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Ihr Schüler hat mich besucht. Der mit den Aurikelaugen. Er sprach von seiner Wissenschaft und machte ein Gesicht dazu wie ein Sonnenanbeter. Er sollte vor einem Säulentempel stehn und Phöbus Apollo ansingen, und der Morgenwind bliese ihm durch die Locken.
Er kam von Ihnen, hatte Sie auf dem Kongreß getroffen und gehört; und mir war zu Mut wie einem Mohren im Norden, wenn er an einer Dattelkiste vorbeigeht und schnuppert, ob sie ihm den Duft seiner Oase bringt. Aber nach Ihnen gefragt hab' ich nicht. Ist mir's ja beinah ein Schmerz, Sie zu nennen.
Später am Abend ließ sich Else Silbergleit melden. 39 Als Mädchen hieß sie Krystaller. Ist das nicht hübsch? Prismen und klingende Glöckchen, nicht wahr? Oft sind jüdische Namen, als hätten Kinder sie sich erdacht, die viel Märchen gelesen: Aladdin und Sesam tu' dich auf, und das Geschmeide der Königin von Saba; so ein Geglitzer. In ihren finsteren Ghettos, freudlos, beengt, haben sie sich mit Namen geschmückt wie mit Blumen und leuchtenden Steinen. Die konnte ihnen keiner wegnehmen. Und solch armes, kümmerliches Frauchen, das ängstlich durch die Gassen schlüpft, irgendwo ist doch ein Mann gewesen, der hat »Blümche« oder »Sternche« zu ihm gesagt.
Frau Else Silbergleit war reizend angetan. Sie hat lang in Paris gelebt, und wenn sie sich in der Straße ein Sträußchen kauft und ansteckt, so hatte auch grade nur dies Sträußchen an grade dieser Stelle gefehlt zur Vollkommenheit.
Aber am schönsten wäre sie, wenn sie sich bloß in ein paar gelbe Tücher wickeln ließe. Hagar in der Wüste! Wie sie im heißen Sande kauert, stumm und lechzend, in ihrer weichen, arabischen Grazie, und plötzlich aufhorcht und die Quelle rieseln hört . . .
Diese alten Geschichten in der Bibel! Wie gut, daß wir sie lesen, wenn wir ganz jung sind. Darum 40 bleiben sie so farbig bis zuletzt. Die ganz alten, am Anfang, die goldbunten: Pfauen und schimmernde Gefäße, und Esther, die geschmückt wird und vor Assuerus steht. Und dahinter das Land mit großen ziehenden Herden. Die Weiden tränken ihr Gezweig in den Wassern Babylons, der Schatten des Feigenbaums malt sich auf der Mauer.
Unvergessen! wie Sonnenuntergänge, die man als Kind gesehn . . .
Heut will ich von jener Zeit, jener Kinderzeit, schreiben. Ob es auch »lückenhaft und ohne Zusammenhang« ist, wie's in den Zensuren hieß. Bilder tauchen auf, wenn ich so hindenke, Winkel in Zimmern und Höfen; eine Wiese, dicht beim Haus, es lagen kleine gelbe Birnen im Gras, süß und wurmstichig; da war eine große Schierlingsstaude, ganz silbern im Tau, am frühesten Morgen . . . Und in der Stadtwohnung, die Sonne auf der Stiege, die zum Boden führte, Millionen Sonnenstäubchen; man stellte sich mitten hinein, ganz blaß, mit großen Augen, wie ein Gespenstchen, das sich wärmen läßt. Und dann sind da ein paar freundliche Hunde- und Katzengesichter: ja, die waren immer voller Wohlwollen. 41
Ich war wohl selbst ein bißchen wie die Katzen, die immer einen Unterschlupf brauchen. Unter dem Tisch oder oben auf einem Schrank. Aber so recht wie sich's gehört an einem Tisch war ich selten zu finden, es sei denn während der Lektionen gewesen, wenn ich vor Verzweiflung die Füße wie Korkenzieher um die Stuhlbeine wand.
Géographie physique war das einzige Fach, für das ich ein – allerdings laues – Interesse zeigte. Das Buch war von außen grünweiß marmoriert, und es war darin von Walrossen, Eisbären und Pinguinen die Rede (ich erinnere mich nicht, den Nordpol und seine Umgebung jemals verlassen zu haben), deren Existenz mir, an meinem Schultisch festgeklemmt, unendlich beneidenswert erschien.
