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An dem Tage, an dem die Poggenpuhls zurückerwartet wurden, war nicht bloß Friederike, sondern auch die Portierfamilie in einer gewissen Aufregung. Es hing dies, soweit die Nebelungs in Betracht kamen, mit dem zufälligen Umstande zusammen, daß infolge Verreistseins eines in der zweiten Etage wohnenden freikonservativen Geheimrats die für diesen bestimmten Zeitungen unten in der Portierwohnung abgegeben und von dem ebenso neugierigen wie gern faulenzenden Nebelung (seine Frau mußte sich dafür quälen) je nach Laune durchstudiert oder auch bloß überflogen wurden. Unter diesen Zeitungen war auch die »Post«, in der in der heutigen Morgennummer des Hinscheidens des Generalmajors von Poggenpuhl kurz Erwähnung geschehen war, unter gleichzeitiger Anfügung der Worte: »Siehe auch die Todesanzeigen.« Auf diese stürzte sich nun unser Nebelung sofort, und als er die schwarz umränderte Anzeige gefunden und mit einem gewissen Grinsen aufmerksam gelesen hatte, schob er das Blatt seiner vierzehnjährigen, mit ihren zwei Brüdern gerade beim Nachmittagskaffee sitzenden Tochter Agnes zu und sagte: »Da, Agnes, lies mal; das da, wo die dicken schwarzen Striche sind.« Und Agnes, die nicht bloß bleichsüchtig, sondern wegen ihrer Figur und ihrer Vorliebe für die »Jungfrau von Orleans« auch fürs Theater bestimmt war, las, während alles aufhorchte:
Heute starb, 67 Jahre alt, auf Schloß Adamsdorf in Schlesien unser teurer Gatte, Schwager und Oheim, der Generalmajor a. D.
Eberhard Pogge von Poggenpuhl,
Ritter des Eisernen Kreuzes 1. Klasse wie des Ordens Albrechts des Bären. Dies zeigen statt jeder besonderen Meldung an die tiefbetrübten Hinterbliebenen
Josephine Pogge von Poggenpuhl, geb. Bienengräber, verwitwete Freiin von Leysewitz, als Gattin
Albertine Pogge von Poggenpuhl, geb. Pütter, verwitwete Majorin, als Schwägerin
Als Neffen und Nichten:
Wendelin Pogge von Poggenpuhl, Premierleutnant im Grenadier-Reg. von Trzebiatowski
Leo Pogge von Poggenpuhl, Sekondleutnant im Grenadier-Reg. von Trzebiatowski
Therese Pogge von Poggenpuhl
Sophie Pogge von Poggenpuhl
Manon Pogge von Poggenpuhl
Agnes, deren etwas käseweißes Gesicht bei dem Vortrag all dieser Namen – nur den polnischen Regimentsnamen brachte sie nicht recht zustande – ganz rot geworden war, legte das Blatt aus der Hand, während der Alte mit breitem Behagen sagte: »Na, so was von Poggen; ich hör es ordentlich quaken« – ein Witz, der von dem johlenden Beifall seiner beiden Jungens (echter Nebelungs) sofort begleitet wurde. Die Tochter aber, die sich von ihrem dramatischen Vortrag eine ganz andere Wirkung versprochen hatte, stand auf und sagte, während sie hinausging, zu der etwas seitab sitzenden Mutter: »Ich weiß nicht, Vater ist heute wieder so ordinär« – eine Bemerkung, die die kränkliche, immer verärgerte Frau durch mehrmaliges Kopfnicken bestätigte. Nebelung selbst aber rief der in der Tür eben verschwindenden Tochter nach: »Sei nich so frech, Kröte; – noch bist du nich dabei.«
In gewissem Sinne hatte Agnes ihrem Vater unrecht getan. In der Tiefe seiner Seele fühlte sich Nebelung gar nicht so unberührt von dem allen, er hatte sich vielmehr, als echter Berliner, nur den durch die glänzende Namensaufzählung empfangenen Eindruck wegschwadronieren wollen. Andrerseits freilich war er aufrichtig unwirsch, daß ihm das »pauvre Volk da oben« mit einmal als etwas Besonderes aufgezwungen werden sollte. Das sei doch alles bloß zum Lachen, der reine Unsinn. Aber wie immer auch, während er sich noch dagegen sträubte, war er doch auch schon wieder bereit, gute Miene zum bösen Spiele zu machen, und die Gelegenheit dazu bot sich bald.
