Irene Forbes-Mosse
Gabriele Alweyden oder Geben und Nehmen
Irene Forbes-Mosse

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II.

Thekla von Granstett war zum Kaffee geladen, eine Handlung, die Ihre Exzellenz zweimal im Jahr über sich ergehen ließ. Sie war mit Thekla zusammen im adligen Institut gewesen, sie hatten dieselben schrecklichen blauen Merinokleider, Gummizugstiefel und weißen Strümpfe getragen, hatten beide für die Oberin geschwärmt und den Klavierlehrer gehaßt, hatten in der Konfirmationszeit beschlossen, Diakonissinnen zu werden, und hatten es beide nicht getan. Ja, das war nun eine Reihe Jahre her!

Es waren Charlottenkuchen gebacken, nach einem alten umständlichen Familienrezept. »Unsere Großmütter, wie sie sich anstellten mit ihrer Weisheit,« sagte Frau von 33 Alweyden. »Aber mit all den Zutaten war's doch, weiß Gott, kein Kunststück. Ingwer und Zitronat und Zibeben – das sind Weinbeeren, Gabriezel, aber es klingt weit köstlicher . . . Zibeben! Das hat es gewiß schon bei Salomon gegeben, als die Königin von Saba zum Tee kam. Es heißt ja auch im Hohenlied: Stärke mich mit Traubenkuchen!«

Denn Ihre Exzellenz war bibelfest, wenn auch gänzlich unorthodox.

Marie Gabriele hatte sich, als die Stunde nahte, zu Sylvie begeben. Sie wußte, daß Thekla bei längeren Visiten es sich nicht nehmen ließ, Sylvie gründlich durchzuhecheln, sie sozusagen mit dem Zwieback in den Kaffee zu stippen; denn so sehr sie auch sonst auf Etikette hielt, Thekla stippte hemmungslos. So überließ sie die Defensive der Mutter. Wenn diese auch selber unbehagliche Bemerkungen über Sylvie machen konnte, gegen Dritte stand sie ihr bei. Das war so famos an Mama: sie war ein Gentleman.

Die Stiftsdame erschien. Vorher waren – gewissermaßen als Vorreiter – Pakete aus den verschiedensten Geschäften für sie eingetroffen. Um sieben kam dann die Stiftskutsche, um alles miteinander abzuholen. Wenn Thekla kam, war es gründlich. Dem Kaffee folgte eine Crême, und vor der Abfahrt erschien noch ein Teppichbeet aus verschiedenfarbigen Brötchen, dazu Madeira in den alten geschliffenen Karaffen. Mit kleinen Variationen, aber doch unwandelbar in der Grundform. Und Thekla rechnete damit. 34

Nun saß sie, glatt und glau und gutgepflegt, mit großen, gutgepflegten Händen hinter dem wohlbesetzten Tisch. Das streng geschnittene Tailormade, dessen Stil durch einen Spitzeneinsatz gemildert, wenn auch verfälscht wurde, der runde Straußfedernhut, eine Form wie sie Hofdamen bei Einweihungen von Krüppelheimen oder Magdalenenhäusern bevorzugen, denn in unerklärlicher Symbolik vereinigen diese Hüte Demut und Weltlichkeit, die Jubiläumsbrosche, den Namenszug der Stifterin in Diamantsplittern darstellend – all diese maßvolle Eleganz wirkte traditionell, und moderner Firlefanz mußte daneben erbleichen.

Ihre Exzellenz, deren Blick fürs Komische sie zu ihrem eigenen Unheil oft zu Vergleichen hinriß, fand ja nun, daß Thekla in ihrem Dunkelbraunen an ein gutpoliertes Privatautomobil erinnerte, auch deshalb, weil rasche Wendungen ihr, bei verhaltenem Schnaufen, Schwierigkeiten bereiteten.

»Marie Gabriele ist wohl wieder bei ihrem Idol?« sagte die Stiftsdame und fächelte sich nach der ersten Tasse.

»Die Gräfin ist sehr gütig für sie.« Ihre Exzellenz war innerlich ganz Gewehr bei Fuß.

