Theodor Fontane
Ein Sommer in London
Theodor Fontane

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Ein Picknick in Hampton-Court

Die Pickwicks und die Picknicks kommen aus England; von jenen wußt' ich es seit lange, von diesen – trotzdem sie von ungleich älterem Datum – sollt' ich es erst erfahren.

Es war im August; der Londonstaub ward immer dichter und die Sehnsucht nach einem Zuge frischer Luft immer größer, so kamen wir denn überein, zu Nutz und Frommen unsrer Lungen eine Themsefahrt zu machen und auf den Wiesen von Hampton-Court eine Picknick-Mahlzeit einzunehmen. Wir waren unsrer sieben, drei Herren und vier Damen, und zum Teil in entgegengesetzten Quartieren der Stadt zu Haus, hatten wir uns schon Tags vorher geeinigt, am Quai von Richmond zusammenzutreffen. Punkt zehn Uhr waren wir da; ein schmucker Gondelfahrer begrüßte uns am Ufer; eine Wagenburg von Körben kam in die Mitte seines Boots, wir lachend drum herum  – und den blauen Himmel über uns ging es mit kräftigem Ruderschlage stroman, während der Quai mit seinen Böten allgemach hinter uns verschwand.

Erlaube mir der Leser, ihm jenen Kreis von Personen vorzustellen, in deren Mitte er eine Viertelstunde lang wird zu verweilen haben. Ich mache bunte Reihe. Da war vorerst Mr. Owen, ein junger Walliser mit den steifsten Vatermördern und den höchsten Stiefelabsätzen, die mir je zu Gesicht gekommen waren. Sein Großvater saß für Pembrokeshire im Parlament, und wiewohl das Enkelchen ein jüngerer Sohn war und der Baronetschaft des Alten um kein Haarbreit näher stand als der Lotteriespieler dem großen Lose, so hatte er doch die wallisische Baronet-Elle nicht nur steif und unbiegsam im Rücken, sondern war auch die unbestrittne Sonne des Tags, von der alles übrige erst Licht und Weihe empfing. Er war natürlich ein leidenschaftlicher Kahnfahrer und unterhielt sich mit dem Bootsmann in so technischen Ausdrücken, daß ich diesem Hochflug, auch wenn ich gewollt, nicht hätte folgen können. Neben ihm saß Mrs. May, die Ehrendame der ganzen Partie, eine stattliche Frau mit grauen Locken und zwei Töchtern von ähnlicher Gesichtsfarbe, die den Mai ihres Lebens nur noch im Namen trugen. Sie waren munter wie gewöhnlich Mädchen jenseits dreißig und gaben sich alle erdenkliche Mühe, durch reiche Entfaltung einer schönen Seele ihr Defizit an Schönheit zu decken. Sie waren fromm und galten für fleißige Bibelleserinnen, aber am liebsten lasen sie doch die Stelle: Du sollst Vater und Mutter lassen und dem Manne folgen, der Dich erwählet hat. Ich war ihr Hausgenoß und kannte die Geschichte ihres Herzens wie meine eigene. Mitunter, in der Schummerstunde, wenn aus dem Nachbarsgarten eine Nachtigall herüber klagte, sah ich wie sie traurig wurden und immer wieder und wieder gedankenvoll den Tee aus ihrem Löffel träufeln liefen, als sollte er ihnen ein Bild ihrer rastlos verfließenden Tage sein; aber heute leuchteten ihre Augen wie das Auge dessen, der schon hoffnungslos noch einmal von der Hoffnung beschlichen wird, heut kicherten sie und ließen die Flut durch ihre Finger gleiten, heut schlugen sie die Augen nieder, wenn ein bezügliches Wort fiel, und verjüngten sich vor meinen sichtlichen Augen, denn Mr. Taylor, ein Advokat aus Chancery Lane, saß zwischen ihnen, behäbig, rotbäckig, ein Vierziger und ein Witwer dazu. Wenn Mr. Owen die Sonne dieses Kreises war, so war Mr. Taylor der Vollmond zu dem die Liebenden sehnsüchtig aufschauten, und daß ich's nur gestehe, auch meine Huldigung trug ihm die Schleppe. Der Grund war folgender. Er war mir schon am Abend vorher als ein Mann genannt worden, der »geschaffen sei für eine Picknickfahrt«, eine Charakteristik, der ich begreiflicherweise wenig Bedeutung beigemessen hatte. Kaum aber daß ich heute am Quai von Richmond des Picknickkönigs und seines Flaschenkorbes, aus dem nebst manchem andren vier blanke Stanniolkuppen verräterisch hervorlugten, ansichtig geworden war, als ich auch schon die ganze Schwere jenes leichtgenommenen Wortes begriffen hatte und in meiner Anhänglichkeit noch aushielt, als mir im Lauf eines politischen Gesprächs kein Zweifel mehr darüber blieb, daß Mr. Taylor von der ganzen preußischen Geschichte nichts weiter kannte, als die Affäre von Jena.Schon Kaunitz äußerte sich mal: »Zu dem Unglaublichsten von der Welt gehört die Unsumme von Dingen, die ein Engländer nicht weiß,« Mr. Taylor, ein gebildeter und vielgereister Mann, meinte, daß wir wohl begierig seien die Scharte von Jena auszuwetzen, und war sehr überrascht, als ich ihm versicherte, daß das durch zwanzig siegreiche Schlachten bereits geschehen sei.