Es mochte halb fünf sein (die Jungens waren eben aus der Schule nach Hause gekommen), als die Streitszene zwischen Vater und Tochter gespielt hatte, und keine Stunde mehr, so kam auch schon eine Droschke mit Reisekoffer die Großgörschenstraße herauf. Das ganze Haus wartete. Wie Friederike, so hatten sich auch die Nebelungs unten aufgepflanzt, allerdings in sehr verschiedenen Stellungen und Beschäftigungen; die beiden Jungens lehnten sich an die Hauswand, halb neugierig, halb bummelig, weil sie dem »freien deutschen Mann« in ihnen nichts vergeben wollten, Nebelung selbst aber, eine Art Fes auf dem Kopfe, patrouillierte das Trottoir auf und ab, während Agnes, wie wenn es sich um ihr Auftreten etwa als Mondecar oder irgend sonst ein spanisches Hoffräulein gehandelt hätte, schlank und aufrecht in der offenstehenden Haustüre stand. Als die Frau Majorin an ihr vorüberging, machte sie einen gut einstudierten Hofknicks, der sich gesteigert wiederholte, als gleich danach Therese kam. War diese doch die einzige der Familie, die noch unentwegt den langen Trauerschleier trug, was ihr, samt ihrer funebren Haltung, auch schon unterwegs allerlei Huldigungen eingetragen hatte. Man hatte sie für eine junge Offizierswitwe gehalten, deren Mann in einem schlesischen Bade gestorben sei.
Hart neben dem Bürgersteige hielt noch immer die Droschke, mit deren Kutscher, einem ziemlich verschmitzt dreinschauenden Mann, Manon und Sophie wegen Heraufschaffung des Koffers parlamentierten; »er könne nicht von dem Pferde weg, er käme sonst in Strafe«, so hieß es seinerseits immer wieder. In diesem Verlegenheitsmoment aber trat der sonst so zugeknöpfte Nebelung an die beiden jungen Damen heran und erklärte sich unter gefälliger Lüftung seines Fes bereit, den großen Koffer in die Wohnung hinaufzutragen. »Ach, Herr Nebelung ...«, sagte Sophie. Dieser aber hatte schon Hand angelegt, wuchtete den Koffer ziemlich geschickt auf seine Schulter und ließ sich auch nicht irremachen, als ihm der in seiner Diplomatie verunglückte Droschkenkutscher spöttisch nachrief.- »Na, schaden Sie sich man nich.«
Es hatte damit aber gute Wege, denn der Koffer, so groß er war, war nicht schwer, und Nebelung schien kaum außer Atem, als er oben ankam. Friederike nahm ihm den Koffer ab, und im selben Augenblicke sagte Sophie: »Bitte, Herr Nebelung Ich danke Ihnen.« Unten aber, in seine Portierloge zurückgekehrt, warf Nebelung ein blankes Markstück auf den Tisch und sagte: »Da, Mutter, das muß in die Sparbüchse. Pogge von Poggenpuhl... Un noch dazu von Sophiechen... Jungferngeld; das heckt.«
Agnes, die nur die Schlußworte gehört hatte, drehte sich verächtlich um.