»Ja,« sagte Thekla, »ich habe nun einmal Mißtrauen gegen Menschen, welche schielen; und paß nur auf, wenn die Rey über irgend etwas erregt ist, stellt sich ihr Blick schief nach innen. Schielen ist vielleicht zu viel gesagt, aber es hat etwas Unstetes. Sie hat dann etwas von einer Ziege.« 35

»Ich finde, sie hat interessante Augen, wie Seewasser, mal bläulich und grünlich, und wieder schiefergrau. Les yeux couleur du temps, nennen das die Franzosen.«

»Wenn du es sagst, werden sie's wohl so nennen. Mich erinnern sie an gekochte Stachelbeeren. Nun, das ist Geschmacksache. Aber ihre Allüren sind's, die mir auf die Nerven gehen. Wie eine Bojarenfürstin. Wenn man bedenkt, wie sie mit ihrem alten, verkrachten Vater in der Welt herumzog, in allen Spielhöllen, und wie der Alte in Monte Carlo starb, mußten seine Spielkumpane zusammenlegen, um das Begräbnis zu bezahlen. Ja, und dann diese Heirat mit Rey, der schon halb ramolli war, der alte Sünder, und nahm ja auch ein trauriges Ende . . .«

»Nun, sie ist jedenfalls ein großer Lebenskünstler, daß sie sich aus so schlechtem Material ein erträgliches Dasein zusammengerichtet hat.«

»Lebenskünstler,« sagte Thekla und nahm die dritte Vanillebrezel, »das ist ein Ausdruck, der sich meist mit krassem Egoismus deckt.«

Wenn Thekla sich mit Tugend gürtete, ließ sich Ihre Exzellenz leicht zu Aussprüchen hinreißen, die sie in ruhigen Momenten bereute. Aber noch hielt sie an sich.

»Liebe Thekla,« sagte sie, »ich glaube, man hätte gut getan, diese Kunst zu erlernen, statt Gobelinmalerei und Spitzenklöppeln.«

»Rede für dich, Benita, ich bin ganz zufrieden mit meinem Los.« 36

»Nun ja, ich glaub' es dir, Liebe; du hast es auch schön und friedlich in Ellernförde.«

»Gewiß. Das Zusammenleben mit Gleichgesinnten, die Freundschaft der Äbtissin, das Wohlwollen unseres geliebten Fürstenpaars . . .«

Frau von Alweyden schenkte wieder ein. »Nun ist ja auch Felix zurück,« begann die Stiftsdame ihre zweite Attacke. »War er bei dir?«

»Ja, gestern, aber wir waren aus. Aber die Veilchen sind alle aus Rüdigen, die brachte er mit.«

»Nun, bei der Rey werdet ihr ihn oft genug treffen. Er ist ja ihr Cavaliere servente. Im Sommer reitet er in Dreiviertelstunden von Rüdigen nach dem Jagdhaus; das spricht doch wohl Bände. Du weißt ja, die alte Hallersteinsche Baracke, höchst unkomfortabel – aber nun hat sie's schon den dritten Sommer.«

»Ja,« sagte Ihre Exzellenz.

Was würde Thekla erst sagen, wenn sie erfuhr, daß Gabri im Mai dort eingeladen war!

»Warum sich die beiden nicht heiraten, ist mir rätselhaft, nun, daß der unglückliche Rey, das Hindernis, gnädig erlöst wurde,« fuhr die Stiftsdame fort.

»Warum soll denn auch immer geheiratet werden,« sagte Frau von Alweyden.

»Ich frage mich in solchen Fällen, warum soll nicht!« Die Halspartie grad oberhalb der Stiftsbrosche, welche der alte Stiftsarzt Theklas »Kehlbraten« nannte, zitterte vor Erregung. »Aber vielleicht steckt die Hathorysche 37 Eskapade dahinter. Sie hat ja ein ganzes Jahr mit ihm in Dalmatien auf der Villa gesessen. Bis er starb. Eschenheims sahen sie dort zusammen und hörten sonderbare Geschichten.«

»Ja, es sind immer gute Freunde, die solche Sachen erzählen. Ich weiß nur, daß Hathory schwindsüchtig war. Wäre sie nicht gewesen, so wäre der arme Mensch in irgendeinem schmutzigen Hospital da unten verdorben und gestorben.«

»Gott, Benita, nimm's doch nicht gleich so. Ich wollte dich nur warnen, Gabrielens wegen.«