Aber entsetzlich war die französische Stunde. Die Grammatik hätte man sich noch gefallen lassen, obgleich das Passé défini in Mademoiselles Flötentönen noch extra antipathisch wirkte; aber da waren Madame Deshoulières und Madame Amable Tastu und wie sie sonst noch hießen; die hatten widerliche Sachen gedichtet von Lämmern und sterbenden Kindern und Kindern beim Abendgebet; das mußte man auswendig lernen. Ein Gedicht fing an: 42 »Ta douleur, Duperier, sera donc éternelle!...« das war mir in den Tod zuwider. Und die Reden Bossuets, die pianissimo anfingen, aber dann, von Zwischensätzen und Ausrufen wie von kleinen hinterlistigen Nebenflüssen gespeist und geschwollen, zu einem donnernden Wasserfall anwuchsen, dem dann bisweilen noch ein paar dumpfe Paukenschläge folgten: »Seht Ihr, so wird's gemacht.« Und Madame de Sévignés zierliche Mutterliebe, die wie eine kleine artige Bachstelze an reißenden Strömen entlang wippt . . . und dann Racine!
»Aux petits des oiseaux il donne leur pâture,
»Et sa bonté s'étend sur toute la nature...«
Das war alles so gräßlich wohlfrisiert und tugendhaft. Wenn ich derartige Bücher wieder wegstellte, sagte ich erst mal rasch aber innig: »Hole Euch der Teufel!« Das war wie ein Rache- und Reinigungsakt und tat meiner Seele wohl. Warum gab man uns nicht schöne, warmherzige Briefe und Memoiren zu lesen, oder Volkslieder, die einem ein Land menschlich so nahe bringen? Später wird ja auch das Kühle, Formvollendete vertraut, aber zuerst sollte man die Literatur da beim Wickel kriegen, wo etwas Gemeinsames, das heißblütige Mitgefühl, den Dolmetsch macht. 43
Es gibt Briefe aus der Revolutionszeit, wo tiefes Vertrauen, zarteste Scheu die Feder geführt haben; alle Kommentare sind überflüssig, sie sind verständlich wie Musik . . . auch das jüngste, noch gänzlich unversehrte Herz muß diese heilige Verzweiflung nachfühlen: »Mes cheveux me gênaient pour attacher la boucle de ma perruque; je les ai fait couper ce matin et j'ai pensé que peut-être ils se feraient plaisir. Il m'a paru juste qu'ayant les premiers cheveux de tes enfants, tu eusses les dernier de leur père...«
Und dann, all die Lieder, die das arme Volk sang; müde von schweren Fronen, in die weiche Dämmerung hinein, von tausend Sternen durchzittert wie von Tränen, die niemals niederfallen. O dieser Geruch von Erde und Gras und Nebel, von frisch gebacknem Brot, von schwälendem Holz . . . aber auch von Schweiß und sickerndem Blut . . . o, diese nur angedeuteten Bilder bekannter Dinge, die so viel eindringlicher zur Seele sprechen als alle blankpolierten Alexandriner.
»Au jardin de mon père
Il y a z'un pommier doux...
Vole mon cœur, vole!...« 44
oder das schauerliche Lied, das an unsre Ballade vom Herrn Ulrich gemahnt: »J'ai tant tué p'tits lapins blancs - Que mes souliers sont pleins de sang.« »T'en as menti, faux traître! Je vois, je vois à ta pâle couleur, - Que tu viens de tuer ma sœur...« Und das Wirkliche ist ja doch, was die Phantasie am meisten ergreift. Ein Sonnenstrahl verklärt, ein Mondenstrahl verhext es . . . Ja, aber wenn man näher hinsieht, wechselt Staunen mit Erkennen, und darin glaube ich, in diesem wogenden Gemisch von Fremdheit und Vertrautsein, besteht der höchste Genuß, den eine Dichtung geben kann. Aber ich weiß ja nur, wie ich es sehe, wie ich es fühle; andern mag es damit anders gehn.
Zu jener Zeit suchte ich mir gern kleine Separatwinkel, wo ich stundenlang, das Buch im Schoß, in der Nachmittagssonne sitzen und träumen konnte. Irgendwelche Ideen von Robinsonhütten lagen mir fern, es war nur solch herrliches Gefühl, ganz für sich zu sein; ein Hindämmern, eine totale Zeitvergeudung, und doch vielleicht der beste Teil meines Lebens.