An der Türeinfassung oben hing ein halber Papierbogen mit »Willkommen« von Friederikens eigener Hand. Aus Schreibunsicherheit oder vielleicht auch aus Ersparnis hatten die Buchstaben alle keinen rechten Tintenkorpus, sondern bestanden bloß aus zwei nebeneinanderherlaufenden Linien. In der Blumenschale vor dem Bilde des Sohrschen befanden sich rote und weiße Markt-Astern. Einige davon waren für den Hochkircher bestimmt gewesen, und zwar zum Einstecken hinter den Rahmen; aber Friederike hatte wieder Abstand davon genommen mit der Bemerkung: »Den kenn ich; wenn man ihn anrührt, fällt er.«
»Na, leben tust du ja noch«, sagte die Majorin, als ihr Friederike dienstbeflissen den Mantel abnahm. »Hast du auch nicht zu sehr gespart? Das mußt du nicht. Und immer bloß Nachguß; dabei kannst du nicht gedeihen.«
»Ach, ich gedeihe schon, gnäd'ge Frau.«
»Na, wenn es nur wahr ist. Aber nun bringe uns Kaffee. Die Tassen stehen ja schon. Ein bißchen ausgefroren bin ich doch; die eine Dame riß immer alles auf«
»Ja, das tut man jetzt, Mama«, sagte Therese.
»Ich weiß, man tut es jetzt. Und es mag auch gut sein, aber nicht für jeden. Wer Rheumatismus hat...«
Sophie hatte sich's inzwischen auch bequem gemacht und warf sich mit einem gewissen Behagen in die Sofaecke, erst das Zimmer und dann all die alten Kleinigkeiten musternd, die umher standen und lagen und die sie hundertmal in Händen gehabt hatte.
»Komm, Mama, du mußt dich hier neben mich setzen, oder ich rücke weiter hin, denn dies ist ja deine Ecke. Gott, wenn ich mich hier so umsehe. Eigentlich ist es doch ganz hübsch bei euch.«
»Du könntest sagen bei uns«, sagte Therese.
»Gewiß, gewiß. Ich gehöre ja zu euch und werde immer zu euch gehören. Aber die lange Zeit. Dreiviertel Jahr oder doch beinah. Und dann soll ich ja auch wieder zurück.«
»Und willst auch? Und willst es auch gern?«
»Natürlich. Es ist ja abgemacht. Und wenn es auch nicht abgemacht wäre, ich bin gern in Adamsdorf und gern bei der Tante.«
»Wer wär es nicht«, sagte Therese. »Der Park und die Gruft, darin nun der General, unser Onkel, ruht. Dahin zieht es wohl jeden. Und diese Frau, der ich viel abbitten muß, ich hielt sie für befangen in Bürgerlichkeit, aber sie hat ganz die Formen der vornehmen Welt. Es ist schade, daß sich dieser Umwandlungsprozeß so selten vollzieht.« Sophie und Manon warfen der Schwester Blicke zu mit der offenbaren Absicht, sie von dem heiklen Thema abzubringen. Aber so gut gemeint dies war, so war es doch nicht nötig, weil die Mama nichts von Bitterkeit dabei empfand. Sie lächelte nur wehmütig vor sich hin mit jener stillen Überlegenheit, die das Leben und das Bewußtsein gibt, die Kämpfe des Lebens ehrlich durchgefochten zu haben. »Ach, meine liebe vornehme Tochter«, sagte sie, »was du da wieder sprichst.«
»Ich habe dich nicht kränken wollen, Mama.«
»Weiß ich. Und es kränkt mich auch nicht. Ich hatte auch mal mein Selbstgefühl und meinen Stolz, aber all das hat das Leben zerrieben und mich mürbe gemacht... Das mit der Tante, ja, da hast du recht, das ist eine vorzügliche Frau und, wenn du's so haben willst, auch eine adlige Frau. Das hab ich immer gewußt, und seit diesen Tagen weiß ich es noch besser. Aber das alles – und es ist hart, daß ich das meiner eigenen Tochter immer wieder versichern muß, während sie's doch wissen könnte, auch ohne meine Versicherung –, aber das alles hätte das Leben auch aus mir machen können. Es hat es nur nicht gewollt. In einem Schlosse zu Hause zu sein und Hunderte beglücken und dann durch Entziehung von Glück auch mal wieder strafen zu können, das alles ist eine andre Lebensschule, wie wenn man nach Herrn Nebelungs Augen sehen und sich um seine Gunst bewerben muß. Ich habe nur sorgen und entbehren gelernt. Das ist meine Schule gewesen. Viel Vornehmes ist dabei nicht herausgekommen, nur Demut. Aber Gott verzeih es mir, wenn ich etwas Unrechtes damit sage, die Demut, wenn sie recht und echt ist, ist vielleicht auch eine Eigenschaft, die sich unter dem Adel sehen lassen kann.«
Sophie glitt leise von dem Sofa nieder auf ihre Knie und bedeckte die Hände der alten Frau mit Tränen und Küssen. »Das kannst du nicht verantworten, Therese«, sagte Manon und trat ans Fenster.
