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»Wie stehen Sie zu der weißen Frau?« rief Renate dem eintretenden Justizrat entgegen, der seinerseits, ohne sich verwirren zu lassen, unter leichtem Gruß gegen die Fragestellerin antwortete: »Gut, meine schöne Freundin. Ich stehe zu allen Frauen gut.«
»Auch zu den weißen?«
»Auch zu den weißen«, wiederholte Turgany. »Ganz besonders aber zu der Bayreutherin, die letzten Sommer wieder viel von sich reden machte. Natürlich in den Zeitungen. Ich halte sie für die patriotischste Frau des Landes, seit sie den großen Empereur zweimal aus ihrem Schlosse hinausgespukt hat. ›Ce maudit château‹ waren seine höchsteigenen Worte. Aber vertagen wir das. Ich möchte zunächst bitten, mich mit den beiden Herren ad latus Fräulein Renates bekanntzumachen.«
Drosselstein stellte Grell und Hirschfeldt vor, die alsbald nach einer kurzen, in Sprüngen geführten Unterhaltung überrascht waren, den Justizrat in alle Geheimnisse der letzten Kastaliasitzung eingeweiht zu finden. Als sie dieser Überraschung Ausdruck gaben, sagte Turgany: »Sie vergessen, meine Herren, daß ein Jurist verpflichtet ist, Aug' und Ohr überall zu haben, zumal in Zeiten wie die jetzigen. Ich habe mich eben zu Ihrer Verwunderung über Calcar und die Seydlitzsporen verbreitet, aber was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen auch von den andern, historisch beglaubigteren Sporen erzählen wollte, die seitens des Generals O'Donnell in der Kathedrale zu Tarragona aufgehängt wurden.«
In solchen Andeutungen ging es weiter. Alle waren neugierig geworden, bis sich zuletzt das Rätsel löste. Himmerlich, ein jüngerer Studiengenosse Othegravens, stand in Korrespondenz mit diesem und ermangelte nie, über die literarischen Wochenvorgänge zu berichten. Von Othegraven kam es dann an Turgany.
Dieser hatte Platz genommen, und während er noch, unter fortgesetzten Aperçus, in denen er exzellierte, seine Tasse ausnippte, sagte Drosselstein: »Und nun, Turgany, was verschafft uns die Freude, Sie hier zu sehen? Ich bin Erfahrungsmann genug, um Ihnen irgend etwas wie Geschäfte von der Stirn zu lesen. Auch ist mir Ihr Sprühfeuer verdächtig. Ich fürchte, die Dusche kommt nach. Was ist es? Etwas Juristisches?«
»Nicht doch«, entgegnete Turgany. »Höher hinaus. Politisch-militärisch.«
»Das wäre«, sagte Drosselstein, und Berndt und Bamme horchten auf, ohne zunächst an einen rechten Ernst zu glauben.
Der Justizrat aber wiederholte: »Politisch-militärisch. Lassen Sie mich gleich in medias res gehen. Ich darf es doch? Wir sind unter uns?«
Drosselstein nickte.
»Nun denn«, begann Turgany, »was mir zu sagen obliegt, ist kurz das: Wir haben seit drei Tagen den französischen General Girard in unserer Stadt, von der Armee des Vizekönigs, mit ihm zwei schwache Regimenter, keine zweitausend Mann.«
»Kriegskasse?« fragte Bamme.