Zürne mir der Leser um solches laxen Nationalgefühls willen nicht; aber ach, ich war so kosmopolitisch in jenen Augenblicken wie nie zuvor, denn neben dem behäbigen Advokaten saß Miß Harper, das lieblichste Gesicht, das zwischen Richmond und Hampton-Court sich jemals in Themsewasser spiegelte. Und doch glitt schon viel königliche Schönheit diese Wasserstraße hinan: Anna Bulen, wenn das dürstende Auge des englischen Königs Blaubart auf ihr ruhte; Elisabeth, wenn sie müde war der Herrschaft und ihrer Sorgen; auch Henriette Marie, Karl Stuarts Gemahlin, wenn sie London vergessen wollte und träumen von Frankreich ihrer schöneren Heimat. Aber wie stolze Schönheiten sie alle sein mochten – mein Wort und meine Kenntnis alter Holbeins und Van Dycks zum Pfande! – sie schauten nie lieblicher drein als Miß Francis Harper, und während ich sie so sitzen und in das Wasser niederlächeln sah, konnt' ich nur zweierlei nicht fassen: die Freundschaft dieses Mädchens mit den beiden Misses May und die Unvorsichtigkeit der letztern, so viel fremdes Licht neben den eigenen Schatten zu stellen. Freilich war sie verlobt. Wie hätte sie's nicht sein sollen!

So glitten wir denn dahin, zuerst am Fuß des schönen Richmondhügels und jenes herzoglichen Sommerhauses vorüber, das nach seinem jetzigen Besitzer den Namen »Buccleuch-Villa« führt. Märchenhaft wuchern da die Rosen über Wände und Dach hinweg, märchenhaft klingen aus den halbgeöffneten Fenstern die Töne eines Flügels hernieder, und märchenhaft vor allem klingt die Sage vom Herzog Buccleuch selbst, der diese Villa wie ein immer offnes Gasthaus zu Nutz und Frommen seiner künstlerischen Freunde hält. Gedichtet und gesungen wird hier wie zu den Zeiten des Minstreltums und eine flüchtige Sehnsucht beschlich mich bei diesem Anblick in das alte romantische Land zurück. Aber die Ruder unsres Bootsmanns griffen wacker ein, Richmond und seine Villen dämmerten nur noch von fern, der Wind war frisch und Miß Harper so schön, und siehe da, die Sehnsucht ward nebelhaft wie jene Villen selbst und verschwand endlich ganz, als unter Mr. Taylors kunstgeübter Hand der erste Champagnerpfropfen knallend in die Luft flog und mich die große Frage zu beschäftigen begann: ob man zu Barbarossas Zeiten den fränkischen Brausewein gekannt habe oder nicht.

