Irene Forbes-Mosse
Gabriele Alweyden oder Geben und Nehmen
Irene Forbes-Mosse

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V.

Ja, und dies war Rüdigen. Rüdigen, von dem die Mutter erzählte, wenn sie, in Andenken kramend, Daguerreotypen und Miniatüren in kleinen, verschabten Lederfutteralen öffnete, die über die Krinolinenzeit und die Zeit der Gigotärmel und hohen Kämme zurückreichten bis zu den gepuderten Urgroßtanten, die am Spinett oder Stickrahmen oder, ein kleines, kleines Hündchen im Arm und einen großen, großen Muff auf dem Schoß, im Muschelschlitten saßen. Dies war Rüdigen, in dessen Haus und Garten sie selbst, Marie Gabriele, ein Kind, bräunlich, mit schmalem Kopf, wie eine reife Haselnuß, jahrelang ihr Sommerdasein geführt hatte. Im ganzen schon verschwommen, aber mit haarscharf umrissenen Einzelheiten, konnte die Erinnerung daran sie manchmal wie Heimweh überfallen; denn wo wir als Kinder zum erstenmal der Erde nahe gewesen sind, dorthin verlangen 70 immer wieder, bewußt und unbewußt, die Wurzeln unserer Herzen.

Nun ging sie in einem Erkennen, das doch auch Überraschung war, durch die Lindengänge, grünschattig, während auf den Gartenwegen die Sonne brannte und die Schmetterlinge mit kaum zitternden Flügeln auf dem heißen Kies ausruhten. Sie kam an die Plätze und Kreuzungen, von denen Frau von Alweyden mit der Selbstverständlichkeit redete, wie andere Leute von Trafalgarsquare oder Piazza di Spagna; wo Pomona und Flora und Ceres, vermoost und verwittert, mit ihren Attributen, in grüne Hintergründe verschmolzen oder wohlig in der Sonne standen auf den Rondellen, wo das Gras am Sockel emporwuchs, weißschimmernd von wildem Kerbel; sein Honigatem stand still in der warmen Luft. Hier gab es Birken, alte, mit rissigen Stämmen, junge, seidenglatt, und der Nachwuchs, niederes Gebüsch, der wilden Kaninchen Zuflucht . . . Dann ging es in Heide über, eine uralte Föhrenheide, wo in den Wipfeln unzählige Krähen nisteten.

Der Fliederblust war vorbei, denn es war früh Sommer geworden, aber der Buchs blühte schwefelgelb und die Bienen waren bei der Arbeit. Doch wie große Brautbuketts standen die Jasminbüsche, und wie die erste Duftwelle über sie kam, so bezwingend, kam auch jene träumerische Kinderzeit über sie, die Knie wurden ihr matt und Tränen schossen ihr in die Augen.

Sie waren von Eichenkamp herübergefahren; Sylvie kutschierte. Erst durch jungen Eichenwald, der noch 71 durchsichtig war, denn die Eichen sind am säumigsten mit der Gewandung, dann durch Föhrenbestände, endlos und totenstill über ihrem Teppich von Heidelbeerkraut; man hörte die unsichtbaren Mücken in den Wipfeln summen. An Feldern fuhren sie vorbei, wo die junge Saat in jedem Lufthauch schauerte und die Gräben golden waren von Löwenzahn und Butterblumen; dann waren sie in die Lindenallee eingebogen und durch ein Dorf gekommen, am Teich mit seiner Gänseherde vorbei, eine Mauer entlang, immer noch im Lindenschatten, nun ein Tor, und sie fuhren hinein; wie schön Sylvie den Bogen nahm! Sie hielten vor der runden Freitreppe, Felix stand barhäuptig, hinter ihm der alte Wendt, und sie gingen die flachen Stufen hinauf, und hinein in das alte, freundliche Haus, das Marie Gabriele so manches Mal im Traume wiedergesehen, dessen Gänge und Treppen sie betreten hatte, geführt vielleicht von den Toten, die ehemals dort geherrscht und gelitten und von denen ein jeder ihr einen Tropfen Lebenssaft geschenkt hatte.