»Gabri ist kein Kind mehr und ich lasse ihr alle Freiheit, was ihre Freundschaften betrifft.«

»Ja, das tust du. Leider. Auch mit der Lektüre. Freilich, das ist heutzutage anders als zu unserer Zeit. Diese gräßlichen, nordischen Autoren! Dieser Ibsen! Sogar vor Blutschande macht er nicht halt. Ja, ich weiß schon, was du sagen willst. Daß wir doch alle in die Walküre gehen; auch der Hof. Aber das sind germanische Götter, und sie tragen Felle und trinken Met aus Büffelhörnern, und was sie singen, versteht man sowieso nicht. Aber diese norwegischen Interieurs, mit Blumentischen und Antimakassars, alles ganz spießig, und dazu dann Blutschande! Es ist zum Übelwerden. Die Herzogin geht kaum mehr ins Theater, und zu den Premieren schon gar nicht, da muß der alte Hohenstein immer erst berichten; denn man weiß ja nie im voraus, was für Spülicht man über den Kopf bekommen wird.« 38

Frau von Alweyden lachte ihr merkwürdig junges Lachen. Thekla war zu komisch, und zwar ohne es im geringsten zu beabsichtigen; und das war ja gerade das wahre.

»Ja, siehst du, Thekla,« sagte sie und wischte sich die Augen, »die Leute da im Norden leiden an zu viel Pastoren. Ich habe jetzt allerhand Skandinavisches gelesen, und da sitzen sie denn so eingeengt wie unter einer Käseglocke, und wer hält das aus! Natürlich müssen sie sich ab und zu erholen und da hat dann jeder seinen kleinen Sündenpfuhl, wo ihm wieder wohl wird. Denn sonst wären sie wie Enten, die immer auf trockenem Kies marschieren müßten, die armen Tiere.«

Die Stiftsdame richtete sich empor. Sie hatte große, blasse Buddhaohren, die sich röteten, wenn etwas sie erregte. Gern hätte sie der anderen eine Lektion erteilt, denn es war seinerzeit recht ausgiebig über Ihre Exzellenz skandaliert worden, und daß diese so frivol über Enten und Sündenpfuhle redete, hätte eine Abfuhr verdient. Aber man kann nicht den Kaffee und die Vanillebrezeln und alles, was sonst noch in Aussicht stand, am Tische einer Jugendfreundin verzehren und ihr dabei unangenehme Wahrheiten ins Gesicht sagen. So sagte sie nur: »Benita, es ist dir wohl nicht Ernst mit diesen Ansichten.«

»Doch, Thekla, du kannst es mir glauben, das ist so. Und da sind dann solche, die schlagen über alle Stränge und andere werden Mystiker und opfern sich, aber im Grunde ist's dasselbe.« 39

»Ja, wenn du diese überspannten Bibelchristen und Sektierer meinst, die übrigens auch aus dem Norden gekommen sind, die sind auch mir ein Greuel.«

»Nein, ein Greuel sind sie mir nicht. Es sind rührende Seelen und haben den Mut ihrer Überzeugung.«

»Ja, an Mut fehlt's ihnen nicht. Minchen Wendtheim und die Rabenau sind nun auch glücklich von der Epidemie erfaßt. Minchen verteilt Traktätchen an Droschkenkutscher, und die Rabenau ist ebenso verrückt. Neulich sagte sie zu Christian ›lieber Bruder‹, grad wie er den Tee servierte. Er hätte beinah das ganze Tablett fallen lassen. Ich bitte dich; ein Mensch in Plüschhosen, ja, gewiß, eine treue Seele, aber zu dem mein Großvater noch ›Er‹ gesagt hätte.«

»Der arme Christian! Das ist so dumm, daß man mit seiner Brüderlichkeit die anderen nur geniert. Als ich noch Recherchen machte für den Verein, da hab' ich oft gedacht: warum gießt mir nur die Frau nicht ihr Seifenwasser an den Kopf? Wenn ich so neben ihr stand und sie mit Fragen peinigte. Die Armen sind doch von rührender Langmut!« . . .

