Theodor Fontane
Ein Sommer in London
Theodor Fontane

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Die Kunst-Ausstellung

»Waren Sie schon in der Exhibition?« Diese nicht eben allzu oft wiederholte Frage hat in diesem Jahre eine sehr verschiedene, gleichsam eine bescheidenere Bedeutung als im vorigen: es handelt sich um keinen Weltbazar mehr, sondern nur noch um eine jährlich wiederkehrende Ausstellung von Gemälden. In den Sälen der National-Galerie, fast Wand an Wand mit den Murillos und Correggios, einer dort konstanten und unserem »Museum« entsprechenden Gemälde-Galerie, hat man zur Schaustellung neuester englischer Kunst drei Zimmer von mäßiger Größe hergegeben; und wenn man anfangs erschrickt über die Dürftigkeit des bewilligten Raumes, so überzeugt man sich bald, daß ein Zimmer statt drei immer noch ausreichend für das vorhandene Gute gewesen wäre. Wie ich vernehme, werden alljährlich dreitausend Bilder eingesandt, unter denen, wegen Mangels an Raum, das Comité eine Auswahl trifft. Die tausend besten werden angenommen. Es ist unmöglich, auf die Mehrzahl dieser Auserwählten zu blicken, ohne mit künstlerischem Schrecken derer zu gedenken, die da anklopften, ohne daß ihnen aufgetan wurde. Kunst und Publikum können nur wünschen, daß die Säle der National-Galerie immer kleiner und somit, nolens volens, das Comité immer strenger werden möge, denn die ganze Sünde dieser Ausstellung ist ihr Zuviel. Es sind wirkliche Schätze vorhanden; aber die nachbarlichen Fratzen schrillen disharmonisch in das schöne stille Lied, das uns eine gelungene Landschaft singt, und die lächerliche Karikatur des historischen Bildes nimmt uns so gewiß Sinn und Stimmung für das wirkliche, wie Hamlet und all sein Entsetzen uns lächerlich erscheinen würde, wenn drei Schritt dem Geist seines Vaters eine Katze über die Bühne hinter schliche.

Doch halten wir uns an das Gute. Da sind zunächst die Porträts. Sie prävalieren an Wert wie an Zahl. Die Kunstausstellungen drohen mehr und mehr zu bloßen Porträt-Galerien zu werden. »Die Kunst geht nach Brot.« Was Lessing seinen Maler Conti vor fast hundert Jahren sagen ließ, ist heut mehr denn je eine Wahrheit. Bestellt wird wenig oder nichts; und auf gut Glück hin ein mächtiges Wandbild zu malen, wie wenige dürfen's wagen? Alles flüchtet in das Klein- und Familienleben, weil das Große und Allgemeine ihn verhungern läßt. Die eigentliche Kunst verliert dabei, die Porträt-Kunst gewinnt: das bloße Bildnis wird gelegentlich zum historischen Bilde. Wem hätte sich das nicht beim Besuch unserer deutschen Ausstellungen aufgedrängt? Und wie dort, so auch hier. Nur eines hat England voraus – die Schönheit der Originale, den Zauber ihrer Gesichter. Da ist eine Gräfin Kintore. Ich habe von Leuten gelesen, die sich in Bilder verliebten, und von andren, die nicht eher ruhten, bis sie das Urbild gefunden hatten; ja, einer starb vor Gram, weil es eine Tote war, die er liebte. Das ist zum Lachen  – wie alles in der Liebe; aber jeder lacht, bis ihm selber die Stunde schlägt. Wenn mich jemand fragte, was »Adel« sei, so würd' ich ihn schweigend am Arme fassen und vor dies Bildnis führen; kein deutsches Wörterbuch könnte so zu ihm sprechen, wie diese stillen Züge. Da ist nichts von der herrschenden Hoheit einer Königin, und nichts von dem forcierten Stolz einer City-Tochter, die über sich hinaus will; weich und doch fest, bescheiden und doch selbstbewußt blickt dich dies Auge an und erzählt dir von dem echten Adel, der weder sich brüsten noch sich bücken mag, sondern, die Hand zum Volk und das Auge zum Thron, gradauf und unbeirrt seine Pfade zieht. Und dazu wie schön! wie neidisch blickt man auf dies Perlenband, das, bis zum Knöchel des Arms herabgeglitten, die weiße Hand zu küssen scheint!

