Irene Forbes-Mosse
Der kleine Tod
Irene Forbes-Mosse

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Nun lebe ich schon so viele Jahre im Süden, und es wird mir noch jedesmal das Herz heiß, wenn ich über die Alpen komme und die ersten Edelkastanien sehe, das graue zerklüftete Land, die Kirchtürme wie Blütenglocken und die Armut, die lacht und roten Wein trinkt. Ach, so viel Licht und Raum hat dieses Land der Kargheit und der Verschwendung.

Aber dieser braungoldne, feuchtblaue Herbst in der Heimat: wie vieles fand ich, das ich vergessen hatte, »oder nicht bedacht«, und das war ein schönes Wiederfinden. Morgens der wallende Dunst, der nur langsam der Sonne weicht, die Tröpfchen an den 105 Fensterscheiben, große Wiesen ganz lila von Herbstzeitlosen, Kartoffelfeuer, bitter und bläulich . . . und all die rotgestrichelten Äpfel in Gras und Gräben.

Draußen, wo Mia wohnt, ist es noch ländlich. Von der Stadt sieht man nur einen Zipfel, einen spitzen Kirchturm und die Baummassen der Orangerie. Gleich vor dem Haus Wiesen und Kohlfelder, Blaukohl ganz silbrig im Tau. Dampfende Düngerkarren kamen vorbei, mit kleinen geduldigen Kühen bespannt, die hatten nasse rosa Mäuler und waren blondbewimpert und kurzbeinig wie Rubenssche Göttinnen. Dort sind noch so altmodische Gartenwirtschaften zwischen Rüstern und Erlen, wo die Leute Johannisbeerwein brauen und belgische Kaninchen züchten und einem mit entsagungsvollem Lächeln frische Eier verkaufen.

Jorinde findet Mia »wie einen Holzschnitt«, und sie »vergrübe ihr Pfund« – (und das sagt sie von mir auch, wenn sie mich beim Schmökern ertappt) . . . Aber ich habe Mia lieb mit ihrer ruhigen, selbstverständlichen Freundlichkeit, und sie ist auch gar nicht »unpersönlich wie eine Wärmflasche«, sie hat ihre Sympathien und Antipathien wie nur einer, und dann ist sie sehr beständig. Monatelang denk' ich nicht an sie, und wenn ich sie dann wiedersehe, ist's, als hätten wir 106 uns nie getrennt. Auch daß sie da so losgelöst zwischen den geschmacklosen Renaissancemöbeln ihrer einstigen Ausstattung saß und Grillparzer las, »für den ich mich nie erwärmen konnte«, sagte sie, »aber ich möchte ihm auch kein Unrecht tun« – fand ich so entzückend lächerlich, es paßte zu ihrem puritanischen Kleid und ihrer Lehrerinnenfrisur, ihrem unerwarteten Lachgrübchen und den plötzlichen Schuljungenbewegungen, mit denen sie rasch und sicher hantiert, gar nicht wie eine Großmutter.

Sie sprach in ihrer komisch resignierten Art von ihren Kindern. »Kinder sind das ärgste Hazardspiel von allen«, sagte sie. Und dann schilderte sie mir ein Mittagessen bei ihrer Tochter, die solchen gußeisernen Kerl geheiratet hat, »wo man sich wirklich fragt, ob es nicht besser wäre, Hottentotte zu sein als preußischer Staatsbürger, – aber sie hat nun das reizende Kind, und reizende Kinder müssen ja so oft als Entschuldigung gelten für reizlose Ehen« . . . und erzählte von ihrem Sohn: »Ach, er war solch entzückender Junge, mit seiner kleinen eckigen Stirn; wenn ich ihn drauf küßte, dachte ich immer nur das eine Wort: Rechtschaffenheit . . . Aber nun glaube ich, hinter der Stirn steht ein andres Wort: Erfolg. Manchmal musizieren 107 wir zusammen, und wenn er den Mozart so goldenklar geigt, dann denk' ich, er muß sie doch fühlen, diese weltfremde Güte . . . Aber dann wieder kommt mir der Verdacht, daß er das alles nur genießt wie ein Kunstsammler ein seltnes Stück Sevresporzellan.