Die Fahrt war lieblich und interessant zugleich: in selten unterbrochener Reihenfolge zogen sich die Land- und Sommerhäuser der alten Adelsfamilien am Ufer entlang und die Lapidarstil-Antworten unsres Bootsmanns waren ein historischer Vortrag trotz einem. Durch alle Buchstaben des Alphabets hindurch, von den Arundels an bis nieder zu den Sutherlands, begrüßten uns hier von rechts und links die stolzen Namen der englischen Geschichte und wie bunte Bilder zu diesem Adelsbuch spiegelten sich im Themsewasser vor uns alle Baustile des Mittelalters, vom Tudor-Giebel an bis aufwärts zum Normannenturm.

So kamen wir bis Teddington und die Schleuse passierend, die den äußersten Punkt angibt bis wohin die Meerflut vorzudringen pflegt, war es plötzlich, als ob die Landschaft noch landschaftlicher würde. Der Villen wurden weniger, bis daß sie ganz verschwanden; weidendes Vieh trat an die Stelle belebterer Plätze, und Mr. Owen, den es plötzlich berühren mochte als führe er in seinem heimischen Pembrokeshire den River Teifi hinauf, begann alsbald ein wallisisches Volkslied zu singen, das, trotz der Kapriolen, mit denen er es begleitete, niemand zu würdigen schien als er selbst. Alles war froh als Mr. Taylors Porter-Baß zu guter Stunde God save the Queen anzustimmen und alle Verlegenheit in den immer fahrbaren Kanal des alt-englischen Patriotismus abzuleiten begann. Eine Pause noch, dann hielten wir; vor uns lag Hampton-Court.

Miß Harper sprang ans Ufer. Während sie sprang, fiel ihr der leichte Strohhut in den Nacken und ihr blauer Schleier flatterte weit hinter ihr im Winde. Es war, als flöge sie. Mr. Taylor folgte und machte gravitätisch den Ritter der übrigen Damen; dann ging es in den Park, dessen geschorne Rasenflächen in jener Schönheit vor uns lagen, wie sie den englischen Gärten eigen ist. Ich erklärte das Schloß und seine berühmte Bildergalerie in Augenschein nehmen zu wollen, wozu man mir aufrichtigst gratulierte, aber auch allseitig hinzusetzte, daß man mich meinem Schicksal überlassen müsse, da sie samt und sonders die Sehenswürdigkeiten von Hampton-Court so genau kennten, wie die Nippsachen auf ihrem eigenen chinabord, und die Porträts ihrer Könige viel zu gut im Gedächtnis hätten, als daß es einer Galerieauffrischung bedürfe. Ich war herzlich damit einverstanden; denn wenn es eine Strapaze ist Bilderausstellungen zum hundertsten Male besuchen zu müssen, so ist das Los dessen um kein Haarbreit beneidenswerter, der bei dem höchsten Interesse für das, was er zu sehen gedenkt, solchen widerwilligen Führern in die Hände fällt und durch lange Säle und Korridore hindurchgejagt wird, ohne etwas anderes als die Erinnerung an ein Schattenspiel und das kaum mit nach Hause zu nehmen. Denn die Gelangweiltheit solcher Begleiter legt sich wie ein Schleier über unsere Augen und ihr wiederholtes Gähnen verschlingt unsere gehobene Stimmung bis auf den letzten Rest. Ich war von Herzen froh, dieser Gefahr überhoben zu sein und während meine Gefährten den Park durchstreiften, schritt ich dem Schlosse zu, dessen Bauart und Bilderschätze meine Erwartungen noch weit übertreffen sollten.