Ich habe mehr solcher Winkel besessen; sowie sie von den Großen aufgespürt wurden, gab ich sie auf; ihr Reiz war dahin. 45
Der erste war in der Stadt, auf dem Speicher, dort, wo die Katzenmutter Graufell im Frühjahr und Herbst ein Nest voll Kätzchen betreute. D. h. im Herbst wurden sie sämtlich, wie die Niobiden, vernichtet. Aber im Frühjahr ließ man ihr zwei, denn Märzkatzen seien die klügsten, sagte die Köchin.
Graufell hatte ein Gesicht wie ein Stiefmütterchen. Katzen und Pensees, ja und auch Eulen, die muß Gott am selben Tag erschaffen haben. Auch Herr Fifi Finsterbusch, der Kater von Fräulein Gabrilowski, sah einem schwarzen Pensee ähnlich, dem feuerfarbne Spritzer einen Stich ins Dämonisch-Schildpattige verliehen. Seine Gattin war die sanfte Tina Mau. Während der Stunde hockte Fifi Finsterbusch, wie ein verkörpertes Scherzo, auf dem Notenschrank, neben Beethovens staubiger Büste. Tina lag auf Fräulein Gabrilowskis Schoß, die blaß und schmalschultrig und mit schwarzglänzenden Scheiteln, im gelben Ramagenschal neben mir saß. (Wie die Pikdame, sagte Mama, nur die Tulpe fehlt.) Sie hüstelte, sie schlug mit feiner, knochiger Hand etwas nervös den Takt: »Eins und, zwei und, es sind Synkopen; noch einmal, liebes Kind!«
Ja, also dort auf dem Speicher, bei dem 46 aufgestapelten Holz, das nach Wald roch, saß ich mit einem Buch, das mir bald vom Schoß glitt; denn die Strahlen, die durch die Luken drangen und im Dunkel die großen Katzenaugen anzündeten, stimmten mich schläfrig; bis dann der Abend selbst wie auf Sammetpfötchen kam, während die Alte schnurrend an mir herstrich, oder mit ihren Kindern zwischen den Holzpyramiden aus- und einschlüpfte.
Unten wurde nach mir gerufen. Aber ich sagte keinen Muck, saß wie gelähmt in meinem versponnenen Winkel. Auch gab es da allerhand Merkwürdiges, Spinnennetze, die von den Balken hingen und plötzlich aufglühten, schieferblaue Kapuzinertauben, die an den Luken vorbeitrippelten, wie kleine, ordentliche Damen mit Umschlagtüchern, und aus der Rinne tranken. Seitwärts auch, in einem Verschlag, allerhand Gerümpel, Vogelbauer, dreibeinige Sessel, alte Noten und eine zerbrochene laterna magica, Tapetenrollen . . . die dort wie etwas Entthrontes, Gekränktes in der Einsamkeit verstaubten. Aus den Nachbarhöfen kamen verworrne Töne, der Geruch von geröstetem Kaffee; und der Kutscher wusch die Wagenräder und pfiff ein Soldatenlied . . . alles schien auf einmal ganz fremd und interessant, so aus der Ferne. Ich 47 schlang die Hände um die Knie und hörte mein Herz schlagen, es war so still, die Sonne leckte meine eine Wange so heiß, die andre blieb kühl, im Schatten. Da war mir oft, als müsse nun etwas sehr Schönes, Verzweiflungsvolles geschehen . . . aber es geschah immer nichts.
Ein andrer Zufluchtsort. Das war auf dem Lande, unter einer Brücke, im Graben, der als Abzug diente, wenn der Teich im Frühling überfloß. Nun war der Teich aber viel kleiner geworden; Schilf und Ellern wuchsen immer tiefer hinein, Frösche und Salamander hatten dort ihr Reich. Zuweilen kam auch eine Schildkröte, von der spitznasigen Sorte, welche Schnecken frißt. Aber sie waren sehr scheu und ließen sich nicht fangen.