»Nein, aber fünfzig Kanonen, bronzene Acht- und Zwölfpfünder. Und auch das ist nicht zu verachten. Die Tage sind vor der Tür, wo wir sie werden brauchen können, brauchen in der richtigen Direktion, das heißt mit Front gegen Westen. Der ›Aufruf‹ verschweigt es, aber man muß zwischen den Zeilen lesen.«
Berndt und Bamme wechselten Blicke des Einverständnisses; Turgany fuhr fort:
»Also zweitausend Mann und fünfzig Kanonen. Es fragt sich, ob die Mittel da sind, einen Überfall gegen diese feindlichen Streitkräfte zu wagen. Auf die Frankfurter Bürgerschaft, oder doch auf einen starken Bruchteil derselben, ist mit Sicherheit zu rechnen. Und im Namen dieser Bürgerschaft bin ich hier. Othegraven, der an der Spitze steht, ist entschlossen, mit zwölf Mann alten Soldaten, die sich freiwillig gemeldet haben, den General Girard gefangenzunehmen. Zugleich Stab und Adjutantur des Generals. Was die Besatzung angeht, so befindet sie sich in der Dammvorstadt, an der andern Seite der Oder. Alles liegt also daran, die Verbindung zwischen hüben und drüben zu stören. Das Aufeisen des Flusses hat zu beiden Seiten der Brücke bereits begonnen; diese selbst wird geopfert werden, wenn es die Umstände fordern. Hier haben Sie, was unsererseits geboten werden kann.« Der Justizrat schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er fort: »Lassen Sie mich noch ein paar Worte hinzusetzen. Ihre Landsturmkräfte, soweit ich eingeweiht bin, reichen mutmaßlich für das Unternehmen aus, sie werden aber sicher ausreichen, wenn die Russen, die nur drei Meilen von Frankfurt stehen, ihre Mitwirkung zusagen. Diese Mitwirkung würde sich auf einen bloßen Scheinangriff gegen die Dammvorstadt zu beschränken haben und nur den Zweck verfolgen, die jenseits liegenden zweitausend Mann von einem Übergangsversuche auf das diesseitige Flußufer abzuhalten. Ich war angewiesen, alles dies, behufs weiterer Veranlassung, zur Kenntnis unseres nächsten Nachbars, des Herrn Grafen Drosselstein, zu bringen; ein glücklicher Zufall aber hat es gefügt, daß ich dem Herrn General selbst« (und hierbei verneigte sich Turgany gegen Bamme) »ein Bild der Sachlage geben konnte.«
Alles war sehr ernst geworden, und weder die klappernden Rouleauringe noch Wangeline selbst konnten länger als Ursache des Fröstelns gelten, das plötzlich über alle hinlief. Es war vielmehr das Bewußtsein, sich auf einen Schlag vor eine Entscheidung gestellt zu sehen; jeder erschrak, und selbst in Berndt und Bamme befehdete sich das Gefühl einer schweren und gefahrvollen Verantwortung mit ihrer Freude darüber, daß nun endlich die Stunde gekommen sei. Nach einer Weile sagte Bamme: »Hirschfeldt, Sie haben mehr Krieg gesehen als ich, was antworten wir?«
Hirschfeldt zuckte leise die Achseln und begleitete dies Achselzucken mit einer Handbewegung, die so gut Zustimmung wie Ablehnung ausdrücken konnte. Der alte General gewann dabei seine gute Laune wieder und sagte: »Soweit bin ich gerade auch: halber Weg zwischen Ja und Nein. Ihre spanische Kriegsführung, soviel ich davon weiß (leider wenig genug), ist eine lange Kette von Beschleichungen und Überrumpelungen gewesen. Ich wette, daß Sie dergleichen zu Dutzenden hinter sich haben. Sie müssen also davon wissen. Was halten Sie von Überfallen einer feindlichen Stadt? Denn als solche, verzeihen Sie, Justizrat, müssen wir Ihr loyales Frankfurt um seiner feindlichen Besatzung willen vorläufig ansehen.«
»Was ich zu sagen habe«, nahm jetzt Hirschfeldt das Wort, »ist kurz das. Alles hängt, die russische Mitwirkung als sicher angenommen, von der Beschaffenheit ebendieser feindlichen Besatzung ab; ist es eine gute Truppe, so geht es schlecht, ist es eine schlechte Truppe, so geht es gut.«
»Dann wird es gut gehen«, warf jetzt Vitzewitz dazwischen. »Und unter allen Umständen, wir dürfen diesen Vogel nicht wieder aus den Händen lassen, auch nicht auf die Gefahr hin, daß er uns kratzt und beißt. Aber er wird es nicht. Diese Regimenter sind Rudera, wie die hundert Mann, die wir in Guse hatten. Ein Hurra, und sie werfen die Gewehre weg. Also mit gutem Mute vorwärts. Oder sollen wir uns niedriger veranschlagen als die zwanzig Kosaken samt ihrem Tettenborn! Ich für meine Person akzeptiere den Plan und antworte mit einem bedingungslosen: ›Ja‹.«
Alles stimmte bei; selbst Renate wurde für einen Augenblick von dem kriegerischen Geiste ihres Hauses erfaßt. »Ja, ja«, klangen die Stimmen durcheinander. Endlich legte sich die Aufregung, und nachdem Drosselstein sein Versprechen wiederholt und seinen Besuch im russischen Hauptquartier auf den andern Vormittag festgesetzt hatte, erklärten sich Berndt und Bamme bereit, unmittelbar nach Rückkehr des Grafen eine Frankfurter Rekognoszierungsfahrt antreten zu wollen. Bei Gelegenheit dieser Fahrt sollten dann mit Othegraven alle weiteren Verabredungen zu prompter, gemeinschaftlicher Aktion, an der übrigens Turgany persönlich nicht teilnehmen zu wollen erklärte, getroffen werden.