Schloß Hampton-Court zerfällt in zwei verschiedene Teile, die, wiewohl äußerlich miteinander verbunden, doch auf den ersten Blick ihre doppelte Abstammung verraten. Die ältere Hälfte präsentiert sich im Tudorstil und zeigt denselben in der ihm möglichsten Vollendung. Vier rechtwinkelig aufeinander gestellte Häuserfronten bilden einen Hof und während die beiden Seitenflügel nur aus langen ununterbrochenen Fensterreihen bestehen, stellen die eigentlichen Fronten in ihrer Mitte zwei breite gotische Torbauten zur Schau, deren Ecken durch abgestutzte, das eigentliche Portal nur wenig überragende Türme flankiert werden. Es ist derselbe von Bauverständigen belächelte Stil, in dem sich bis diese Stunde der Palast von St. James dem Beschauer darstellt, ein Stil, der, wenn auch an Schönheit zurückstehend, doch etwas Charakteristisches, ich möchte sagen Männliches hat, das mich um deshalb für ihn einzunehmen wußte, so oft ich ihm begegnete.

Der neuere Teil des Schlosses ist aus der Zeit Wilhelms III. und ein Werk Christoph Wrens, des berühmten Erbauers der Paulskirche. Das Ganze bildet wiederum ein geräumiges Viereck, dessen unterstes Geschoß (nach der Hofseite hin) auf ionischen Säulen die ganze Wucht des Hauses trägt. Vermutlich gilt dieser Neubau als der schönere Teil des Schlosses; mir gilt der alte mehr.

Beide Teile haben ihre besondere Sehenswürdigkeit, der neuere: die Bildergalerie  – der ältere: die große Banketthalle aus den Tagen Heinrichs VIII. Diese betritt man zuerst. Sie ist auch in England, diesem Vaterlande der Hallen, ein Unikum, und übertrifft an Schönheit, wenn auch vielleicht nicht an Ausdehnung, die berühmte Westminster-Halle um ein bedeutendes. Ich sehe ab von jeder erschöpfenden Beschreibung, aber das eine heb' ich hervor, daß dieser mächtige Bau, in den wir wie in das Mittelschiff einer gotischen Kirche treten, die Sonne der Anna Bulen aufgehen und die Huldigungen eines Hofes zu ihren Füßen sah. Noch jetzt gewahrt unser Auge die Buchstaben AH. (Anna und Heinrich) wie ein Bild ihres Einsseins an verschiedenen Stellen des Deckengetäfels; Buchstaben, eingeschnitten vielleicht, als schon die Schneide des Beils über dem Nacken der schönen Büßerin war. – Aus dem hohen gotischen Fenster blickt, in Glas gemalt, jenes Tyrannengesicht auf uns hernieder, dessen leisestes Stirnrunzeln ein Todesurteil war, und vom Kamin her, charakteristisch und wohlerhalten, trifft uns das Auge Wolseys, jenes stolzen Prälaten, dessen Klugheit die viehische Wildheit seines Königs wie einen Stier an den Hörnern hielt. Zwanzig Jahre lang! Dann kam die Stunde, die nicht ausbleibt und seinen Führer hoch in die Lüfte schleudernd, trat ihn das schäumende Tier mit Füßen.

Eine Tragödie ersten Ranges spielte sich innerhalb dieser Mauern und im Zeitraum weniger Jahre ab. Wolsey war auf seiner Höhe und wiegte sich in Sicherheit. Nicht die Dauer seines Glückes, nur die Dauer seines Lebens machte ihm Sorge und die klügsten Arzte nach allen Seiten hin aussendend, gebot er ihnen, den gesundesten Platz in der Nähe Londons ausfindig zu machen. – Sie fanden Hampton-Court. Da entstand jenes Schloß und jene Halle, die noch heut von der Macht und Prachtliebe ihres Erbauers Zeugnis geben und am 13. Juni des Jahres 1525 war es, daß König Heinrich von London hernieder kam und einzog in den Prachtbau seines ersten Dieners, der sein Herr war. Da stand hier ein Thronhimmel und ihm zunächst der Polsterstuhl des Kardinals, da mischte sich unter die Banner der Tudors, die von allen Pfeilern herabwehten, das zudringliche Wappen des Kardinals und der priesterliche Hofstaat, darunter alter Adel des Landes, überstrahlte an Gold und Glanz, die Schranzen des königlichen Hofes. Der König sah's und ein Schatten zog über sein Antlitz; da verneigte sich der geschmeidige Kardinal und sprach: dies hab' ich gebaut, daß es deiner würdig sei; Hampton-Court ist dein. – Das war ein königliches Geschenk; noch im Geben tat es der Diener dem Herrn zuvor.