»Aber das muß doch sein, sonst erhalten Unwürdige unsere Gaben. Ich wende mich in solchen Fällen immer an Schwester Hermine; sie hat einen unbestechlichen Blick. Aber was ich dir noch erzählen wollte, Minchen ist ja nun wohl ganz von Sinnen. Neulich fing sie damit an, es sei Christenpflicht, sich um diese schrecklichen Personen zu kümmern – du weißt schon . . . ›unsere gefallenen Schwestern‹, sagte sie, und wollte erbauliche Abende einrichten, 40 so Betstunden mit Tee . . . unsere arme Äbtissin! Sonst schützt sie immer ihre Taubheit vor, wenn sie etwas nicht hören will, aber dies war denn doch zu toll. – ›Sind Sie Stiftsdame, liebes Minchen, oder wollen Sie bei der Heilsarmee eintreten?‹ Ja, so sagte sie. Warum können sich die Menschen nicht mit der Landeskirche begnügen! Unser Superintendent ist doch ein prächtiger Mann. Und so maßvoll. Die Religion in der Kirche. Ja, und natürlich ein christlicher Lebenswandel. Aber sonst – ganz Gentleman. Wäsche und Stiefel tadellos. Darum versteht er uns auch. Denn man hat andere Anfechtungen als eine Waschfrau.«

»Ja, meinst du? Mir kommt oft vor, als sei kein großer Unterschied. Nur ein bißchen anders kostümiert. Und vielleicht nicht so ehrlich.«

»Wie du wieder redest, Benita. Aber das ist dein Widerspruchsgeist. Immer weiß, wenn alle anderen schwarz sagen. Gerade wie Maximilian Harden.«

»Oh, Thekla, du kannst ja ganz witzig sein. Erzähl weiter von eurem Grand-aumônier

»Was das nun wieder für ein Wort ist! Ja also, er soll ausersehen sein für den Dom. Ich hab' es immer gefürchtet, daß man ihn uns nicht läßt. Er hat ja auch die gesellschaftlichen Formen dazu. Ja, und dann daneben solche Tränenweiden, wie diese Konventikler, zu denen Minchen geht. Neulich kam einer, wegen Beiträgen. Ich sage dir, wie aus Oberammergau, nur noch schlimmer. Und immer so herzlich. Das kann ich nicht ausstehen. Aber Minchen 41 ist ganz wie besessen. Und nun noch dies Getu' um solche Geschöpfe. Diese Kloaken gehen uns doch wirklich nichts an.«

»Ach,« sagte Ihre Exzellenz. Sie war blaß geworden und sah vor sich hin, in die Ferne. »Es hat doch alles immer einen Anfang gehabt; wenn man mehr wüßte, würde man anders urteilen. Und dann gibt es wohl Frauen, die sind wie Akazien, so voll Honig, und da kommt alles an sie heran . . .«

»Benita!« Die Stiftsdame hatte jetzt etwas von einem Schaukelpferd, und ihr Korsett knarrte leise bei jedem Atemzug, wie ein Sattelgurt.

Frau von Alweyden fuhr zusammen, einem Schlafwandler gleich, der beim Namen gerufen wird.

»Ach,« sagte sie und fuhr sich über Augen und Stirn, als sei da eine photographische Aufnahme, die sie wegwischen müßte, »bei Akazien fällt mir immer ein: wenn ich als Kind nach Rüdigen kam und Onkel Wichart mich an der Bahn abholte, fuhren wir durch eine lange Allee, Linden und Akazien. Und dann sagte Onkel allemal: ›Benita, möchtest du Lindakazia heißen oder lieber Akazialinda?‹ Der gute Onkel Wichart!«

Sie lachte – ihre Stimme war noch nicht ganz klar.

Minna brachte die Punschcrême.

»Vorzüglich,« sagte die Stiftsdame. Süße Speisen hatten einen glättenden Einfluß auf ihre Stimmung. »Was du doch für Rezepte hast! Unsere gute Äbtissin sagt immer zur Köchin: ›Lassen Sie ruhig ein paar Eier 42 weg, es brauchen nicht so viel dran wie im Buch steht, das merkt niemand‹; ja aber man merkt es doch.«

Sie vertiefte sich in ihren Glasteller.