Ach, es ist schlimm, wenn Liebe so hellsehend macht; man sitzt da und unkt, wie eine alte Kassandra, und es klingt so lieblos und ist doch nur die Angst. Denn siehst du, der Ehrgeiz eskamotiert den Menschen die Persönlichkeit weg, ohne daß sie's merken. Und ich denke daran, wie sie mir früher ihre Puppen und Hampelmänner anbrachten, wenn sie denen die Glieder verrenkt hatten, da sollte ich's allemal heilmachen; ach, und die Pferdchen und Wägelchen, was hab' ich nicht alles geflickt! Aber ich fürchte, wenn sie das nächstemal kommen, werden sie selber verrenkt sein.«

Jorinde weiß gar nicht, wie Mia ist; ihr gegenüber wird sie so fremd, schrumpft in sich zusammen. Und da sagt Jorinde: »Was hab' ich von einem Sofa, das ganz mit Perlen gepolstert ist; es ist darum noch kein Vergnügen, darauf zu liegen.« Sie sind beide nach außen kühl und stecken sich gegenseitig an mit ihrer Zurückhaltung; es ist wie ein Wettkampf zwischen zwei Schneemännern, wer am längsten fest bleibt. 108 Manchmal kommen mir all diese frostigen Tugenden, Stolz und Reserve und Seelenadel und wie sie sonst noch heißen mögen, wie eine rechte Zeitvergeudung vor. Aber mit mir ist Mia anders, da kommt sie mit allem möglichen heraus; ich nehm' mich freilich selber nicht wichtig, mach' mich über meinen Kleinkram lustig; Du lieber Gott, solche Menschen, die alles mit so angespannten Muskeln hochheben, sind recht angreifend; manchmal sind die Felsblöcke doch nur aus gemalter Pappe, aber sie strengen sich immer so gräßlich an, merken zuletzt wohl kaum den Unterschied . . .

Mia, sagte ich, nun gehn wir erst mal zum Friseur, und Du läßt Dich hübsch frisieren, Du glaubst nicht, wie das den innern Menschen hebt, Du wirst dann viel leichter an Deinen Tugenden tragen, und dann ziehst Du die hübsche Wiener Bluse an, aber ohne den schrecklichen Stehkragen; ich weiß nicht, warum Du Dich immer zurecht machst wie die Frau eines anglikanischen Bischofs, was doch bei Deinen Ansichten über das Jenseits und den freien Willen nicht ganz reell ist. Ja, und dann schmeiß mal vor allen Dingen den Grillparzer in den Schrank, wo er am tiefsten ist, und dann machen wir eine Landpartie! 109

Hinter Mias Haus, das sich an den Berg lehnt, sind sanftgewellte Wiesen, mit großen einzelnen Bäumen und Baumgruppen, wie ein Jagdpark aus dem achtzehnten Jahrhundert. (Mir fallen Geschichten ein »vom leutseligen Fürsten«; ich seh ihn da gehn in der Allongeperücke, pustend und apoplektisch, wie er der armen Frau hilft, den Korb mit Reisig abladen, und ihr einen Dukaten schenkt . . . das habe ich einmal ins Französische übersetzen müssen, »mansuétude d'un Prince« hieß es). Menschen kamen die Wiesenpfade heraufgewandert, die Abendsonne schien ihnen rot ins Gesicht, sie gingen nach der Försterei, die am Waldrand liegt. Dort saß man zwischen hohem blühenden Phlox und schwerbeladnen Obstbäumen. Dies Jahr müssen sie alle gestützt werden. Eviva! es lebe die Fülle! Mit den Äpfeln ist's recht wie mit der Liebe, wenn man da rechnen und einteilen sollte, o weh! Daher mir auch immer das Benehmen von Adam und Eva recht schäbig vorkam. Sie hätten den verbotnen Baum tüchtig schütteln sollen, statt so engbrüstig den zu niedrigst hängenden Apfel zu mausen. Dann hätte der Herr des schönen Gartens lachen müssen, nun, und wenn ein Mann erst lacht . . .

Der Förster hatte einen bezaubernden 110 langhaarigen Teckel; er sprang mir gleich auf den Schoß, wollte gar nicht mehr weg. Zwischen den Hunden und mir ist's immer »le coup du foudre«, oder dann gar nicht. Aber meistens doch le coup du foudre. Mia wurde ganz übermütig ohne den gestärkten Kragen und mit dem hübschen gewellten Haar.