Doch lassen wir die Gräfin; es tut ein für allemal nicht gut, wenn sich Poeten für Prinzessinnen erwärmen und wenn ich's nicht aus dem Tasso wüßte, so könnte ein zweites Bild, zu dem wir uns jetzt wenden wollen, die Beweisführung übernehmen: »Pope erklärt der Lady Montagne seine Liebe«. Es ist ein vortreffliches Bild (von W. P. Frith) und erinnert an die gelungensten Arbeiten unseres Adolph Menzel. Die Situation, laut Katalog, ist folgende: »Zu der schlechtestgewählten Zeit von der Welt, wo die Lady alles andere eher als eine 'Erklärung' erwartete, gestand ihr der Dichter seine Liebe, und zwar in so leidenschaftlichen Ausdrücken, daß trotz aller Anstrengung ernst und ehrbar zu bleiben, ein lautes Lachen der Lady doch endlich ihre einzige Antwort war.« Der Künstler hat seine Aufgabe glänzend gelöst. Wir sehen das Studierzimmer des Dichters, Bücherbände und mächtige Folianten im Hintergrunde; am Schreibtisch aber, dran vor wenigen Minuten noch vielleicht unsterbliche Zeilen niedergeschrieben wurden, steht jetzt, mit der rechten Hand sich auf die Tischplatte stützend, und den Kopf vor herzlichem Lachen in den Nacken gebogen, die schöne Lady, mehr eine italienische als eine englische Schönheit. Das volle dunkle Haar in seiner Flechtenfülle macht den Eindruck, als sei es der Kammerfrau am Morgen schwer gefallen, Raum für diesen Reichtum zu schaffen; der rote Morgenschuh, mit der chinesisch umgebogenen Spitze, guckt kokett unter dem bauschigen Schleppenkleid hervor, und das weit ausgeschnittene Mieder macht die Raserei des Dichters doppelt begreiflich. Ach, und selbst ihr Lachen leiht ihr nur neuen Reiz: der halbgeöffnete Mund und diese Doppelreihe blendend weißer Zähne wären allein schon genug für eine Liebeserklärung, und doch spricht diesselbe Lachen sein Todesurteil. Kein Trost ringsum! Im Hintergrunde steht eine reizende Marmorgruppe: »Amor und Psyche«, und ihre lachenden Gesichter scheinen mit einzustimmen in die Heiterkeit des schönen Weibes. Wie aber finden wir den Dichter! Im breitschößigen schwarzen Frack, mit seidenen Strümpfen und blitzenden Schuhschnallen, dazu im Schmuck einer riesigen Allongen-Perücke (vielleicht so lang nur, um den bekannten Höcker zu verbergen) sitzt er mit übergeschlagenen Beinen auf einem der prächtigen Polsterstühle und blickt, seinen Rücken der Lady zugewandt, mit einem unvergeßlichen Ausdruck von Scham, Wut und Rache vor sich hin. Alle Muskeln seines Gesichts sind in zitternder Bewegung und, aller Wut zum Trotz, noch immer von seiner Leidenschaft beherrscht (ein Wink von ihr, und er würde ihr die Spitze des chinesischen Pantoffels küssen), wägt er jetzt ersichtlich in seiner Seele ab zwischen Don Juan und Faust, zwischen Genuß und Ruhm, und seine Schale hoch in der Luft erblickend, schaut er drein, wie die leibhaftig-gewordenen Worte:

»es kommt die Stunde,
Wo dir der Donna Anna Busennadel
Mehr Glück verbirgt, als dir die Welt kann bieten.«

Armer Pope, für wie wenig hättest du deine berühmteste Ode hingegeben!