»Willst du denn nie wieder nach Rüdigen gehen? Felix hätte dich doch ruhig dort wohnen lassen können.«

»Er hat es mir oft angeboten. Aber ich wollte nicht.«

»So! Schade. Du hättest vielleicht einen guten Einfluß auf ihn gehabt.«

Frau von Alweyden merkte, wie das Thema Sylvie von neuem in der Ferne sichtbar wurde. Wie jene kleine Kirche beim Gotthardübergang, die bei jeder Tunnelwindung immer wieder auftaucht. Wie seltsam, dachte sie, daß ein leidlich gebildeter Mensch, der wie Thekla in guter Gesellschaft aufgewachsen war, so erstaunlich taktlos sein konnte. Und sie gedachte mit einem kleinen Seufzer jenes Aufenthalts in England, vor vielen Jahren, wie sie da in großer Herzensnot bei Constance Seymour wohnte, wochenlang, und niemand fragte und niemand sich den Kopf zerbrach, ob sie Frau war oder Witwe, ob sie reich war oder arm, warum sie kam und warum sie wieder fortging. Oh, sie hatte oft innerlich gefroren, unter diesen tadellos diskreten Menschen; aber sie war niemals wund gerieben worden, wie in der Heimat, durch jene unerbetene Teilnahme, die meist nur Neugier ist.

Sie lenkte ab und begann, nach diesem und jenem zu fragen. »Gestern war ich bei der kleinen Hohenstein,« berichtete die Stiftsdame und lächelte vielsagend. Wie so viele alte Jungfern liebte sie es, sich über 43 Schwangerschaften zu ergehen. »Sie ist sehr selig. Denn der liebe Gott will ihr ja nun Ersatz schenken für den kleinen Engel, den er vor einem Jahre zu sich nahm.«

Ihre Exzellenz war doch schrecklich nervös. Sie klirrte mit ihrem Teelöffel. Sentimentalitäten konnte sie schon gar nicht ertragen. Besonders nicht dies Gemisch von Frömmigkeit und Augenzwinkern.

»Ich finde, es wäre besser gewesen, Else Hohenstein den kleinen Engel zu lassen; dann wäre kein Ersatz nötig. Ich nenne das Materialverschwendung.«

»Benita! Es gehört meine ganze Freundschaft dazu, so etwas anzuhören. Wenn ich daran denke, wie der unvergeßliche Ruhbaum uns vorbereitete. Wie fest warst du im Glauben. Beinah fanatisch. Selig sind die reinen Herzens sind – unser Konfirmationsspruch, Benita! Und aus Gottes Hand kommen die Kinder und er nimmt sie wieder zu sich; das ist unsere Zuversicht, oh, liebe Benita, und ist auch hoffentlich die deine. Denn das war damals doch dein einziger Trost.«

»Ja, sie mögen aus Gottes Hand kommen,« sagte Ihre Exzellenz, ihr Haar hatte sich verwirrt, ihre Augen waren sehr groß in dem schmalen Gesicht, »und wenn ihre Zeit erfüllet ist, müssen wir uns wohl bescheiden, und man tut's, so gut man eben kann. Aber sage mir nicht, daß es eine Mutter gibt, und sei sie auch noch so fromm und ergeben, die nicht über glühendes Eisen ginge, um ihr verlorenes Kind auch nur eine Minute wieder ans Herz zu drücken. Ja – aus Gottes Hand . . . aber es gibt auch 44 Kinder, die werden in Angst und Kummer getragen, und viele müssen wie Blümchen in Kellerlöchern verkümmern. Sieh mal, Thekla, da ist oben bei Geheimrats das Annchen, also die ist in Umständen. Aber heiraten können sie nicht, er ist Soldat, blutjung, und sind beide arme Mäuse. Neulich Nacht, wie das Gewitter war, kam sie heruntergelaufen, sie dachte, wir fürchteten uns. In Hemd und Röckchen war sie, oh, so schöne milchweiße Schultern, ich sag dir, wie die Venus von Milo. Und so gesund: diese Zähne, dies Haar! Und dabei wäscht sie und mangelt und trägt die schweren Körbe all die Treppen hinauf. Neulich wollt' ich mit anfassen, aber sie lachte mich aus. Was für eine Stammutter könnte die sein! Aber nun muß sie das Kind in der Anstalt bekommen, und dann wollten sie ihr die Milch vertreiben, daß sie wieder in Dienst gehen kann. Aber da hat Gabri mit Sylvie gesprochen, und die wird sie zu sich nehmen, mit dem Kind, erst mal auf ein Jahr . . . und später hilft sie ihr dann weiter. Und da erzählst du mir nun Geschichten von ungarischen Künstlern, und ich weiß ja nicht, ob du recht berichtet bist, aber wenn's wahr ist, so sage ich, laß die Toten ruhen; denn vielleicht ist gerade das der warme Fleck in Sylvies Herzen wo das Erbarmen gewachsen ist für das arme Ding da oben. Ja, Thekla, der Spruch von dem reinen Herzen ist wohl schön, aber der von den Barmherzigen, mein' ich, ist schöner.«