»Bei deiner Frisur, Mia, fällt mir ein, wie Tante Mietz von eurer Gouvernante sagte: ›Diese ondülierte Schlange muß mir aus dem Haus.‹«

»Ach, die arme Tante Mietz. Sie wurde doch recht viel geärgert. Wie damals der Familientag war, alles so weihevoll, das Podium mit Blattpflanzen und Callas, vier Männer standen versteckt und sangen ernste Gesänge, eigentlich fehlte nur der Sarg. Es waren all die Vettern da, die Landwirte und Johanniter, sie redeten von Thron und Altar und deutscher Treue; aber wie sie dann später ins Theater loszogen, so mit dem Monokel ins Auge geklemmt, da sahen sie doch aus wie der gestiefelte Kater auf Abwegen. Ja, und denke dir, bei Tisch, nach all den andern Reden erhebt sich Onkel Mietz und fängt an: ›Mein alter, unvergeßlicher Freund und Gönner, der Rabbiner Immerwahr, pflegte zu sagen: . . .‹ Tante Mietz saß wie ein Medusenhaupt. »Ach, Mia, wenn die Erwachsenen 111 nicht bisweilen aus der Rolle fielen, wäre die Kinderzeit doch monoton. Aber so entgleisten sie ja recht oft, Gott sei Dank. Und dann hatten sie so amüsante Marotten. Weißt du noch, wenn mich abends euer Mädchen an die Droschke brachte, wußte sie immer sagen: ›Gnädiges Fräulein möchten auch den Herrn Polizeirat schön grüßen von der Herrschaft –‹ und es gab doch gar keinen Polizeirat, aber Tante Mietz meinte, das sei wie ein Talisman und der Kutscher würde das Auge Gottes über sich wähnen.«

»Ja, und wie sie sich brüstete mit dem ›Klosterprobst von Lilienkron‹ – den hatte ich mir natürlich dick und rund gedacht, mit all den O's, weißt du; so wie ›Rokokkokommode‹ – und wie er endlich kam, war er lang und hager. Ich konnte es erst gar nicht verwinden.«

Es gab noch viel schöne Geschichten aus der Zeit, als Mia eine angebetete Freundin hatte, Adele Puttfarken. Das war ja nun ein schrecklicher Name für ein Idol, und Mia litt darunter. Sie lasen heimlich zusammen Ibsen und Schopenhauer und stopften Strümpfe zur Kasteiung. Ich blieb aus diesem Verein ausgeschlossen, denn ich war ja nur ein elender Backfisch; es war sehr demütigend. Mia wollte so gern 112 studieren, aber damals war das noch etwas Unerhörtes. Heiraten oder Diakonissin, weiter gab es nichts. So heiratete sie dann. Aber es war eine kühle Sache; so »Achtung ohne Verständnis«; ähnlich wie mit Grillparzer.

»Ach Mia,« sagte ich nach der dritten Tasse, »wie gut schmeckt alles, und dieser liebe, weiche Teckel, den ich nun vom Schoße setzen muß, in die kalte Welt zurück, und dort der blühende Phlox! Es ist ein Jammer, nun ist das wieder vorbei, und man kann nichts mitnehmen!« »Ja, du würdest mit einem netten Möbelwagen im Jenseits ankommen, wenn's nach dir ginge« . . . »Und du mit Grillparzer vielleicht? Dabei fällt mir Frau von Krüdener ein, die mit ›Valerie‹ in der Hand vor ihren himmlischen Richter treten wollte. Das war nämlich ein tugendtriefender Roman, den sie geschrieben hatte. Man denke sich den Auftritt: ›Bitte untertänigst, lesen Sie selbst‹, – »Hille, du bist wirklich frivol, . . . da, iß noch Reineclauden.« »Hast Du eigentlich je in deinem Leben genug Reineclauden bekommen, Mia? Ich niemals. Genug Reineclauden, das könnte doch nur heißen, wenn man daran stürbe. Und das wäre ja auch, was ich mir unter einem ›seligen Tod‹ vorstelle . . .« 113

Den Tag darauf fuhr ich mit Mia zu ihrer Schwester, ins Hessische. Tessas Söhne sind in alle Welt zerstreut und die Töchter modern und tatenlustig. Doris hat eine »Müller-Klasse«, wo dünne und dicke Damen beim Klang der neuesten Walzermelodien mit Keulen um sich schlagen; Nina bildhauert in Paris, und die kleine Frigg »hat sich über die Säuglinge hergemacht«, wie ihr Vater sich ausdrückt. Tessa ringt im stillen die Hände. Ihre zielbewußten Töchter sind ihr unheimlich wie junge Menschenfresser. Sie selbst gehört zu jenen ratlosen, entzückenden Frauen, die man bald nur noch in Herbarien finden wird, denen ein Kursbuch wie eine chaldäische Grammatik vorkommt und die immer bei der geringsten Schwierigkeit »einen Mann« herbeirufen; ganz gleich ob es sich darum handelt, eine Bankabrechnung zu prüfen oder eine renitente Schublade zu öffnen: »Ci vuol'un uomo« wie mein italienisches Hausmädchen immer sagte; die wär nach Tessas Sinn gewesen.