Die Stimmung zu scherzhaftem Geplauder ließ sich nicht wiederfinden, und so wurde denn zu verhältnismäßig früher Stunde aufgebrochen. Erst fuhr der Schlitten vor; zehn Minuten später hoben sich auch die Reiter in ihre Sättel. Der Tauwind, der während der Nachmittagsstunden geweht, hatte nachgelassen, und es zog eine scharfe Luft von Osten her; der Himmel klärte sich wieder, und die Sterne traten immer blitzender hervor.
Bamme ritt zwischen Berndt und Tubal. Es ging im Schritt, und der Shetländer hatte Mühe, sich mit den beiden andern Reitern en ligne zu halten. Ein jeder hing seinen Betrachtungen nach; endlich sagte Bamme: »Wer ist dieser Othegraven?«
»Ein Konrektor«, antwortete Berndt. »Etwas steif und pedantisch, aber energisch und mutig von Natur. Und hätt' er diesen Mut nicht, so würd' er ihn aus seiner Begeisterung schöpfen. Ein Mann von Ehre.«
»Sonderbar«, sagte Bamme. »Zu meiner Zeit waren die Konrektors anders. Wir hingen ihnen einen Papierzopf an oder bemalten ihnen den Rücken, und ich entsinne mich nicht, daß es von irgendeinem geheißen hätte: er sei ein Mann von Ehre.«
Der Alte schwieg, schien aber seinen Gedanken weitergesponnen zu haben, als er nach einer Weile fortfuhr: »Ihre Schwester, die Gräfin, liebte von solchen Dingen zu sprechen und sah dann immer verdrießlich aus, weil sie nicht recht wußte, ob sie weinen oder lachen sollte. ›Das ist der Wind, der von Westen her weht.‹ Es war französisch, das war das Gute daran, aber das Aufkommen der Rotüre störte sie wieder. Ich für meinen Teil habe nichts gegen die Rotüre. Kann mir nicht helfen, mir bedeutet der Mensch die Hauptsache, und ist dieser ganz allgemeine homo, von dem ich als guter Lateiner wohl sprechen darf, wirklich um einen Kopf gewachsen, seitdem sie drüben den armen König um ebensoviel kürzer gemacht haben, so scheint mir die Sache nicht zu teuer bezahlt. Le jeu vaut la chandelle. Auch eine Guser Reminiszenz. Ach, Vitzewitz, das Dümmste sind doch die Vorurteile. Wie gefiel Ihnen Drosselstein, als er heute wieder das ostpreußische Register zog?«
»Und noch dazu an falscher Stelle«, lachte Berndt. »Ich habe zufällig in Erfahrung gebracht, von wem der Aufruf geschrieben wurde. Staatsrat Hippel. Ostpreußisches pur sang. Aber ich wollte Drosselstein die Beschämung ersparen. In unseren Schwächen sind wir am empfindlichsten, Sie, ich, jeder. Seien wir froh, daß wir ihn haben; er ist doch der Sanspareil unseres Kreises und von Kopf zu Fuß ein Edelmann. Die meisten heißen bloß so; er aber hat den Vorzug, einer zu sein.«
Bamme stimmte bei; damit brachen sie das Gespräch ab und setzten ihre Pferde in Trab.
In Hohen-Vietz angekommen, hatten alle das Bedürfnis nach Ruhe und zogen sich zurück, unter den ersten Hirschfeldt und Tubal, die dasselbe Zimmer innehatten. Sie plauderten noch eine kleine Weile, dann wurde Hirschfeldt still. Er schlief. Nur Tubal wachte noch.
Allerlei Gedanken gingen ihm durch den Kopf, deren er nicht Herr werden konnte.
»Bin ich verlobt?« fragte er sich, als er endlich das Licht gelöscht hatte. »Ich glaube ja... Da müßt' ich ja glücklich sein! Und bin ich es? O gewiß, ich bin es, ich bin glücklich... Aber nicht glücklich genug; ich würde sonst jubeln und nichts hören und sehen als sie. Und seh' ich sie? Sonderbar, ich habe kein deutliches Bild von ihr. Kaum ein Bild überhaupt... Und doch lieb' ich sie. ›Wer liebte sie nicht!‹ sagte die Tante... Ach, Glück, Glück. Hab' ich dich? Und ich frage noch... Undankbarer, der ich bin!«
So sann er weiter. Immer schattenhafter zogen die Bilder an ihm vorüber, bis auch er entschlief.