Irene Forbes-Mosse
Der kleine Tod
Irene Forbes-Mosse

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Lieber Gott, nun wird das Jahr schon alt . . . Diesmal werde ich die Weihnachtstannen nicht sehn, voller Schnee, keine Schneekristalle auf meinem Muff vor mir hertragen, als seien es Pusteblumen . . . und denken, wenn's bis zur Haustür nicht geschmolzen ist, dann passiert etwas Schönes . . .

Etwas Schönes . . . Oh du!

Bin ich sehr hochmütig, oder bin ich voller Demut? Siehst du, ich darf um deinetwillen niemand kränken. Es soll kein bittrer Tropfen am Rande sein, wenn ich aus dem Becher trinke. Und ich will ja so dankbar daraus trinken. Aber es warten welche auf mich. Menschen, ja; es mögen auch Bäume und Tiere dabei sein. Und ich will niemand enttäuschen, um deinetwillen nicht. Nichts Verstümmeltes, nichts Abgerißnes – oh, das Leben macht uns alle mütterlich mit der Zeit: »Heile, Kätzchen, heile!« 126

 

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Ist es nicht gut eingerichtet, daß man sich ganz plötzlich, nach einmaligem Sehen, so glühend für Menschen interessieren kann? Und dabei gar nicht versucht ist, ihren Namen zu erfahren? Auf diese Weise gibt es die reizendsten Abenteuer; und grade weil sie ohne Abschluß blieben, haben sie das ewige Leben!

Ich war in einer Ibsen-Vorstellung. Man gab die Wildente, und zwar mit einem starken Stich ins Komische. Wie Hjalmar, trotz seiner Verzweiflung, doch so schmerzlich mit den Augen auf dem Tisch herumirrt und auf Ginas angstvolle Frage, was ihm fehle, das dumpfe Wort »Butter!« ertönt – das war derartig lächerlich, es ging wie eine Konvulsion durch den Zuschauerraum. Neben mir saß eine schöne, elegante Frau, so Ende dreißig, etwas rundlich, mit wundervoller Haut, blendenden Zähnen, schönem, gepflegtem Haar. Die lachte so entzückend. Sie kniff die Augen zu, weil sie überflossen, und es kamen ihr kleine Gluckser in die Kehle, wie bei einem Kälbchen, wenn's zu rasch saugt: man sah, es tat ihr beinah weh. Zuletzt konnte sie nicht mehr ankämpfen, sie legte den Arm auf die Stuhllehne vor sich, den Kopf drauf, und lachte, 127 lachte . . . Ihr Mann schien solche Ausbrüche gewohnt. Er lächelte, biß sich auf den Schnurrbart, zupfte sie ein bißchen am Ärmel. Dann machte er ein freundlich-ergebnes Gesicht, als wollte er sagen »nun ja, ich weiß schon, also dann los; ich nehme alles auf mich!« Ich hätte diese Frau küssen mögen; sie war ein bezauberndes Gemisch: diese weiche, reife Fülle, wie ein schöner Pfirsich, und dazu das gurgelnde Schuljungengelächter; denn grade weil die Wildente im Grunde so herzzerreißend ist, war es so wonnevoll, lachen zu müssen; so wie man als Kind während einer Predigt lacht.

Aber nachgespürt hab' ich dem Menschenpaar nicht.

 

Es sind so kleine, leise Dinge im Leben, man kann sie nicht nennen, sie sind zu einem feinen Nervengeflecht des Erinnerns geworden, das aufzuckt, man weiß oft nicht warum, das uns manchmal quält, aber immer belebt . . . Momente zart schauernder Heimatliebe; man steht am Fenster, im Zimmer ist's warm, voll Blumen und abgetöntem Licht . . . es sind Menschen da, und sie reden und diskutieren über schön und unschön. Da sind die Gründlichen, die Allzudeutlichen und andre wieder, es klirrt etwas in ihren Worten, 128 was bedeutet ihnen alles, worüber sie streiten? Aber draußen vor dem Fenster lehnt sich ein feiner, funkelnder Zweig an die Scheiben, voller Eiszacken. Und wenn etwas ganz schön ist, und wär es auch nur eine Eisblume, man denkt nicht an Entstehen und Vergehen. Nun kommt der Briefträger die Straße herauf, bleibt unter der Laterne stehn; er hat Schnee im Bart und sieht ein wenig aus wie Kaiser Friedrich: die Briefe fallen durch die Tür, er geht weiter; so viel Straßen und Treppen, auf und ab, und erwartet nichts, nicht einmal ein freundliches Wort, es ist eben seine Arbeit. Zu Haus hat er vielleicht einen kleinen Jungen, der das Näschen am Fenster plattdrückt und hinuntersieht auf die Laterne im Hofe und wartet.

Und wie soll ich sagen, was das alles bedeutet. Im Bewußtsein haben wir's nicht, aber im Blut. Etwas, das plötzlich aufwallt, schmerzhaft zärtlich. Und nur auf Sekunden.

 

Aber wo war nun eigentlich die Heimat des verlornen Sohnes? Da, wo verzeihende Liebe und Kinderspuk, wo das Dach und die Bäume sich nach ihm ausstreckten, wie seine Seegräser nach einem winzigen Fisch? Wo nichts ihn erinnern sollte und alles so 129 behutsam war? Ging er nicht herum mit leise keuchendem Munde und suchte den Lufthauch seines Königreichs? Abends, wenn sie um den Herd lagen, sagte er da nicht, ein bißchen rauh und verlegen »ich will noch einmal nach den Mutterschafen sehn?« Aber er blieb nicht lang bei den Mutterschafen. Er lief den schmalen Hohlweg hinauf, wie ein Hund einer Spur nach . . . Und oben auf der kahlen Ebene riß er sein Hemd auf und mußte sich festhalten mit einer Hand, denn da war der Wind und der Tau und die Sterne, und er witterte sie und trank sie, den Wind und den Tau und die Sterne . . .