»Ja, begreift ihr's denn nicht«, klagt sie mit ihrer sanften, weinerlichen Stimme (Tessa, das Perlhuhn, sagen ihre Brüder), daß mir's peinlich sein muß, die kleine Frigg so vor allen Leuten von ›Brustkindern‹ reden zu hören, von andern Ausdrücken zu schweigen.« 114 Und dann macht sie ›Recherchen‹! Schrecklich. Ich habe doch selber sieben Kinder gehabt, aber was so Gemeindedamen alles erzählen! . . . Da war neulich eine Geschichte mit einem Fräulein Lämmerhirt, nein, ich kann es nicht wiederholen. Und überhaupt, es ist alles drunter und drüber, die Mädchen wollen Kinder haben, und die Frauen wollen keine, und das ganze nennt sich Mutterschutz. Babys sind ja so was Süßes – und – (Tessa errötet) man überläßt das doch alles am besten dem lieben Gott.«

Und dann macht Tessa den Tee, sehr fein und zierlich, und schwebt wie ein Paradiesvogel mit gesträubten Federn über dem Samovar. Und Tessas »Kaptain« kommt herein und fragt, »wo die kleinen Mädchen bleiben«, setzt sich ans Klavier und akkompagniert sich mit falschen Bässen das schöne Lied »Wohlan denn, die Anker gelichtet!«

Ach, der Kaptain liegt nun schon manches Jahr vor Anker. Den letzten Abend fuhr er mich in die nahe Stadt, an der er mit alter Kinderliebe hängt. Dort roch es nach zerstampften Äpfeln, nach all dem Multrig-Gärigen, das in großen Bütten, in finstren Torwegen steht, wo Soldaten mit ihren Schätzen schwatzen und kleine Schulbuben 115 vorübertrollen, mit mancherlei Umwegen, an den zwinkernden Laternen vorbei. Alles das hat mich der Süden oft vergessen lassen und hat mir's doch nie ersetzt, grad wie man einen Menschen über einen andern vergißt und kann doch keiner den andern ersetzen. Und ist das vielleicht das Geheimnis aller Treue und aller Untreue?

Der Kaptain kennt meine Freude an schmustrigen Winkeln und führte mich herum. Es gibt dort noch ganze Straßen, von holländischen Refugiés gebaut; breite, untersetzte Häuser, mit hübschem Gebälk und einem Mansardengiebel mitten im Dach, wie ein Gesicht. Es war schon schummrig, und wir kamen durch alte, düstre Torbogen, und ich dachte an »Falada, der du hangest!« . . . Der Kaptain streichelte alles mit seinen Blicken. Ich kann mir's denken, wie solche kleine altfränkische Stadt, wo alles ganz dicht und wohnlich beisammen steht, einem im Traum erscheinen muß, wenn man monatelang nur helle, glühende Küsten sieht, oder auf See, Wasser und Wind umher und zerfetzte Wolken über sich . . .

Ich sollte den neuen Apfelmost kosten, im ältesten Wirtshaus der Stadt. Mägde und Kinder rannten des Wegs mit grauen dickbäuchigen Krügen. Im 116 Torweg hing eine große schmiedeeiserne Laterne, im Hof dahinter standen Wagen mit weißen, gespenstigen Planen, und überall hing prickelnde Gärung in der Luft, daß einem der Atem verging. Wir mußten links drei Stufen hinauf, an ein Schiebefensterchen, dort stellten sich alle hin, die ihre Krüge füllen ließen oder gleich weiter wollten nach einem raschen Trunk. Ein schielender Mann mit feurigem Kopf, der selber aussah wie ein roter beschädigter Apfel, schob uns unsre Gläser hinaus: süßes, multriges Zeug. Dann ließen wir uns einen Krug füllen, und nun sollten noch Nüsse dazu gekauft werden. Die gab es auf dem Markt, wo ein paar alte, vornehme Häuser stehn, aus der Zeit als sich die Damen in Sänften zu den Ballfesten tragen ließen. Auch die noch viel ältere Apotheke, das Stammhaus meiner Freunde, steht an einer Ecke. Auf dem Platz brannten ein paar Laternen, aber es war nicht hell, und die Hökerfrauen hatten ihre Lämpchen angesteckt. Dort, vor dem Denkmal der Märchenerzähler, die still, fast geisterhaft, in die Abendluft ragten, habe ich Nüsse gekauft von einem alten Weiblein mit roten plierigen Augen; ihnen zu Füßen saß es, unter einem großen Regendach . . . und eigentlich hätte mich's nicht 117 gewundert, wenn das Kleid wie die rote Sonne und das Kleid wie der bleiche Mond aus den Nüssen herausgeknistert wären, als wir sie dann aufknackten zu Haus . . .

