieht mich immer so still und so traurig an, und nun möcht' ich doch, es bliebe mir. Und ist mir mehr wert als die ganze Welt. Und mir ist, als lebt' ich nur noch, daß ich ihm mit Tränen und Küssen den Blick fortschaffe. Ja, das möcht' ich, Melcher Harms. Und daß es mal lächelt und ohne Klag' und Vorwurf. Und ist mir gleich, ob ihr ihm Kräuter gebt oder ob Ihr es besprecht. Ich will nur, daß es lebt und nicht mehr so traurig sieht.«
Er hatte der jungen Frau Hand genommen und sagte: »Was ich wußte, Hilde, das hab' ich gesagt. Und da hilft kein Kraut, von dem ich weiß.«
»Ach, so betet es gesund.«
Er schüttelte den Kopf. »Du bist noch jung. Wer aber alt ist, der weiß, mit dem Beten ist es ein eigen Ding und ist nicht wohlgetan, es eigensinnig von Gott abringen zu wollen. Er willfahrt uns, denn das Gebet ist mächtig mitunter, aber er tut es widerwillig, und ich habe noch keinen Segen davon gesehen. Und darum mag ich's nicht. Und ist was Gewaltsames dabei. Nein, Hilde, laß es. Aber irdisch Wissen und irdische Mittel, die sind erlaubt, und so rat' ich dir, versuch es mit dem alten Schliephake drüben und fahr hinüber nach Ilseburg. Der ist klug und hat deinen Mann aus der großen Krankheit wieder aufgebracht. Und wenn wer helfen kann, so wird der helfen. Aber du mußt dich eilen und deinem Mann nicht sagen, daß ich dir's geraten habe, sonst sagt er nein. Denn er mißtraut mir und glaubt, daß ich Übles gegen ihn im Schilde führe. Darum nenn' ihm meinen Namen nicht... Du bist ja 'ne Frau und wirst dir zu helfen wissen.«
Und sie versprach es lächelnd und ging. Und der Alte sah ihr nach. Aber es war die Hilde nicht mehr, die, die Butt' auf dem Kopf und die rechte Hand in die Seite gestemmt, auf die Sieben-Morgen hinaufgestiegen war.
Elend war sie, elend und lebensmüde wie das Kind, das sie weinend an ihrem Busen barg.