Unter der Brücke war's im Sommer ganz trocken. Fritz Pusenack, der Gärtnerjunge, hatte mir ein Bund Stroh hineingeschmuggelt, auch zwei Holzklötze, die waren Tisch und Stuhl. An den Wänden, auf dem Gesims vorspringender Balken, erfand ich eine seltsame Ornamentik aus Heidekraut-Girlanden und bleichen Hammelschädeln, die ich an einer entlegenen Stelle in der Heide gefunden hatte.
Diese Solitüde blieb lange unentdeckt, der 48 Eingang war von Brombeeren überrankt und der Ausgang mündete im Schilf. Wie ein Indianer, nach Blaßgesichtern ausspähend, schlich ich mit Haken und Umwegen zu meiner Höhle, um tief aufatmend nach überstandnem Wagnis ins Stroh zu sinken. O diese Stunden im Stroh, wie waren sie schön! Draußen in den Brombeeren summten stahlblaue Fliegen, es saß auch mal ein Laubfrosch auf einem sonnenglänzenden Blatt, man konnte sein kleines Herz klopfen sehn, und nach dem See zu hörte man's glucksen oder platschen. Eine Libelle kam an den Eingang geflogen, stand in der Luft still und sah sich um mit großen glasigen Augen. Und irgendwo ging ein Pumpschwengel, wurde eine Sense gewetzt . . . aber fern, alles fern, östlich von der Sonne und westlich vom Mond.
Ich hatte mir die verschiedenartigsten Bücher zusammengehamstert: Byrons Don Juan, den Montechristo, die Leiden der stigmatisierten Katharina Emmerich; auch viele Teile des Weißschen Kinderfreundes, einer alten, stockfleckigen Ausgabe, die ich in demselben unergründlichen Wandschrank, der nach Pilz roch, gefunden hatte. In diesem bändereichen Werk waren Stahlstiche von artigen Mädchen mit hohen Kämmen 49 und langen weißen Hosen, die bis über die Schuhe reichten. Die gleichfalls tugendvollen Knaben trugen Gürtelblusen und gescheiteltes Lockenhaar. Sie sagten Sie zu ihren Eltern und unterbrachen die Erzählungen des trefflichen Vaters und des Hausfreunds, Herrn Papillon, durch die albernsten Fragen, welche den Anlaß zu weitschweifigen Moralpredigten gaben. Die Knaben in den Gürtelblusen wurden auch einmal zu einer Hinrichtung mitgenommen, damit sie den Ernst des Lebens zu kosten bekämen; aber die Mädchen brauchten nicht mit.
Doch wie in zaubrischen Labyrinthen ging ich umher, als ich dort so recht ungestört in den schönen alten Romantikerausgaben, von denen unser Boden vollgestapelt war, schwelgen konnte. Die Schicksale Isabellas von Aegypten, wie waren sie merkwürdig, als hätte man das alles einmal geträumt; und das Lied, das der Schüler auf dunkler Straße singt, während droben, hinter hellen Fenstern, sein Liebchen Hochzeit hält, ich kannte es wohl; Mama sang es beim Auf- und Abgehn, wenn die Terrasse ganz weiß war im Mond; aber es war mir immer rätselhaft geblieben; nun stand es da in seiner eignen, ergreifenden Fassung. Und wie Leidenschaft erfüllte 50 mich der Jammer um die schöne, traurige Esther in den »Majoratsherren«, als sei sie eine heißgeliebte Schwester, die da zu Grunde ging am Unverstand der Welt; und wenn ich an die Stelle kam, wo die alte Vasthi mit dem Kopfputz wie Rabenflügel sich der Sterbenden aufs Bett setzt, wollt' ich verzweifeln; kam denn wirklich keiner, um sie zu verscheuchen?
Ponce de Leon! Wie schwelgte ich darin . . . »Das durch seine Länge und Weitschweifigkeit für die Bühne unbrauchbare Werk« stand in meiner Literaturgeschichte. Ach, damals wünschte ich, es hätte zehn Akte gehabt statt deren fünf! Wenn Porporino zu Valeria sagt: »Verlaß die böse Welt, komm zu mir in den guten Koffer« – war das nicht, als säße ich selbst im guten Koffer, hier unter meiner guten Brücke, wo keiner von mir wußte? Und eine wunderschöne Stelle war auch die, wo Ponce seinen Freund, den Don Aguilar fragt: »Wie liegt deine Schwester im Bett?« – und der antwortet: »Lang ausgestreckt, auf der linken Seite, und denkt sich Gespräche aus für den zukünftigen Gemahl.« Ich las die Stelle mehrmals, und sah mich selbst in einem wunderschönen Bette mit goldnen Löwenfüßen und Baldachin, lang ausgestreckt, auf der linken Seite. Das Fenster 51 weit offen und Schiffsmasten glitten vorüber. Aber am Fußende stand der »Gemahl« und redete, so konnt' ich zuhören und brauchte mir keine Gespräche auszudenken . . .