Der Gang durch den Garten war zu Ende. Man saß im Gartensaal zu ebener Erde. Gabris Augen wanderten über die gemalten Tapeten und fanden in den blauen Landschaften mit Palmen und Elefanten, mit dem kleinen Angler im Kahn und dem Entenpaar, das so viel größer war als die Elefanten, alte Bekannte wieder. Sylvie schenkte Tee ein und sprach rasch und ein wenig krampfhaft; dabei bekam sie den schrägen Blick, den Thekla Granstedt rügte und der raffinierten Menschen reizvoller 72 schien. Gabris Melancholie durfte nicht aufkommen; besser also, der Sache gleich auf den Grund gehen, dachte sie. Sie nahm gern geistige Kaltwasserkuren an ihren Schützlingen vor, es ist ja nicht schwer, in anderer Menschen Seele philosophisch zu sein; aber ihr starker persönlicher Einfluß kam dazu, der schon manchen über Stellen weggehoben hatte, wo das Terrain ihn einzuschlucken begann. Immer die jungen Katzen beim Genick fassen, dachte sie. Sie strich mit ihrer schönen, starken Hand über Gabrieles Arm. »Geh jetzt mit Felix,« sagte sie, »feiere Wiedererkennen; du kannst ihm gewiß viel erzählen von hier, was er nicht weiß.«

So gingen sie nun die Holztreppe hinauf, weißgescheuert – es war ja auch hier alles ganz einfach, und gerade darum so schrecklich lieb –, die auf einen sonnigen Vorraum mündete, und dann kamen stille, kühle Zimmer nach dem Garten und stille, sonnige Zimmer nach dem Hof . . . Ihre gemeinsamen Urahnen blickten von den Wänden, freundliche, gepuderte Herren mit hübschen, reich gekleideten Frauen und Kindern, alle mit dem Zug um die Lippen: débonnaire, leise belustigt. Landedelleute, Höflinge und Diplomaten zumeist, hatten sie auf Reisen und an fremden Höfen der Musik und den schönen Frauen gehuldigt und waren dann mit mancherlei Erinnerungen und Narben heimgekehrt, wo ihnen ein freundliches Familienleben die Seele wieder glattgebügelt hatte. Da war einer im roten Samtpelzchen mit freundlich verschwommenen Zügen . . . Er hatte ein Notenblatt 73 in der Hand und stützte seine berühmte Geige aufs Knie; daneben seine polnische Gattin, die schöne, intrigante Barbara, die auf dem Wiener Kongreß eindeutig geliebt und zweideutig politisiert hatte; auf seiner anderen Seite ihre Nachfolgerin, die reizende und kinderreiche Charlotte, von der das Kuchenrezept stammte und die alten Tischtücher, in welche die ganze Geschichte des Telemach eingewoben war. Oh, und dort, ganz am Ende der Zimmerflucht war ja auch »der Verschwender«, der lächelnd auf seine umgedrehten Taschen wies, neben ihm auf einer Säule, halb aufgerollt, der Plan des festlichen Rokokogartens, den er wegen Geldmangels nicht hatte ausführen können; bis auf die steinernen Götter, die aus Italien gekommen waren und später dann, ohne Wasserkunst und Lorbeerwände, mit Birken und Buchs fürlieb nehmen mußten.

Marie Gabriele war ganz rot geworden. Ach, das ganze Traumland war noch da, wie würde Mammina sich freuen, es war nichts zerstört. Sogar die roten Gardinen mit Bordüre à la grecque hingen noch, etwas fadenscheinig, im mittleren Saal, und der alte Wiener Flügel stand an seinem Platz, von dem die Sage ging, Beethoven hätte darauf gespielt.

»Du hast dich wohl gefürchtet vor dem Wiedersehen,« sagte Felix und sah sie etwas amüsiert von der Seite an, »aber Kleines, ich bin doch nicht der Vandale, den du dir vorstellst. Beruhige auch deine entzückende Mutter. Gott, was war sie reizend. Ich hab' ihr als Schulbub einmal den Kleidersaum geküßt; sie kam gerade die Treppe 74 herunter in einem Sonnenstrahl . . . Und ich täte es heute wieder, denn sie ist noch reizender geworden seitdem. Also Cuginetta, es ist alles noch so, wie's war. Möbel haben ein Anrecht auf ihre alten Winkel, grad wie alte Hunde; man darf sie nicht daraus vertreiben. Und die Bilder müssen hängen bleiben; die alten Tapeten müßten sich ja sonst genieren. Da, über dem Sekretär hast du Tante Sibylle, die hat mich ganz fasziniert, sie sieht aus wie eine »femme fatale«. Wendt hat mir die Geschichte erzählt, wie sie sich auf einer Badereise mit einem interessanten Fremden verlobt hat und immer mit ihm getanzt hat, Mutter und Tanten waren auch ganz weg von ihm. Und dann, kurz vor der Hochzeit, stellte sich's heraus, daß er der Henker war in einem Nachbarstaat. Zur Zeit der Postkutschen war so was noch möglich. Wie ein Heinesches Gedicht.«

