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Die »allerlei Freunde« bildeten einen weiteren und einen engeren Kreis. Der engere Kreis war eine Siebenzahl und bestand aus folgenden Personen: Graf Drosselstein auf Hohen-Ziesar, Präsident von Krach auf Bingenwalde, Generalmajor von Bamme auf Quirlsdorf, Baron von Pehlemann auf Wuschewier, Domherr von Medewitz auf Alt-Medewitz, Hauptmann von Rutze auf Protzhagen, Dr. Faulstich in Kirch-Göritz.
Es wird unsere nächste Aufgabe sein, der bloßen Vorstellung dieser Herren, die mit Ausnahme Dr. Faulstichs alle das sechzigste Jahr erreicht oder überschritten hatten, eine kurze Charakterisierung folgen zu lassen. Wenn dies ein Verstoß gegen die Gesetze guter Erzählung ist, so möge der Leser Nachsicht üben und um so mehr, als der zu begehende Fehler vielleicht mehr scheinbar als wirklich ist. Denn mit wie großem Recht auch die Vorführung abgeschlossener, ihr Tun und Denken zettelartig am Mantel tragender Gestalten verworfen und statt dessen jene Erzählungskunst gepriesen werden mag, die die Phantasie des Lesers in den Stand setzt, das nur eben Angedeutete schöpferisch auszubilden und zu vollenden, so mögen doch Ausnahmen überall da gestattet sein, wo, wie hier, das Nebeneinanderstellen fertiger Figuren nicht viel mehr bedeuten will als eine weniger um der Bildnisse selbst als um des Ortes willen, wo sie sich finden, dem Leser vorgeführte Porträtgalerie.
Die vornehmste Erscheinung im Schloß Guse, zugleich dem Zirkel am längsten angehörig, war Graf Drosselstein. In Königsberg geboren, in dessen Nähe auch die Familiengüter lagen, war er, trotzdem er die Provinz gewechselt hatte, ein vollkommener Repräsentant des ostpreußischen Adels. Dieser Adel, dem Hofe und dem »Dienste« fernerstehend, hatte freilich – wenigstens damals noch – darauf verzichten müssen, seinen Namen gleich ruhmreich wie die märkisch-pommerschen Familien in unsere bis dahin wenig mehr als eine Reihe von Schlachten darstellende Geschichte einzutragen, aber was ihm dadurch an Volkstümlichkeit und historischem Klang verlorengegangen war, war wieder aufgewogen worden durch das Bewußtsein gewahrter Unabhängigkeit. Weniger ein- und untergeordnet in das Räderwerk des militärisch-bürokratischen Staates, hatte sich ganz Ostpreußen und besonders sein Adel – im einzelnen zu seinem Nachteil, im ganzen zu seinem Vorzug – eine ausgesprochene provinzielle Eigentümlichkeit zu bewahren gewußt.
In dieser provinziellen Eigentümlichkeit, die sich vielleicht am besten als ein mitunter herber Ausdruck des Freiheitlichen bezeichnen läßt, stand auch Graf Drosselstein, und wenn er an der Tafel seiner Freundin, der Guser Gräfin, dem säbelbeinigen Generalmajor von Bamme gegenübersaß, der zweideutige Anekdoten erzählte und von Pferden, Prinzen und Tänzerinnen, weniger aus Renommisterei als aus Übermut und schlechter Erziehung, in krähstimmigem Jargon perorierte, so mochte er sich, nicht ohne Anwandlung ostpreußischen Stolzes, des Unterschiedes zwischen seiner heimatlichen Provinz und dem märkischen Stammlande bewußt werden. Aber solche Anwandlungen schwanden so rasch, wie sie kamen. Von seltener Unparteilichkeit, allem Engen und Selbstischen fern, in welcher Form es auch auftreten mochte, stand es für seine Erkenntnis längst fest, daß die Mark trotz aller ihrer Unleidlichkeiten als das Kern- und Herzstück der Monarchie anzusehen sei, mit oder ohne Bammes, ja zum Teil wegen derselben.
Der Graf hatte nur kurze Zeit dem Staate gedient. Mit zwanzig Jahren in das erste Bataillon Garde tretend, aber schon nach Ablauf eines Jahres gesundheitshalber den Abschied nehmend, war er froh gewesen, den Anblick des Potsdamer Exerzierplatzes mit dem der Marine von Nizza vertauschen zu können. Wiederhergestellt, durchzog er Italien, lebte, ganz dem Studium der Kunst hingegeben, erst in Rom, dann in Paris und beschloß seine »große Tour« durch einen Ausflug nach Holland und England.
Er war ausgangs der Dreißig, als ihn um 1788 Familienangelegenheiten an den Petersburger Hof führten. Hier machte er die Bekanntschaft einer Komtesse Lieven, die ihn durch ihre durchsichtige Alabasterschönheit in demselben Augenblicke gefangennahm, in dem er sie sah. Seine Werbung wurde nicht zurückgewiesen; die Kaiserin selbst beglückwünschte das schöne Paar, das sich, unmittelbar nach der mit großer Pracht und unter Teilnahme des Petersburger Hofadels gefeierten Vermählung, auf die ostpreußischen Güter des Grafen zurückzog.