»Gott, Benita, rege dich doch nicht auf. Man meint ja, du seist ein Volksredner. Gewiß, es gibt Ausnahmen. Und es ist ja sehr hübsch von der Rey, wenn's auch weiter kein 45 Opfer für sie bedeutet. Aber es gibt auch Säuglingsheime, wo sogar die Mütter aufgenommen werden.«

»Ach, du redest immer von Wohltätigkeit. Das ist alles so säuerlich. Immer wird vom Familienleben und vom Mutterauge gepredigt. Und mit Recht. Aber wer zu arm ist, um sich winters ein Zimmer zu heizen, kann trotz aller Mutterliebe sein Kind nicht großziehen.«

»Nun, es ist leider vieles mangelhaft auf diesem Prüfungsstern,« sagte Thekla und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, »aber deswegen muß man doch an gewissen Grundsätzen festhalten. Ohne zu wanken. Denn es geht eine erschreckende Haltlosigkeit durch die Welt. Wohin geraten wir, du grundgütiger Gott! Ohne feste Grundsätze werden die Menschen zu Tieren.«

»Ja, die Tiere, mit denen hab' ich's immer gehalten. Im Grund sind sie reiner als wir. Ach, und so jammervoll! Solche Katze, die ihr Junges im Maul fortträgt, von Versteck zu Versteck, daß es nur die Menschen nicht finden.«

Es waren Tränen in ihrer Kehle. Sie hielt inne. Das war alles nichts für Thekla. Schweigen war immer besser als Reden.

Brötchen und Wein standen auf dem Tische. »Eure Minna ist schon eine Perle,« sagte die Stiftsdame; »da ist leicht haushalten für dich.«

»Ja,« sagte Frau von Alweyden, »ich glaube, ich könnte ohne sie nicht mehr leben. Und ich predige es auch immer an Gabri: eine rechte große Liebe und gute Dienstboten, wer das hat, ist gefeit.« 46

»Nun, nun, vergiß das Beste nicht,« sagte die Stiftsdame; aber sie wollte keinen neuen Streit entfachen, auch waren die Brötchen absorbierend in ihrer Mannigfaltigkeit. »Freilich, um Minna möchte man dich beneiden. Die ist noch vom alten Schlag. Aber heutigentags! Das kennt kein Maß und keinen Unterschied. Zum Beispiel, meine Alma wünschte sich Wäsche. Ich schenkte ihr Nachtjacken. Bestes Hemdentuch, sehr nett festoniert an Ärmeln und Kragen. Neulich hängt die Wäsche im Garten, ich sage, Alma, ich seh' ja gar nicht Ihre Nachtjacken . . . Da sagt sie, die hab' ich meiner Mutter geschenkt, Nachtjacken trägt kein Mensch mehr, die sind unjugendlich!! Ich bitte dich, wo geraten wir hin wenn es so weiter geht!«

Minna meldete den Wagen; nun begann, was Frau von Alweyden die Ankurbelung nannte. Allerlei Hüllen und ein großer Fahrmantel, der Gemeingut der Stiftsdamen war, wurden umgetan.

»Wie geht es denn dem treuen Fridolin Wencken?« fragte Thekla, schon im Flure, den sie beinah ganz ausfüllte.