In demselben Saale finden wir das beste und bedeutendste Bild der ganzen Ausstellung: »Charlotte Corday auf ihrem Todesgange«. Es geht was Geniales durch das ganze Bild. Unter den vielen verfehlten Versuchen, das große französische Revolutions-Drama, oder wenigstens Szenen aus ihm, zu einem Kunstwerk abzurunden, haben wir hier endlich ein gelungenes. Charlotte (rechts vom Beschauer) tritt eben aus dem Gefängnis; ihre Tracht ist ein blutrotes Kleid; zwei republikanische Soldaten führen sie, und eine Heldin des Marat-Klubs, in buntfarbigem Friesrock, mit Jakobinermütze und Freiheitskokarde, hebt drohend ihre Rechte gegen das fest und ruhig einherschreitende Mädchen. Die Charakteristik dieser Gruppe ist eben so wahr, wie die Kontraste frappant sind. Die brutal-schmunzelnden Soldatengesichter, die an dieser zweifellos mit Gemeinheiten aufgeputzten Drohrede ihre unverhohlene Freude finden; das sonnverbrannte, stumpfnasige, von Sinnlichkeit und Fanatismus beherrschte Weibergesicht, und zwischen all dem Schmutz die hohe Stirn des todesmutigen Mädchens, das (wer verdächt' es ihr!) mehr Ekel als Lust an diesem Leben zu empfinden scheint  – man kann nichts Ergreifenderes sehen! Die andere Seite des Bildes fesselt nicht minder: hier haben wir die Creme jener Tage: Danton, Robespierre, Camille Desmoulins. Ich habe mir den letzteren, der schlechtweg »der schöne« hieß, schöner gedacht und würde den Fleischkoloß ihm zur Seite, mit Stulpenstiefeln und roter Mütze, eher für den Fleischer Babœuf als für den genialen Danton gehalten haben, der geistvoll, sprudelnd und schöpferisch, sozusagen der Mirabeau der Schreckensherrschaft war. Dennoch steh ich ab davon, mit dem Maler um dieser seiner Auffassung willen zu rechten; was er gegeben hat, ist an und für sich überwältigend, und kümmert's mich wenig, wessen Auge es ist, das die Kraft hat, mich mitten in jene Blutzeit zurückzuzaubern, und wem die lebensvoll ausgestreckte Hand gehört, die ich, erschüttert von dem ganzen Hergang der Szene, ergreifen möchte, um für das schöne, hohe, nun besudelte Weib um Gnade zu flehn. Und wär' ich eigensinniger, und brächt' ich's nicht über das Herz, ihm diesen untergeschobenen Fleischer zu verzeihn, die Mittel- und Hauptfigur des Bildes – Robespierre machte alles wieder gut. Im seidnen, himmelblauen Staatsfrack, sauber, zierlich, duftig, vom gepuderten Toupet an bis herunter zur blinkenden Schuhschnalle, so haben wir den »Träger der reinen Idee« vor uns, und wäre nicht sein aschgrauer Teint und ein gewisses Zwinkern in den Augenwinkeln, man könnte versucht sein, ihn für einen Hochzeitbitter zu halten. Er war es auch, aber des Todes; andre sagen – der Freiheit. Das Mädchen hat keinen Blick für ihn; sie kennt diesen blaubefrackten, zierlichen Mann, der sich ihr nähert, als gedächt' er sie zum Tanze zu führen (welch ein Tanz!), sie weiß, seine Seele hat nichts gemein mit jenem Blumenstrauß im Knopfloch, sie weiß, das Bild seines innersten Menschen – ist jener halbmannshohe, braun und weiß gefleckte Bluthund, der jetzt von seines Herrn Hand gehalten, noch finster vor sich niederstarrt, aber losgelassen im nächsten Augenblick sich auf sein Opfer stürzen wird – auf sie. – Das ist das Bild; der Name des Malers ist Ward. Ich lieb' es, Kunstwerke nach der Tiefe des Eindrucks zu beurteilen, den sie auf mich hervorbrachten; wenn dies Kriterium gilt, so zählt es zu dem Besten, was ich je gesehen.

Lassen Sie mich diesen Brief mit einer allgemeinen Bemerkung schließen, deren Nüchternheit schlecht passen mag zu der warmen, freudigen Hingebung, mit der ich das Wardsche Bild besprochen. Was sich mir beim Durchwandern dieser Säle und bei wiederholten Besuchen immer wieder und wieder aufdrängte, das war (vielleicht mit alleiniger Ausnahme des eben ausführlicher besprochenen Bildes) der gänzliche Mangel an Originalität, an besonderem Stil, den man sich versucht fühlen könnte, den englischen zu nennen. Vor Jahr und Tag fuhr ich mit der Post. Ein Reisender erzählte mir von Australien und dem Charakter seiner Landschaften; aus dem Wagen blickend, rief er aus: »Wenn eine Wunderhand uns jetzt in die Nähe von Melbourne trüge, Sie würden ruhig weiter fahren und weder an Wald noch Feld bemerken, daß wir bei den Antipoden seien.« An diese Worte wurde ich auf der Londoner Kunst-Ausstellung aufs lebhafteste erinnert: ich war wie unter alten Bekannten, da war nichts, was nicht ebensogut Produkt eines deutschen Ateliers hätte sein können. Meine Leser mögen hierauf erwidern: »Wenn das ein Tadel sein soll, so trifft er Deutschland so gut wie England« – und das soll er auch. An die Stelle des Besonderen und Nationalen tritt mehr und mehr ein gewisser Kosmopolitismus in der Kunst. Das gilt nicht nur von der Malerei; vielleicht mehr noch von Dichtkunst und Musik. Viele begrüßen das und träumen sogar von einer Weltsprache. Die Partie steht so: Eisenbahn gegen Turmbau zu Babel. Ich bin nicht zweifelhaft, wer der letzte Sieger sein wird; aber das falsche Werk der Einheit stieg hoch, eh es zu Falle kam, und unsere Zeit baut wieder daran. Ich denke so: ein Gesetz der Schönheit, aber in ihm die – Mannigfaltigkeit.


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