Glänzendere Tage kamen, die Tage Anna Bulens und mit ihnen die Schicksalsstunde des Kardinals; zum ersten Male wagte er es, zwischen die königliche Leidenschaft und ihr Opfer zu treten und siehe da – er war das Opfer selbst. Über ihn hinwegging der Hochzeitszug der Anna Bulen.

Und wieder andere Tage folgten. Wolsey lag vergessen auf einem Kirchhof in Leicestershire, seine Siegerin aber, nun selbst besiegt, schrieb jene schönen Sterbeworte: »Sie machten mich zur Königin und da ich auf Erden nicht höher steigen kann, machen sie mich heut zu einer Heiligen.«

Dann fiel ihr Haupt.

Und stiller ward's in Hampton-Court, bis die Braunschweiger kamen, die unberühmten George, die allen Ruhm dem Lande selber ließen. Die Widerspiegelung vergangener Zeit begann, und hier in eben dieser Wolsey-Halle dehnte sich der Hof der Königin Charlotte auf Plüsch- und Polstersitzen und klatschte Beifall, als von der Bühne herab Shakespeares Heinrich VIII. oder der Sturz Wolseys an ihrem lauschenden Ohr vorüberzog.

Doch lassen wir jetzt die Halle, um uns dem neueren Teil des Schlosses und seiner Bildergalerie zuzuwenden. Wir ersteigen eine schöne breite Treppe, freuen uns an den schlanken Ulanen-Gestalten, die, mit angefaßtem Karabiner, steif und stramm dastehen wie die Treppenpfeiler selbst, daran sie lehnen, und treten jetzt in den ersten jener Bildersäle ein, die in scheinbar endloser Reihe sich durch zwei Flügel des Palastes hindurch erstrecken.

Die Galerie von Hampton-Court hat keinen Weltruf wie die Dresdner, die Wiener und Versailler, der italienischen Schätze völlig zu geschweigen. Und in der Tat, wer lediglich von künstlerischem Interesse geleitet diese weiten Säle durchwandert, wird ziemlich unbefriedigt sie wieder verlassen und selbst der National-Galerie – deren drei Murillos sie ohnehin vor der Verurteilung retten – im stillen Abbitte tun. Aber ich mache kein Hehl daraus, daß ich Galerien gelegentlich auch in anderem Interesse durchwandere, als um den Schönheitslinien Raffaels nachzugehen, und welcher Hamptoncourt-Besucher gleich mir ein Gefühl für die englische Geschichte mitbringt, das an Lebhaftigkeit dem künstlerischen mindestens die Waage hält, der wird diese Zimmerreihen nicht ohne Erregung und Befriedigung durchschreiten können.

Es ist ein Revueabnehmen über die Träger der englischen Geschichte seit jener Zeit, die dieses Schloß entstehen sah. Die ersten Säle bieten wenig, bis plötzlich im dritten oder vierten das Auge durch eine Fülle von Porträt-Schönheiten wie geblendet wird. In oberster Reihe, zunächst der Decke, gewahrst du die schönen Buhlerinnen Karls II. und angesichts dieser lachenden Gesichter mit den koketten Ringellöckchen und den sinnlich aufgeworfenen Lippen, mildert sich dein Urteil über die Schwäche des liebenswürdigen Stuart. Je länger du verweilst, je mehr wirst du erschüttert in deinen festesten Grundsätzen, zumal wenn du zu Füßen jener verführerischen Weiber, in gleicher Höhe fast mit deinem Auge, die lachenden Porträts ihrer Söhne und Töchter gewahrst, zu deren angeborener Schönheit sich das durchgeistigende Bewußtsein gesellt: wir sind von königlichem Blut.