»Ja,« sagte Gabri und starrte die dunkelgescheitelte Frau an – sie erkannte das Bild nach einer Photographie, die Frau von Alweyden besaß – »und dann war sie jahrelang steinunglücklich und suchte einen Lebenszweck, und da heiratete sie Pastor Übelacker, er war Witwer und hatte acht Kinder, die sie erzog.«

»Das denke ich mir schrecklich, von ihr erzogen zu werden. Sie hat so was elegisch Erhabenes; wie die Sonate Pathétique. Gabri, wir sollten eine Familienchronik schreiben. Du übernimmst den Text und ich mache die Illustrationen. Gibt es ein Bild von dem geistlichen Herrn?« 75

»Ich glaube nicht. Aber Onkel Wichart hat ihn noch erlebt und nannte ihn den Truthahn Gottes, weil er immer so kollerte. Ja, und Tante Sibylle soll unausstehlich gewesen sein.«

»Nun, bei solchen Schicksalen! Erst den Henker und dann den Gottesacker. – Aber sieh dich um, es ist noch alles wie früher. Sogar die Klingelzüge. Obgleich sie sämtlich in den Himmel klingeln; denn es antwortet niemand darauf. Aber die elektrischen Drähte merkt man nicht, und die Wasserleitung nehmen mir Wendt und Miene auch nicht weiter übel.«

Sie lachte und wurde rot. Ach, er war gut und behaglich, wenn er auch immer ein bißchen frozelte, aber das war nicht schlimm, und mit dem leise süddeutschen Klang seiner Stimme hatte es etwas Einschmeichelndes. Sie hatte ihn sich anders gedacht, gräßlich verwöhnt und alles ein bißchen verachtend, nach dem interessanten Leben im Ausland.

Sie gingen wieder hinunter. Auf halber Treppe blieb er stehen: »Ja, hier rechts habe ich angebaut,« sagte er, »aber von außen merkt man's kaum; nur ein Atelier, denn ohne das kann ich nicht sein, und die Bibliothek ist herunter transportiert worden, um sie zur Hand zu haben. Das ist aber mein einziges Verbrechen.«

Sie traten ein. Ein heller, ziemlich kahler Raum. Große Tische, eine Presse für Radierungen und in einer Ecke ein Diwan und ein Gestell für Mappen. Auf der Staffelei eine begonnene Landschaft, grau und flimmernd: 76 ein verwittertes Altärchen an einer Mauerecke, Zypressen, eine Schafherde im Staub vorüberziehend. Er verfertigte alljährlich eine ziemliche Anzahl solcher Landschaften; geschmackvoll, etwas stereotyp; sie gehörten zu den Bildern, die in Besprechungen mit dem unkompromittierenden Etikett »fein empfunden« bedacht werden.

»Heimwehprodukte,« sagte Felix. »Ich habe lange in Toskana gelebt und das ist eine schlimme Sache; denn man will immer wieder zurück.«

»Ich war auch dort,« sagte Marie Gabriele und wurde wieder rot. »Dreimal waren wir in Florenz, Mammina und ich, immer von Oktober bis Mai.«

»So,« sagte er interessiert und machte ihr einen Sessel frei, »das mußt du mir erzählen. Man ist doch gleich wie Freimaurer miteinander, wenn man dort gelebt hat. Wo habt ihr denn gewohnt?«

»In einer Pension in Via Serragli,«sagte sie schüchtern, denn nun sollte sie ja ihre kleine Schatzkammer auftun; »du weißt, auf der Seite wo es noch so alt und kurios ist. Es ist da auch viel billiger. Das Haus hat früher dem Sacré-Cœur gehört, und noch früher war's ein Palazzo, die Zimmer riesenhoch und so schön gemalt, rosa und gelb und silbergrau, aber der Stuck fiel herunter und die Kamine rauchten fürchterlich. Oh, wie haben wir da gefroren, aber Mutter konnte sich nicht entschließen, von den alten Geschwistern fortzugehen, Signor Ettore und Signorina Erminia und Cesira; sie hatten einen uralten kleinen Hund, la moschina, mit einem Kropf, und dazu trug er ein 77 blaues Perlenhalsband. Auf dem Eßtisch standen Gläser mit Goldfischen, und Sonntags wurde ein Buch herumgereicht, il paradiso del Dante, aber es war eine Attrappe, und es waren kandierte Früchte darin.«