»Er ist auf mehrere Monate nach England, um sein Englisch zu perfektionieren,« sagte Frau von Alweyden. »In seinem Ingenieurberuf ist das sehr wichtig.«

Himmel, dachte sie, jetzt wollen wir aber Schluß machen. Denn das Kapitel Wencken war auch so ein Schwemmteich, wo Thekla nie ein Ende fand. Ein Kuchenpaket wurde ihr in die Arme gelegt, wie auch alle Veilchen, die auf dem Teetisch gestanden hatten. Wie immer, wenn sie sich von 47 ihrem Temperament hatte hinreißen lassen, empfand Ihre Exzellenz den Wunsch, durch doppelte Freundlichkeit alles wieder gutzumachen: »Lebe wohl, liebste Thekla, schön, daß du mal wieder hier warst, empfiehl mich allen Damen und komm bald wieder,« sagte sie, mehr höflich als aufrichtig; aber das Schrecklichste wäre doch gewesen, im Unfrieden auseinander zu gehen. Und noch dazu mit einem Gast!!

Kaum war der Wagen fortgerollt, erschien Gabri.

»O du Spitzbube,« sagte die Mutter. »Wie die Königin der Nacht aus der Versenkung. Hast du auf der Straße gestanden, daß du's so genau abgepaßt hast? Kind, es war schrecklich, und ein andermal laß ich dich nicht von meiner Seite. Ach, das liebe Ellernförde, und die Äbtissin, wie aus einem Walter Scottschen Roman, wenn sie da in der Rüsterallee so auf und nieder geht. Und diese Gemeinschaftlerinnen sind ja rührende Seelen. Zu komisch, wenn sie im Saal, in all der verblichenen Pracht beim Tee sitzen, alle hübsch hochherauf und fein und schmächtig, – bis auf Thekla – und über ihnen an der Wand die alten Schwerenöter von Kurfürsten – oder waren's gar Bischöfe – und ihre fetten, tiefdekolletierten Mätressen, die, um mit dem Himmel ins Lot zu kommen, solche Stifte gründeten mit ganz engherzigen Statuten. Ich muß immer lachen bei diesen halbgeistlichen Tees. Und ich geh doch so gerne hin, denn ich genieße das alles. Besonders wenn sie die Spieluhr aufziehen. Das klingt so uralt. Eigentlich zum Weinen. Aber Thekla verdirbt mir allemal die Stimmung mit ihren 48 ewigen Fragen und Sticheleien. Und überhaupt diese Besserwisserei in Religionssachen! Grad wie die Jean Maria Farina's, jeder meint, er allein hat das echte Rezept. Aber dem einen riecht nun einmal Glockengasse besser und dem andern Jülichsplatz. Ach, daß auch Thekla gerade hierher kommen mußte! Sie stammt ja aus der Priegnitz. Da gehörte sie doch nach Heiligen Grabe: La Chanoinesse du Saint Sépulcre...«

»Arme Mammina,« sagte Marie Gabriele. »Du siehst aus wie ein aufgeplustertes Vögelchen.«

»Nein, anders; wie gekochtes Löschpapier. Gib mir ein Glas Madeira. Ich möchte Exzesse begehen. Ich habe an mich gehalten, aber es war schwer. In meinem Herzen kochte die Galle. Die gute Grandmoutier – amüsante alte Kröte – sagte einmal zu mir: ›On me dit méchante; Dieu, comme le monde exagère; moi qui ne dis jamais qu'un quart de ce que je pense.‹ So war's heut mit mir. Das Ärgste sind doch immer die Selbstgerechten. Wieviel genießbarer wäre Thekla, wenn sie sich beizeiten einen kleinen Sündenfall gegönnt hätte.«

»Ja, Mama, du hast so Theorien . . . wenn ich sie nun befolgte?«

»Ach Kind, ich will's dir nicht wünschen. So etwas wird mit viel Leid bezahlt. Aber was die Seele häßlich macht, sind andere Dinge. Und ich glaube, das arme Mädel oben würde mit ihrem kleinen Kind im Arm besser dastehen vor Gottes Angesicht als Thekla mit ihrer Tugend und allem Brimborium.« 49

Denn Frau von Alweydens Vorstellung der Gottheit war ein seltsames Gemisch von Zeus und Wotan in ihren liebenswürdigeren Momenten, und auch die Erinnerung an breitschultrige Münchener Chauffeure, die zu allem sagten »is scho' recht«, floß damit zusammen. Sie war daher voller Zuversicht.

 


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