Doch auch leibliche Genüsse hatte ich in meiner Höhle, Obst und Radieschen und frischgebacknes Brot: letzteres lieferte Frau Pusenack; wenn man es auseinander brach, kam ein heißer Dunst heraus wie aus einer Malztenne. Mit frischen Walnüssen, an Stelle der Krume gefüllt, war es ein göttlicher Leckerbissen.
Gegen Ende des Sommers ward Fritz Pusenack zum Verräter an mir. Es war häßlich von ihm, denn all mein Taschengeld war in seine kleine erdige Tatze gewandert, als Preis seines Schweigens. Eines Tags steckte mein kleiner Vetter Tuck sein sommersprossiges Vollmondsgesicht zum Eingang herein: der Tempel war entweiht. Ich gab dann einen Eremitenkaffee; Tuck erschien als heiliger Antonius, ein bedauernswertes Ferkel an einem blauen Bande hinter sich herschleifend, und das Lokal erfreute sich bald einer klubartigen Beliebtheit. Aber was hatte ich davon? Ich mußte mir andre Schlupfwinkel suchen, grad wie die armen Indianer immer tiefer gehen müssen, vertrieben durch die Missionare und Ansiedler, die ihnen 52 die schöne alte Heimat verleiden. Ein Plätzchen hatte ich dann noch in der Birkenheide, zwischen den Ginsterbüschen, wo die Kreuzspinnen in ihren Nestern saßen, die in der Frühe fast brachen unter dem Tau, wo große Ameisen über die dürre Erde liefen, und einmal gar ein Reh sein schwarzlackiertes Schnäuzchen durch's Gesträuch steckte. Ich habe da, halb unbewußt, viel Liebes in mich aufgenommen, das manchmal ganz unerwartet laut wird. Wie ich vergangenes Jahr in Rom Ginsterbüsche vorübertragen sah, war ich auf einmal weit weg von dem Platz mit den Bänken und Brunnen, dort, wo der Ginster eine Mauer baute um mein Versonnensein, und der Birkenschatten auf der warmen Erde tanzte.
Ja, ist dies nicht alles, wie wenn man träumt? Man denkt, während es vorübergleitet, wunderweis welch herrliche Dinge einem begegnen, und dann, am Morgen, ist's eigentlich das Erzählen wert?
Wie ich meine Puppe (die einzige, die ich liebte, Totto, ein Sohn!) in den Kastanienbaum setzte und dort vergaß; wie ich in der Nacht aus dem Schlaf fuhr und mir in der Dunkelheit beim Seufzen des Windes meine entsetzliche Lieblosigkeit gegen Totto klar wurde! Ach, er war ein Tragkind, mußte ewig 53 ein Tragkind bleiben, denn es fehlte ihm ein Bein. Seine arme kleine Nase war platt und zerschunden, ich hatte ihn gleich am ersten Tage fallen lassen. Ja, wenn ich's mir recht überlege, Totto hatte etwas Kalmuckenartiges; aber ich liebte ihn. Noch ehe die Hähne krähten, war ich im Garten. Taufeucht und übernächtig saß Totto im Kastanienbaum. Oh, wie sollte man das je wieder an ihm gut machen! . . .
Wie wir in die Kirche gingen; ja, das war bei Tante, auf dem andern Gut. An der südlichen Mauer, wo die Ebereschen stehn, die Gräber der Großeltern, der Tanten und Onkel, mit ihren tönenden Namen: Freimund und Kühnemund, Melusine und Claudina, die zu ihren feinen Köpfen mit kühnen Nasen und zarten Mundlinien gut gepaßt haben:
»Efeu Eure Decke, Lilien Euer Hofgesind!«
Dort trugen die Frauen schwarze, die Mädchen rote, die Witwen weiße Kopftücher am Sonntag, ein dreizipfliges Taschentuch in der Hand, und irgend einen kleinen wohlriechenden Zweig ins Gesangbuch geklemmt. Unter den Männern waren viel hagre, wie aus Holz geschnitzte Köpfe; glattrasiert, mit hellen Augen und schmalen Lippen; Moltkeköpfe, wie sie immer seltner werden. 54
Auf dem Altar standen Sträuße von Astern und Levkoyen rechts und links vom Kruzifix. Die dicken gelben Wachskerzen hatten große Bärte, von der letzten Abendmahlsfeier. Grad neben dem Taufbecken, an vergoldetem Seil, schwebte ein lebensgroßer Engel aus bemaltem Holz, den Erntekranz in der Hand.