Weiter ziehen wir an Hunderten von Bildern aller Schulen gleichgültig vorüber, bis endlich der Hauptsaal der Galerie, schon durch seine Größe auffällig, sich vor uns auftut und uns verweilen macht. Ich möchte ihn den Holbein-Saal nennen. Mindestens 20-30 Stücke des alten Meisters finden sich hier vereinigt und die ganze Tudorzeit – der er angehörte – tritt an eben dieser Stelle in ihren Hauptgestalten uns sprechend entgegen. Da ist Heinrich VIII. (drei- oder viermal) und neben ihm – sein Narr; da ist Maria Tudor, reizlos und wie es scheint mit widerstrebender Hand gemalt; da ist Elisabeth, in einer ganzen Reihe von Blättern: als Kind, als Mädchen, als Königin, als Greisin selbst und zwischen inne in einem persischen Phantasie-Kostüm. Ich sah nie etwas Entsetzlicheres. Da grüßt uns mit hoher sprechender Stirn, über der eine turmhohe, abenteuerliche Frisur balanciert, die schöne Anna von Dänemark, die Gemahlin Jakobs I, jenes aufgeschwemmten Vielwissers, der eifersüchtig die Augen seiner Frau verfolgte, wenn sie, wie zur Erholung, ausruhten auf der Schönheit eines jungen Schotten-Lords. Ein rührendes Lied blieb uns aus jener Zeit, ein Lied vom hübschen Grafen Murray, der zur Unzeit seiner Königin gefiel und sterben mußte, weil er schöner war als König Jakob selbst. Das Lied ist alt und lautet so:

Ihr bunten Hochlands-Clane,
Was wäret ihr so fern?
Sie hätten nicht erschlagen
Lord Murray, euren Herrn!

Er kam von Spiel und Tanze,
Ritt singend durch die Schlucht, –
Sie haben ihn erschlagen
Aus Neid und Eifersucht. –

Im Lenze, ach, im Lenze –
Sie spielten Federball,
Lord Murrays stieg am höchsten
Und überflog sie all.

Im Sommer, ach, im Sommer –
Auszogen sie zum Strauß,
Da rief das Volk: Lord Murray
Sieht wie ein König aus.

Im Herbste, ach, im Herbste –
Zu Tanze ging es hin,
»Mit Murray will ich tanzen!«
Rief da die Königin.

Er kam von Spiel und Tanze,
Ritt singend durch die Schlucht, –
Sie haben ihn erschlagen
Aus Neid und Eifersucht. –

Ihr bunten Hochlands-Clane,
Was wäret ihr so fern?
Sie hätten nicht erschlagen
Lord Murray, euren Herrn!

Armer Lord Murray, arme Königin! Aber euer Leid erlischt vor einem größeren: dort aus schlichtem Rahmen heraus schaut, als weine sie im tiefsten Herzen, das blasse Antlitz Maria Stuarts. Und doch war sie noch halb ein Kind, als sie dem Maler zu diesem Bilde saß. Ein Klosterschleier umhüllt weiß und dicht das schmale, feine, geheimnisvolle Gesicht, das nichts hat von jugendlicher Heiterkeit, und es beschleicht uns der Gedanke, als fühle sie sich unheimlich unter diesen Elisabethköpfen, die von allen Seiten her auf sie herniederblicken.