 

In den großen Städten ist es trübselig zu dieser Zeit. Es fehlt der kleine Stich ins Holländische, ins fröhlich-verfreßne, das die kleinen Städte im Herbst so heimlich macht, weil sie mehr von der Hand in den Mund leben und die Früchte der Erde nehmen, wie sie kommen, dann aber aus dem Vollen. Ich merkte das, als ich gestern zurückkehrte und an Jorindes Stadtwohnung vorbeiging. Der bloße Gedanke an die leeren Stuben, in denen die einsamen Stehuhren schlagen, wo sie doch niemand hört, an die Möbel unter ihren kühlen Überzügen macht mir Herzweh, ob ich auch tausendmal weiß, daß in ein paar Wochen alles bewohnt sein wird. Aber solche verlaßne Wohnung kommt mir immer vor wie Generalprobe zu der letzten großen Verlassenheit!

Am Kanal flimmerte die Sonne durch die halbgemauserten Kastanien, ich ging über die hübsche gewölbte Brücke und betrachtete – Gott weiß, zum wievielten Male – das Bild mit der ausführlichen 118 Anweisung zur Wiederbelebung Ertrunkener. Ich werde das nie behalten können, es ist schrecklich kompliziert, und alles was man eigentlich tun möchte, soll man grade nicht tun. Unter mir fuhren große Kähne, mit Steinen beladen. Keuchend und gebückt ging der Schiffer stromauf, die schwere Stange in die Achsel gestemmt. Die Frau saß am Steuer, ernsthaft und hager, neben ihr der Spitz, sehr aufmerksam. Wenn die nächste Schleuse kommt, gibt's Kaffee. In solcher kleinen Schiffskajüte ist's gemütlich. Vergilbte Photographien in Rähmchen hängen an der blaugetünchten Wand, und ein kleines, kleines Wachstuchsofa darunter, Gott weiß, wie sie das zur Tür hereingebracht haben. Oft ist da auch eine Kommode mit gehäkeltem Deckchen, und Muscheln liegen darauf: große gewundne Schnecken und die glatten mit dem gefleckten Pantherfell, die so surren, wenn man sie ans Ohr hält . . .

Wie ich da stand, ganz vertieft, hörte ich meinen Namen rufen: – es war Thesi, die über die Brücke kam, Jorindes bayrische Perle, Schutzengel ihrer Stadtwohnung. Man kann's einem Mädchen ansehn, ob ihm die Mehlspeisen geraten; es ist ein gewisser Zug in den Mundwinkeln, und auch die Hand muß 119 danach sein, breit und doch feinfühlig; débonnaire – ich weiß kein deutsches Wort dafür. Man trifft es öfters bei Katholischen als bei Evangelischen. Den Grund dafür herauszuspintisieren will ich den Psychologen überlassen.

Wir besprachen die Rückkehr der »Damen« – und Thesi meinte, das »Transparent« sei etwas schadhaft. Dann machen Sie den Kranz drum herum breiter, Thesi, aber das Transparent darf nicht gefälscht werden. Es ist eine ehrwürdige Institution: Gott seegne Euren Eingang! steht darauf. Den Rahmen bilden Tannenzweige und Georginen an den vier Ecken, so will's die Tradition. Ja, und dann kann der Winter einziehn.

 

12

Gestern war ich auch im Museum. Ich bin am liebsten allein auf meinen planlosen Kunstreisen. Wenn man im Wald die Vögel hören will, darf man auch niemanden mitnehmen.

Am Kupfergraben das vornehme alte Haus mit der schönen Eisenrampe hält noch bei geschlossnen 120 Läden Sommerschlaf. Gegenüber lagen Kähne, welke Blätter schwammen unter der Brücke durch. Sonst ist hier alles so anders geworden, prunkend und teuer, aber ohne das leiseste Gefühl des Erlesenen zu erwecken, wie man es in den kleinsten Städten Italiens so deutlich verspürt, wo auf menschenfreundlichen Marktplätzen die Linien ungestört zusammenklingen.