Felix lachte. »Oh, ich sehe das ambiente vor mir, es waren gewiß rührende Seelen; man trifft dort noch auf Menschen wie aus Legendenbüchern. Aber sag mir, ist es nicht bezaubernd? Wenn man dort lebt, wird's einem nicht einmal bewußt, es ist alles so selbstverständlich . . . Eine abgeschrägte Straßenecke, die etwas vorspringt, eine Brücke, wie die ausgreift, und wie die alten Gebäude sich ineinander schieben; all die orangegelben, vermoosten Ziegeldächer, die eigentlich lauter halbierte Blumentöpfe sind – oder wenn ein Arbeiter auf einem Mäuerchen in der Sonne liegt, mit seinem Brot und Wein: ›FFavorisca‹, und dazu eine Handbewegung von unnachahmlicher Grazie. Und was haben sie alle für anständige Fußgelenke und die Köpfe so schön aufgesetzt. Bist du auch ordentlich ins Land hinausgekommen?«

»Ich ging in eine englische Schule,« sagte Marie Gabriele, »und ich blieb über Mittag dort; es war sehr weit von uns, und Mama malte den ganzen Tag in der Galerie. Abends waren wir beide müde, dann saßen wir bei unserem Kamin und verbrannten kleine Bündel Rebenholz und Lorbeer, das knisterte und roch so gut – und dann las ich Tauchnitzromane vor, da war ein ganzer Glasschrank voll, und Mammina flickte unsere Sachen. Nur Sonntags, da gingen wir in den Boboligarten, der 78 war ganz nah und wir liebten ihn beide über alles – oder zu Porta Romana hinaus, da war das Land so weit und einfach; Mama hatte englische Freunde dort, in einer Villa . . . Ach ja, Felix, das war wohl das Schönste, wenn man so weit ins Land sah und alles ganz silbern, nur die großen Pinien bei den Bauernhöfen . . .«

»Und weißt du noch, die Artischockenfelder,« sagte Felix, »wenn die wilden Tulpen dazwischenstehen, und im Herbst wieder, die roten Weidenbüsche: Tizian! Aber erzähl noch, was du erlebt hast, was dir am meisten Eindruck gemacht hat.«

»Ja, Felix, die Bilder und die Kirchen, davon verstand ich nicht viel. Am schönsten war's in den Klosterhöfen, wenn Mutter dort malte. Ich brachte ihr etwas zu essen, und wenn ich frei hatte, blieb ich und saß auf dem Mäuerchen, es kamen immer so viel verhungerte Katzen, denen bracht' ich Knöchelchen mit von all den Pollos, die es in der Pension gab. Was war es still in den Kreuzgängen, die Lorbeerbüsche rochen so stark, wenn eine Türe ging, hörte man das Singen der Priester, immer auf einen Ton, wie Bienen. Ich las die Worte auf den Grabsteinen, alles so pomphaft, aber einen hab' ich nie vergessen, da stand nur: à une femme qui fut tendrement aimée... Weiter nichts. Und ich dachte mir Geschichten aus, wer sie wohl gewesen sei und wie sie aussah; ja, Felix, es ist so merkwürdig, als ich Sylvie zum ersten Male sah, da mußt' ich plötzlich an die Inschrift denken, und daß die dort liegt ihr gewiß ähnlich war . . .« 79

Felix hatte den Kopf zum Fenster gewandt. Seine Stimme klang fremd, als er ihr antwortete: »Nun, wir wollen Sylvie lieber ein langes Leben wünschen.«

Gabri war verlegen. Hatte sie da wohl etwas Dummes gesagt? So fuhr sie fort, um den Eindruck los zu werden: »Sonderbare Menschen gab es dort. In unserem Palazzo, ganz hoch oben, auf dem Speicher, wohnte eine alte Russin. Signor Ettore brachte ihr jeden Tag eine große Schüssel Makkaroni oder Reis hinauf, davon lebte sie und ernährte auch noch eine kleine Zündholzverkäuferin und einen alten Ballettänzer – und dann hatte sie noch einen lahmen Hund und eine uralte Katze, die waren ihr zugelaufen. Auf ihrem Speicher standen zwei Soldatenzelte. Sie hatte sie erfunden und war sehr stolz darauf, denn die italienische Armee hatte ihre Modelle preisgekrönt und ihr die zwei geschenkt. In dem einen schlief sie und in dem anderen der alte Ballettänzer, aber der Speicher war so riesenhaft, daß die Zelte ganz klein aussahen, wie auf einem Feld. Sie war eine sehr vornehme alte Dame; überall standen Bilder von Großfürsten mit Unterschriften und Widmungen, und auch von Rubinstein und Liszt; sie hatte schöne kleine Hände und herrliche Ringe. Sonst freilich ging sie ganz ärmlich . . .«