Therese selbst aber ließ ihr Auge ruhig über die über der Sofalehne hängende »Ahnengalerie« hingleiten, und ihr Auge schien sagen zu wollen: »Ihr seid Zeugen, daß ich nicht mehr gesagt, als ich sagen durfte.« Dann aber kam ihr ein zweites, besseres Gefühl, und sie lieh ihm auch Worte: »Verzeih, Mama«, sagte sie. »Es kann sein, daß ich unrecht habe.«
Es lag nicht im Charakter der Familie, den Verstimmungen über eine derartige Szene Dauer zu geben. Die Mutter hatte Schwereres tragen gelernt und war jeden Augenblick zur Verzeihung und Nachgiebigkeit geneigt, während die im wesentlichen in ihren Anschauungen verharrende, trotzdem aber nicht eigentlich eigensinnige Therese das Bedürfnis hatte, wieder einzulenken, wozu ein Gespräch mit Manon das beste Mittel bot. Sie nahm daher diese bei der Hand, führte sie von ihrem Fensterplatz her an den Kaffeetisch zurück und sagte, während sie sie neben sich auf eine Fußbank niederzog: »Es muß nun doch vieles anders werden mit uns und auch mit dir, Manon. Du bist, mein lieber Schelm, am weitesten ab vom rechten Wege. Wie denkst du nun eigentlich hinsichtlich deiner Zukunft?«
»Zukunft? – Ach, du meinst heiraten?«
»Ja, das vielleicht auch. Aber zunächst meine ich hinsichtlich deines Umgangs, deines gesellschaftlichen Verkehrs. Wie denkst du darüber?«
»Nun geradeso wie früher. Mein Verkehr bleibt, wie er ist.«
»Das solltest du doch überlegen.«
»Überlegen? Ich bitte dich... Ich möchte wohl das Gesicht des alten Bartenstein sehen, wenn ich mich, angesichts meiner zweihundert Taler Zinsen, plötzlich auf meinen alten Adel besönne. Wenn es mehr wäre, verzieh er mir's vielleicht. Aber...«
»Also alles beim alten?«
»Ja. Und nun gar heiraten! So dumme Gedanken dürfen wir doch nicht haben; wir bleiben eben arme Mädchen. Aber Mama wird besser gepflegt werden, und Leo braucht nicht nach dem Äquator. Denn ich denke mir, seine Schulden werden nun wohl bezahlt werden können, ohne Blumenthals und selbst ohne Flora. Flora selbst aber bleibt meine Freundin. Das ist das, was ich haben will. Und so leben wir glücklich und zufrieden weiter, bis Wendelin und Leo etwas Ordentliches geworden sind und wir wieder ein paar andre Größen haben als den Sohrschen und den Hochkircher.«
»Du vergißt einen dritten, deinen Vater«, sagte die Majorin, in der sich bei dieser Übergehung zum erstenmal das Poggenpuhlsche regte.
»Ja, meinen Vater, den hatt ich vergessen. Sonderbar. Väter werden fast immer vergessen. Ich werde mit Flora darüber sprechen. Die sagte auch mal so was.«