Es wurden endlose Choräle gesungen, und nach jedem Vers ertönte, wie ein Ringelschwänzchen, das kleine Nachspiel vom Herrn Kantor, in den höchsten Quiekregistern. (Herr Kantor, der seltsamerweise »Unglaube« hieß, der mir Nachhilfestunden gab und am Türrahmen, nach genauester Berechnung, die Länge des Riesen Goliath mit Blaustift bezeichnet hatte; was mich enttäuschte, denn ich hatte ihn mir viel größer gedacht.)
Zu Hause war es hübsch und luftig, aber wohl recht einfach, wenn ich's jetzt bedenke. Bei Mama lag ein Teppich, sonst waren die Fußböden aus weißgescheuerten Dielen, und zielbewußte Leinwandstreifen kreuzten drüber her. Sonntags und Donnerstags brachte der Gärtner frische Bukette, die waren so fest gebunden wie italienische Wickelkinder: Levkoyen und Löwenmäulchen, Wicken, Reseda und 55 Spargelkraut. Sie kamen in Porzellanvasen auf alle Konsolen und Kommoden. Das gehörte sich so. Der Gärtner hieß Martersteig. »Und mit solchem Namen ist's kein Wunder, daß er die armen Blumen so zusammenschnürt«, sagte Mama. Aber sie bekam immer Rosen . . .
Ach, eigentlich mag ich so »geschmackvolle« Einrichtungen nicht. Es war viel gemütlicher und amüsanter, wie die Leute noch nicht so viel über den Geschmack nachdachten. Damals hatte jeder seine eignen netten Familienmöbel und Familienhorreurs, und wenn dann weiße Gardinen aufgesteckt waren und Blumen standen auf dem Tisch, war doch alles miteinander sehr hübsch.
Jetzt wird das auch wieder gesammelt und aufgestellt. Aber es ist nicht mehr das nette, harmlose Durcheinander, es geht so ängstlich stilrein zu. Früher war's wie ein geologischer Vorgang, jede Generation hinterließ ihre Schicht, und da war Hübsches und Häßliches, aber es war alles so freundlich überbrückt. Bei einem Onkel gab es besonders viel solcher interessanter Schauerdinge. Sofas mit Porzellanknöpfen, Klingelzüge mit Perlfranzen, Stiefelknechte mit Leiern zum Anfassen, und, wenn man ausfuhr, lagen ein paar 56 gestickte Kissen im Fond, schwarze Katzen auf feuerrotem Grund, das sah aus, als hätte es des Teufels Großmutter gestickt. Onkel war Witwer. Von seiner Frau stammten die Teppiche mit Streublumen, der ausgestopfte Bologneser auf schwellendem Moospolster, die fürchterlichen Klassiker in gepreßten Einbänden und die Lithographien von Otto Devrient als Hamlet und Jenny Lind als Nachtwandlerin, mit Widmungen. Tantchen war selbst bei der Bühne gewesen, und die Erinnerung daran durchleuchtete ihr späteres Dasein wie eine himmlische »Schlußapotheose«: Wolken aus rosa Tarlatan, silberne Sterne, bengalisches Feuer und der große Marsch aus »Norma«. Ach, wie war das so nett! Soviel besser als der ewige Stil, in den sich die Menschen einwickeln wie in eine Toga. Als ich wieder hinkam, hatte der Besitz zweimal Hände gewechselt, all die Denkwürdigkeiten waren verschwunden. Da bin ich tagelang herumgegangen wie eine Katze, der man die Jungen ersäuft hat, und hätte auch am liebsten gemiaut. Kann es ja auch der armen Frau Solneß nachfühlen, die sich die verbrannten Puppenstuben so schrecklich zu Herzen nahm.
Ja, das ist nun alles nicht mehr. 57