Seine kleinen Geschwister, die sich unter Hecken verkrochen, folgten ihm oft, mit brennenden Augen. Dann, wenn er im Vorbeigehn über ihre Haare strich, war da etwas mit seiner Hand . . . oh sie wußten nicht was, aber sie wurden ganz matt, wären gern für ihn gestorben.

 

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Ob man auf die Länge besser mit einem Menschen auskäme, der dieselben Gerechtigkeitsideale hätte wie man selbst, aber keine Opfer brächte, sie zu 130 verwirklichen, oder mit einem, der hilfreich und nützlich wäre, aber aus Gründen, die einem zuwider sind? Ich glaube, das Erste wäre vorzuziehen. Man würde sich freilich ärgern, aber man hätte nicht das schreckliche Gefühl der Fälschung.

Ich trug den Fall Jorinde vor. Aber sie lachte mich aus. Denn sie mag das »außer-der-Zeit-philosophieren« nicht. So wie Künstler Krämpfe kriegen, wenn in ihrer Gegenwart über Ästhetik diskutiert wird, und Corsetieren selber immer aufgelockert einhergehn in Frisierjacken. Man will eben in der Praxis endlich mal Ruhe haben vor der Theorie. Das ist ja sehr menschlich. Jorinde lenkte heute auch gleich ab: »Ach, da weiß ich viel Schlimmeres,« sagte sie. »Wie wäre dir zum Beispiel zumute, wenn du mit jemandem leben müßtest, der dir den Garten voll knalllila Cinerarien pflanzte und zwei Terracotta-Zwerge unter einem Regenschirm mitten drin und verlangte, daß das ›Heideröslein‹ von Kaulbach über dem Klavier hinge und die ›Kaiserproklamation‹ über dem Büfett?«

Ja, um Gottes willen, sagte ich, ist das eine der Prüfungen gewesen, die dein Haar vorzeitig gebleicht haben? 131

Jorinde starrte durch ihre Lorgnette auf die Wand gegenüber, als erblickte sie dort eine Apotheose aller Greuel.

»Wartburgsprüche auf Holz gebrannt und ein roter Gralsbecher aus Bayreuth als Visitenkartenbehälter, dazu ein Transparent am Fenster ›Wir Deutsche fürchten Gott‹ – ist auch auf die Länge schwer zu ertragen.«

»›Es gehört Liebe dazu‹ – wie die Dame sagte, als sie den Mann heiratete, der Suppenfett hieß. Aber ich frage dich nochmals, ob du da deine eignen Erfahrungen preisgibst?« . . . »Nein, Gott bewahr mich. So was nennt man eine Doktorfrage. Und du hast damit angefangen.«

 

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Es war Besuch da, und es wurde von Fernows gesprochen, und jemand sagte, »welch herrliches Verhältnis das sei« – und wie Frau Luzie »aufginge in den Interessen ihres Mannes«. Ja, sie sagten, sie sei seine »Beraterin«! Herrgott! Das dürftest du bei mir nicht suchen. Streiten wollt' ich schon mit dir, aber 132 dich beraten? Du bist ja »für das Recht«; das ist mir genug. Vor dem Gitter sitzen, und die Bäume rauschen so über die Mauer, oh, das ist ja schon so wunderschön.

Luzie Fernow! Wie sie einhergeht, im Reformkleid schlichter Erhabenheit; mit dem geblähten Hals und den Holbeinallüren und dem freudigen Blick. Wie sie mit ihrer gewissenhaften Aussprache Händel singt und »in questa tomba oscura«! Der berühmte Onkel Mietz sagte von so gewissenhaften Menschen, »wenn die die Treppe runterfallen, lassen sie keine einzige Stufe aus.« Ach, und sie ist so weihevoll. Wenn sie den Salat anmacht, möchte man »O Isis und Osiris« dazu singen. Und dann redet sie vom »heitern Hellenentum«; eine schreckliche Redensart. Das und die ewige »Bejahung«. (Als ob man überhaupt gefragt würde!)

Einmal war ich bei ihr, da waren noch mehr so Jasagerinnen; eine, in einem Hausgewand aus braunem Manchestersamt, hielt eine Ansprache. Die redete natürlich auch über »Freudigkeit«, und der arme Nietzsche, der doch sein Leben lang am entsetzlichsten Seelenzahnweh gelitten hat, mußte wieder herhalten; und »wir sollten Löwen gebären«, sagte sie. Hinter ihr, an der Wand, die Monalisa, lächelte so 133 nervenangreifend. Ein junger Mann war auch da, von der gewissen Sorte mit Prießnitz-Krawatten. Er sagte: »Weib, du ewiges Rätsel«! Und die Damen blickten zu der Monalisa auf, verständnisinnig!

Bisweilen, wenn auch selten, verläßt Luzie die höchste, reinlichste Zelle und steigt zu mir nieder. Dann möchte ich mich in der Sofaecke zusammenknäulen und totstellen, wie ein Marienkäfer, wenn man ihn anrührt:

»O wie bin ich froh, daß niemand weiß,
Daß ich Rumpelstilzchen heiß'!«

Ach, ich verstehe dich schon: meine Augen, die den Blitz deiner Augen auffangen, mein Herz, das den Klang deiner Worte fühlt, mein Arm, wenn deine Hand ihn streift: sie sind alle hellhörig. Was kann man dafür, was kann man dagegen!

 


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