»Ja um Gottes willen,« sagte Felix, »fror sie denn nicht zu Tode auf dem Speicher?«

»Ja, es war sehr zugig, denn über ihr waren ja nur die Dachsparren; aber sie hatte einen eisernen Ofen mit 80 einem Rohr wie ein Lindwurm, das ging quer durch die ganze Breite . . .«

»Hast du noch mehr solche interessante Bekanntschaften gemacht? Hier, nimm doch eine Zigarette!«

»Ja, da fällt mir etwas ein. Einmal, wie wir aufs Land fuhren, standen da soviel Menschen vor einem kleinen Kaffee in der Vorstadt; wir hörten eine hohe Stimme Triller und Rouladen singen. Nun wurden wir beide neugierig, Mammina und ich, und ließen halten, und da stand eine alte, ganz arme Frau und sang. Ganz fein und kümmerlich und ganz alt, aber solche Masse weißes Haar und die schönsten, schwarzen Augen. Neben ihr ging ein junger, einarmiger Mensch, er sah böse und verbissen aus, uns war, als ob sie Angst vor ihm hätte. Sie sang große Bravourarien mit ihrer gebrochenen Stimme, Casta Diva, weißt du, und solche Sachen. Ganz ohne Akkompagnement. Mama sagte, man könnte immer noch die große Schule erkennen, aber es war doch zum Weinen. Der Kutscher erzählte, sie sei eine alte Opernsängerin, die ins Elend geraten, der Einarmige sei ihr Enkel. Nachher gingen sie herum und sammelten. Mama sprach mit ihr und gab ihr zwanzig Lire. Da verneigte sie sich, oh, mit solcher Grandezza, die alte Frau, ich werde es nie vergessen. Mama schrieb ihr unsere Wohnung auf, denn ihre eigene wollte sie durchaus nicht sagen. Aber sie ist nie gekommen. Später hörten wir, sie sei gestorben. Mama konnte sich nicht trösten, daß sie die Adresse nicht dennoch ausgekundschaftet hatte. Ach, ich glaube, es gibt dort viele arme Menschen, 81 die fein und stolz bleiben in allem Elend. Da war unsere Signorina. Sie war herzkrank und mußte doch so hart arbeiten. Tagsüber gab sie Stunden und ging mit englischen Kindern spazieren, oh, wie müde war sie oft, und abends besserte sie alte Spitzen aus für die Antiquare. Sie hatte einen Bruder, er war Mathematiklehrer, sie war so stolz auf ihn. Damals diente er beim Militär. Und denk dir, eines Sonntags kam ich zu ihr, da stand er in Hemdärmeln in ihrer kleinen Küche und bügelte ihre Wäsche, damit sie es nicht brauchte. Sie lachten beide und fanden gar nichts dabei und dann mußte ich Vermouth di Torino trinken . . . Weißt du, das Land – und dann solche Menschen, die so einfach einander halfen ohne viel daraus zu machen, das ist's, was mir dort das Liebste war. Aber nun kannst du mich auslachen.«

»Nicht die Spur,« sagte er, »das Land hat eben tausend Fazetten, dem einen gibt es Michelangelo und dem anderen Olivenhügel, und noch einem eine alte Straßensängerin, die sich verneigt, wie eine entthronte Königin. Und jedes Geschenk ist echt, und eins ist ebensogut wie das andere. Das ist es, was uns alle zu Freimaurern macht. Aber dann wird man die Sehnsucht nicht los, und soll doch nach seinem Lande sehen und seine Bürgerpflicht tun.«

Durch die Fenster strömte Duft von Wiesen und Büschen. Der Gärtnerbursche klirrte mit den Gießkannen.

»Hier ist die Heimat,« sagte Marie Gabriele. Sie dachte nicht mehr an den Süden. Eine große Dankbarkeit gegen diese Erde, diesen Frühling zog durch ihr Herz. 82

»Die Heimat – ja; für dich wohl mehr als für mich. Denn du bist als Kind hier gewesen und ich kam so viel später. Wo man als junger Mensch gelebt hat, das ist immer die Heimat. Für mich war sie dort, wo alles silbern war und dürr und am Abend der Holzrauch durch die Straßen zieht. Aber undankbar bin ich nicht. Dies hat auch seine stillen Reize. Bescheiden und zuverlässig, wie es in Zeugnissen heißt.« Dann gingen sie beide zurück in den Gartensaal.

 


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