Aber das stille Glück der Flitterwochen erschien der jungen Gräfin bald zu still. Sie sehnte sich nach dem zerstreuenden Leben der »Gesellschaft«, und da weder die politischen Verhältnisse noch die Gesinnungen des Grafen ein erneutes Auftreten am russischen Hofe – das die junge Gräfin allerdings am liebsten gesehen haben würde – ausführbar erscheinen ließen, so wurde die Übersiedelung nach Hohen-Ziesar, einem ursprünglich den märkischen Drosselsteins zugehörigen Gute, das erst vor zwei oder drei Jahren an die ostpreußische Linie gekommen war, beschlossen.
Von Hohen-Ziesar aus ermöglichte sich ein verhältnismäßig leichter Verkehr mit der Hauptstadt, wo das Hofleben, das während der fridericianischen Zeit beinahe völlig geruht hatte, eben damals einen neuen Aufschwung zu nehmen begann. Es war nicht Petersburg, aber es war doch Berlin. Die junge Gräfin, wiewohl zeitweise von einem halb ermüdeten, halb zerstreuten Ausdruck, als ob ihre Seele nach etwas Fernem und Verlorenem suche, gab sich nichtsdestoweniger den Zerstreuungen ohne Rückhalt hin. Sie galt für glücklich; sie schien es auch. Aber der durchsichtige Alabasterteint hatte nichts Gutes bedeutet; ein Blutsturz überraschte sie kurz vor einer Opernhausvorstellung; eine Abzehrung folgte, sie starb vor Ausgang des Winters.
Der Graf war wie niedergeworfen. Er mied auf lange Zeit hin jeden Umgang; selbst in Schloß Guse, wo er damals schon verkehrte, blieb er aus. Als er wieder in der Gesellschaft erschien, war seine Selbstbeherrschung vollkommen; aber er hatte jenen lebemännischen Frohsinn und die gesprächige Heiterkeit eingebüßt, die ihn früher ausgezeichnet hatten. Er lachte nicht mehr. Er hatte nur noch das Lächeln derer, die mit dem Leben abgeschlossen haben. Hier und dort hieß es, daß es nicht der Tod der jungen Gräfin allein sei, der diesen Wandel in seinem Wesen geschaffen habe. Er wandte sich großen Bauten zu; besonders waren es Parkanlagen, die ihn zu zerstreuen begannen. Hohen-Ziesar bot ein gutes Material, und so entstand im Geschmack jener Zeit eine kostspielige Schöpfung, die sich, vom Flachdach des Schlosses oder noch besser vom Kirchturm aus angesehen, als eine große in Stein und Erde ausgeführte Alpenreliefkarte darstellte. Granitblöcke wurden zu irgendeinem Rigi aufgetürmt, über den Grat des Gebirges liefen zwei Pässe, die nach Altdorf oder Küßnacht führten, während ein aus unsichtbaren Quellen gespeister See einen kataraktreichen Bergstrom in die Tiefe schickte. Sennhütten und Matten lösten sich untereinander ab; zu Füßen dieser Künsteleien aber, in das wirkliche Oderbruch übergehend, dehnte sich eine reizende Flachlandszenerie mit Feld und Wiesen, mit Fluß, Bach und Brücken und einem stillen, weidenumstandenen Teich, dessen japanisches Inselhäuschen die Schwäne umzogen.
An der Herstellung dieses Parkes nahm unsere Guser Gräfin, die sich zu allem Rokokohaften hingezogen fühlte, den regsten Anteil, der Verkehr wuchs, Briefe wurden gewechselt, Konferenzen abgehalten, deren endliches Resultat nicht nur der Aufbau der Hohen-Ziesarschen »Schweiz«, sondern auch die Etablierung einer Freundschaft war, die sich seitdem namentlich von seiten der Gräfin zu einer wirklichen, über Laune und Zerstreuungsbedürfnis weit hinausgehenden Intimität gesteigert hatte.
Dies konnte kaum ausbleiben. Denn so gewiß die Gräfin am Aparten hing, sowenig sie der Originalfiguren ihres Zirkels entraten mochte, so sehr empfand sie doch auch, was der Mehrzahl derselben fehlte: Schliff, Bildung, Ton, vor allem jegliches Verständnis für Kunst und Schönheit. All dies besaß der Graf. Er hatte nicht nur die Höhe der Rheinsberger Gesellschaft, er übertraf dieselbe sogar durch jenes nachhaltig wirkende Ansehen, das allein aus Selbstsuchtlosigkeit und reinem Wandel sprießt.
Ein bestimmtes Ereignis gab der schon gefestigten Freundschaft ein neues Band. Der Graf nahm Veranlassung, die Gräfin ins Geheimnis zu ziehen; er erzählte ihr die Geschichte vom Hinscheiden seiner Frau, auch von dem, was diesem Hinscheiden unmittelbar vorausgegangen war. Es war das Folgende.