Noch weitere Säle folgen, aber unser Interesse hat seinen Höhepunkt erreicht und selbst ein Pastellbild »des alten Fritz«, der aus einer Gesellschaft reifröckiger Prinzessinnen heraus uns mit seinem klaren Königsauge grüßt und unser preußisches Gefühl erwachen macht, fesselt uns nur auf Augenblicke. Gleichgültig an mutmaßlichen Raffaels (wo gab' es deren nicht!) und noch mutmaßlicheren Michelangelos vorübereilend, erreichen wir aufs neue die breite Aufgangstreppe, deren Ulan noch immer wie in Stein gehauen dasteht und die teppichbedeckten Stufen schnell herniedergleitend, atmen wir auf, als nach der Schwüle, die uns von Saal zu Saal begleitete, jetzt plötzlich die frische Parkluft unsre Stirne kühlt und statt einer endlosen Reihe von Bildern jenes eine vor uns hintritt, das immer wieder mit seinem Zauber uns beschleicht.

Schnell durchflog ich die Gänge, von jenem Kraftgefühl beherrscht, das in der letzten Stunde eines Galeriebesuchs der Herr über alle anderen zu werden pflegt – vom Hunger.

Fünf Stunden waren seit jenem feierlichen Augenblick vergangen, wo Mr. Taylors erster Champagnerpfropf in die Luft paffte, und als ich so hin und her irrte, wandelte mich plötzlich wie ein Gespenst der Gedanke an: wenn du zu spät kämst, wenn alles vorüber wäre! Da weckten mich Stimmen und munteres Gelächter aus meiner finsteren Betrachtung und um mich blickend, gewahrt' ich unter einem Kastanienbaum meine gesamte Begleiterschaft: die beiden Gentlemen stehend und schwatzend, die Ladies ins Gras gelagert und Kränze flechtend. Miß Harper warf mir den ihren zu und lachend fing ich ihn, wie einen Reifen beim Reifenspiel, mit meinem vorgestreckten Arme auf. »Ich glaubte, Sie hätten uns vergessen«, rief sie schelmisch unter ihrem Hut hervor, und sah mich an als wisse sie's doch am besten, daß keines Mannes Auge ihrer Lieblichkeit jemals vergessen könne. Dann erhob sich alles – gesunder Appetit umschlang uns mit einem Eintrachtsbande – und dem Boote zueilend, glitten wir in der nächsten Minute schon quer über den Strom hin an das jenseitige Ufer, wo eine prächtige, nach allen Seiten hin von Weidengebüsch umgrenzte Wiese wie geschaffen war für ein lustig verschwiegenes Diner. Eine Koppel Pferde, die im ersten Augenblick halb stutzig halb neugierig die ungeladenen Gäste empfing, machte bald den bescheidenen Wirt und überließ uns das Terrain. Wir aber hatten bereits den Stamm einer mächtigen alten Rüster zu unserm Lagerplatze ausersehen und eh eine Viertelstunde um war, breitete sich auf dem Rasen vor unsern bewundernden Augen eine wohlgedeckte Tafel aus. Reizend stach das weiße Linnen von dem saftigen Grün des Rasens ab, aber reizender noch schimmerte die gelbe Kruste einer kolossalen Hühnerpastete, die von den kunstgeübten Händen der alten Mistreß May gebacken, den gebührenden Platz in der Mitte der Tafel einnahm. An den vier Zipfeln des Tischtuchs schimmerten abwechselnd die Stanniolkuppen Mr. Taylors und die geschliffenen, portweingefüllten Karaffen, die Mr. Owen und ich selber als Picknick-Kontingent gestellt hatten; am linken und rechten Flügel der Riesenpastete aber lagen in schlichter Brotgestalt die Gaben der Miß Harper: zwei Königskuchen, deren kleine Rosinen zahllos wie die Sterne am Himmel lachten. So war das Mahl; drum herum aber, auf den umgestürzten Kisten und Körben, saßen sieben lachende Menschen und dankten in kindlicher Fröhlichkeit dem Geber aller Dinge. Der Portwein war längst hin und die Hühnerpastete nur noch eine Ruine, da ergriff ich ein volles Glas Champagner, und mich hoch aufrichtend, schloß ich die Mahlzeit mit jenem Toaste, der von Herzen kommend, in britischen Herzen noch immer sein Echo fand: Old-England for ever!


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