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Es war Ende Mai, als Sophie diesen Brief schrieb, und sie vermied klugerweise, das darin behandelte Thema noch einmal zu berühren. Es genügte ihr, daß ihr Brief seine Wirkung getan und das ungerechte Kritteln der älteren Schwester in eine gerechtere Beurteilung umgewandelt hatte.
Das stille Leben in Schloß Adamsdorf nahm mittlerweile seinen Fortgang und erfuhr nur einen Wandel, als der Hochsommer heran war und die Tante, eine passionierte Schlesierin, allwöchentlich einmal auf eine Fahrt ins Gebirge drang. Abwechselnd fuhr man bis Schreiberhau oder Hermsdorf oder Krummhübel, um dann von diesen Punkten aus höher ins Gebirge hinaufzusteigen, nach Kirche Wang oder dem Mittagsstein, oder selbst bis zu den Schneegruben. Sophie skizzierte irgendeine Szenerie für ihre alttestamentlichen Bilder und sagte dabei: »Das ist Abrahams Grab, das ist der Sinai, das ist der Bach Kidron.« Ihr größtes Vergnügen aber war immer, wenn auf dem Heimwege, da, wo man das Fuhrwerk zurückgelassen hatte, noch einmal Rast gemacht und das Tun und Treiben der Berliner »Sommerfrischler« beobachtet wurde. Das gab dann jedesmal Heiterkeitsstoff für die Rückfahrt, und Onkel Eberhard wurde nicht müde zu versichern: »Ja, diese Berliner, man mag sie nun lieben oder hassen, amüsant sind sie, und ihnen so zuzusehen ist immer wie ein Schauspiel. Eigentlich ist es auch wirklich so was; denn sie kucken sich immer um, ob sie auch wohl ein Publikum haben, vor dem sich's verlohnt, den Vorhang aufzuziehen.«
An den Bildern für die Kirche wurde den ganzen Sommer über fleißig weitergearbeitet. Ende August war Sophie schon bei »Saul in der Höhle« (die Höhle dazu hatte sie dicht bei den Kräbersteinen entdeckt), und Saul selbst war halb Onkel Eberhard, halb der Kretschamwirt, der einen Vollbart trug und einen bösen Blick hatte. David aber war der Assessor. Onkel Eberhard freute sich aufrichtig am Fortschreiten der Arbeit und versicherte jeden Tag, daß er nie geglaubt hätte, von einer solchen Sache soviel Freude haben zu können. Er erging sich dann auch in wohlgemeinten Äußerungen über Künstlerleben überhaupt und nahm alles zurück, was er in seinen früheren Jahren darüber gesagt hatte. »Man kann darüber lachen, aber es ist doch immer eine kleine Schöpfung. Und schaffen macht Freude. Wenigstens kann ich mir nicht denken, daß Gott die Welt aus Verdrießlichkeit geschaffen hat.«
»Mancher sieht doch so aus, Onkel.«
»Ja, Fiechen, da hast du recht. Mancher sieht so aus. Aber was kommt nicht alles vor! Und das einzelne beweist nichts. Das ist ein fataler Zug jetzt bei den Menschen, daß sie den Ausnahmefall zur Regel machen wollen. Und wenn sie sich dabei nur was Hübsches aussuchten! Aber nein, was recht Häßliches muß es sein. 's war freilich vor dreißig Jahren auch nicht viel besser. Ich hab es noch erlebt, wie das mit den Affen aufkam und daß irgendein Orang-Utang unser Großvater sein sollte. Da hättest du sehen sollen, wie sie sich alle freuten. Als wir noch von Gott abstammten, da war eigentlich gar nichts los mit uns, aber als das mit dem Affen Mode wurde, da tanzten sie wie vor der Bundeslade.«
Das war gerade am zweiten September, daß Onkel Eberhard und Sophie dies Gespräch hatten, oben in der Giebelstube, die die Adamsdorfer Herrschaften ihrer Nichte zum Atelier eingerichtet hatten. Eine Stunde später fuhr der Onkel nach Hirschberg, wo der Sedantag wie herkömmlich festlich begangen werden sollte. Natürlich auch durch eine Rede auf Kaiser Wilhelm. Und diese Rede, wie nicht minder selbstverständlich, hatte der alte General von Poggenpuhl zu halten, dem dabei schlechter zumute war als bei St. Privat im allerverflixtesten Moment. Sonst, wenn er die schöne Fahrt durchs Tal machte, lachten ihn die Felder in ihrem Segen an, aber heute sah er nicht, wie der Hafer stand, er sah ihn überhaupt nicht, sondern memorierte in einem fort und sagte sich in wachsender Unruhe: »Jetzt ist es eins. Noch drei Stunden, dann fängt mein Leben erst wieder an und vielleicht auch mein Appetit. Bis dahin ist es nichts.« Er hatte denn auch Kopfweh, ein leises Ticken an zwei Stellen, das sich bei der beständig wiederkehrenden Frage: »Wenn ich nun steckenbleibe?« natürlich noch steigerte. Zuletzt aber fand er sich auch darin zurecht oder resignierte sich wenigstens. »Und wenn ich nun wirklich steckenbleibe, was ist es denn am Ende? Zu meiner Zeit konnte überhaupt keiner reden, und das wissen die Vernünftigen auch. Außerdem hab ich die Einleitung ganz intus, und wenn ich merke, daß ich mich zu verwickeln anfange, so sag ich bloß: ›... Und so möcht ich Sie denn fragen, Sie alle, die Sie hier versammelt sind, sind wir Preußen? Ich bin Ihrer Antwort sicher. Und in diesem Sinne fordre ich Sie auf...‹ Und dann das Hoch.«
All das gab ihm seine Haltung einigermaßen wieder, aber er blieb trotzdem in einem gewissen Fieber, und dies hielt auch noch an, als der schreckliche Moment bereits vorüber war. Vielleicht lag es auch daran, daß er gleich nach seinem Hoch ein großes Glas herben Ungar heruntergestürzt hatte. Nach dem Kaffee überfiel ihn ein Schwindel. Es ging aber wieder vorüber, und in bester Laune brach er schließlich auf. Die Sterne funkelten; es war schon herbstlich frisch, und er fröstelte. »Höre, Johann«, sagte er, »hast du nicht eine Zudecke?«
»Nein, Herr General; ich werde aber meinen Mantel ausziehen.«
Aber da kam er schön an. »Unsinn, Menschen Rock vom Leibe ziehen; ich, ein Poggenpuhl.« Und in solchen Ausrufungen sprach er noch eine Weile weiter.
Es war ein Uhr, als er in die Dorfgasse einfuhr. Im Schlosse war noch ein alter Diener auf, ebenso Sophie. Die sah schon auf dem Flur, wie verändert er war. »Onkel, du frierst so, soll ich noch einen Tee machen oder eine Stürze?«
»Unsinn. General Poggenpuhl...«
Es klang so sonderbar, und Johann sagte zu Sophie: »Gott, Fräulein, so sagt er schon immerzu. Ich glaube, er ist sehr krank.«
Er war sehr krank. Doktor Nitsche, der am andern Morgen gerufen wurde, bemerkte zu der Tante: »Gnädige Frau, wir müssen nasse Tücher aufhängen und ein mattes Licht und vollkommene Ruhe«; zu Sophie aber sagte er: »Typhus, mein gnädiges Fräulein.«
»Wird er wieder?«
Er zuckte die Achseln.