Die junge Gräfin, nach einem heftigen Hustenanfall, schien in einen Zustand tiefen Schlummers zu verfallen, auch der Graf, ermüdet von tagelangem Wachen, schlief in seinem Lehnstuhl ein. Es war spät, nur eine Schirmlampe brannte. Als er erwachte, bemerkte er, daß die Kranke aufgestanden war und sich der Tapetentüre eines Wandschrankes näherte. Eine lethargische Schwere, zugleich ein dunkeles Gefühl, daß er die Kranke in ihrem Tun nicht stören dürfe, hielten ihn in seinem Lehnstuhl fest. Er sah nun, daß sie zunächst ein Kästchen aus dem Schranke, dann aus einem verborgenen Fach des Kästchens eine Anzahl Briefe nahm, die mit einer roten Schnur zusammengebunden waren. Sie schritt wieder zurück, an ihm vorbei, glaubte sich zu überzeugen, daß er schlafe, und trat dann an den Kamin. Sie berührte die Briefe mit den Lippen, löste die Schnur und warf dann jeden einzelnen Brief vorsichtig, damit die Flamme nicht zu hell aufschlüge, in das halberloschene Feuer. Als alles verglimmt war, kehrte sie an ihr Lager zurück, hüllte sich in die Decken und atmete hoch auf, wie befreit von einer bangen Last. Es war ihr letztes Tun. Ehe der Morgen kam, war sie nicht mehr. Welch ein Tag für den Überlebenden! Er hatte sich geliebt geglaubt; nun war alles Wahn und Traum! Wessen Hand hatte die Briefe geschrieben, die die Empfängerin bis zuletzt wie ein Allerteuerstes gehegt hatte? Er frug es immer wieder; aber keine Antwort. Das Geheimnis war bei der Toten und der Asche im Kamin.
So hatte der Graf erzählt. Die Erzählung selbst aber, wie schon angedeutet, besiegelte die Freundschaft, die von jenem Tage an unauflöslich zwischen dem Witwer-Grafen auf Hohen-Ziesar und der Gräfin-Witwe auf Schloß Guse bestand.
Schloß Guse hatte jedoch nur einen Drosselstein; alles andere, was sich von »allerlei Freunden« daselbst versammelte, konnte so ziemlich als Revers des Grafen gelten.
Ihm im Range am nächsten stand Präsident von Krach, ein Mann von Gaben und Charakter. Er galt als ein bedeutender Jurist, hatte durch hartnäckige Opposition den Zorn des großen Königs herausgefordert und seinerseits, in tiefer Verstimmung über die bei dieser Gelegenheit erfahrene Unbill, sich nach Bingenwalde zurückgezogen. Er war hager, groß, scharf, wenig leidlich. Sein hervorstechender Zug war der Geiz. Er beanstandete jede Rechnung und bezahlte sie, nach dem Grundsatze: »Zeit gewonnen, Zins gewonnen«, immer erst nach eingeleitetem prozessualischem Verfahren. Die Betroffenen spotteten, daß es aus alter Anhänglichkeit an die Gerichte geschähe, zu denen sich sein juristisches Paragraphenherz doch immer wieder hingezogen fühle. Eines besonderen Rufes genossen auch seine Diners, die, wiewohl alljährlich nur einmal wiederkehrend, ein wahres Schrecknis der gesamten Oderbrucharistokratie bildeten. Einzig und allein der alte Bamme – den seine Trinkgelder und Kordialequivoken zum Liebling aller als Livreediener eingekleideten Kutscher und Gärtner machten – hatte sich bisher unter Anwendung von Flascheneskamotage diesem Schrecknis zu entziehen gewußt, so daß beispielsweise Baron Pehlemann auf das ernsthafteste versicherte: »Nie, während sämtlicher Krachschen Diners, sei seitens des ›Generals‹ ein Tropfen anderen Weines als aus seinem eignen, Bammeschen Keller getrunken worden.« Bamme selbst, ohnehin von einer beinahe krankhaften Neigung erfüllt, sein Husarentum coûte que coûte zur Geltung zu bringen, ließ sich solche Huldigungen gern gefallen, ermangelte aber andererseits nie, natürlich nur zugunsten neuer Malicen gegen Krach, seinen Schlauheitstriumph über diesen entschieden in Abrede zu stellen. Krach, so schwur er, sei viel zu scharf, um getäuscht werden zu können; er habe den Kriminal- und Inquisitorialblick einer dreißigjährigen Praxis, er sehe alles, er wisse alles; aber freilich, er schweige auch, weil er bei kleinem Ärger die großen Vorteile der Situation sofort überblicke und in Wahrheit nur von einer Frage bestürmt werde: »Warum sind sie nicht alle Bammes?«
Die Gräfin, persönlich von großer Freigebigkeit, nahm wenig Anstoß an diesem Geiz. Sie hatte lange genug gelebt, um zu wissen, daß das gegen sich selbst und andere gleich erbarmungslose Sparen den Körper fest und zäh, den Geist scharf und schneidig mache, vor allem auch der Ausbildung von Originalen günstig sei, freilich keiner angenehmen. Aber darauf kam es ihr nicht an. Was schließlich den Ausschlag zugunsten Krachs gab, war, daß auch der Prinz einen starken Hang zum Ökonomisieren gehabt hatte.