Es wird mir zuerst immer ein bißchen schwindlig in solchem großen Bildersaal; von allen Wänden tönt es, als würden Instrumente durcheinandergestimmt. Wie die kleine Blechente komm' ich mir vor, die ich als Kind ins Badewännchen bekam. Die schaukelte auch so hin und her, bis dann der Magnet kam und sie an sich zog.

Im ersten italienischen Skulpturensaal waren viele Magnete; diese Dinge sahen mich vertraulich – sehnsüchtig an. Kenn' ich doch ihre schöne Sippschaft. In verschlafenen Provinzmuseen, wo alte freundliche Kustoden in den Ecken sitzen und Tabak schnupfen und Tausende von toten Fliegen den Fußboden unter den Fenstern bedecken, in dämmrigen Kirchen, wo es nach Lilien und Armut riecht, kühlen Sakristeien, zu denen man durch schmale, verschwiegene Gänge gelangt, wo ausrangierte Beichtstühle neben dem Küchenschrank und den Tomatentöpfen des Herrn 121 Pfarrers stehen, an Straßenecken, hoch über den peitschenknallenden Kutschern . . . dort überall hab' ich sie gekannt, Brunnen und Büsten, friedvoll schlummernde Kirchenfürsten, leidvoll lächelnde Mütter . . . stillherrschend durch alle Vergänglichkeit.

Da war gestern eine mit langen ägyptischen Brauen, gebogner Nase, spitzen Öhrchen, mit geschmeidigen Fingern ihr Bübchen haltend: ein schönes Fellahmädchen. Eine andere daneben mit breiten Wangen und schwerem Kinn, ernsthaft, segenschwer, fast unbeholfen. So verschieden die beiden und sollen doch von derselben Meisterhand sein. Dazwischen der farbige Johanneskopf, mit offnem Mäulchen und horchenden Brauen, als hätte er eben der Lerche hoch oben einen Schrei nachgesandt: wird er ihren leisen jubelnden Triller erreichen?

Dann all die Robbias . . . Florentiner Straßenecken dämmerten in mir auf, wo Maria, mit zurückgeschlagnem Mantel, zwischen Engeln und Lilientöpfen niederblickt auf das Getriebe, die Blumen, das Feilschen und das Geschrei. Da waren Strenge und Stolze unter den Gottesmüttern: festgegürtet wie Spartanerinnen: Dies Kind soll die Welt erlösen, es steht aufrecht auf ihrem Knie, des Opfers gewärtig. 122 Andre wieder, so schützend, so umfangend: Nein, nein, und wenns auch um die Seligkeit der ganzen Welt ginge, ihren süßen kleinen Jungen geben sie nicht her, das kann kein Gott verlangen.

Der Giovannino, mit zarten, begehrlichen Lippen, schlank und schmachtend. Er gehört in die heiße südliche Luft; Bienen sollen um die Wabe summen, die er eben zum Munde führt, goldne Sonnentupfen seine feinen, harten Beine streicheln.

Zwei Reliefs von Sansovino blickten von der Wand; zwei Marien mit schön gefalteten Gewändern, breitschultrig wie Niobe. Ernst und kühl halten sie das Kind, ganz teilnahmslos, als sei's eine schöne Vase. Sie haben alle dieselben langen, schlanken Handgelenke wie Mattea. Donatello und die Robbia, und vor allen Mantegna verstanden diese leise Musik der Hände, aber auch der Meister, der die Königinnen in Naumburg schuf, die mit dem Buch und die andre, lachende, die den Mantel an sich zieht, hat sie verstanden.

Ja, so schwamm ich herum, eine kleine Blechente auf einer sehr großen Schüssel, und hier und da sagte ein Bild »Komm'!« Bronzino, der ist wie solch grade, düstre Allee mit einem Lichtschimmer ganz am Ende; das saugt auch so und zieht einen tiefer hinein. 123 Diese gradlinigen Gesichter, so deutlich und unverrückt und todtraurig . . . ist's nicht, als warteten sie, daß der Herr vom Himmel niedersteige, um ihnen zu sekundieren? Ihr Verhängnis ist düster, aber es ist Rhythmus drin, wie in einem leisen Marsch . . . daneben sind die Velasquezbilder so bedrückend. Der kleine Prinz mit dünnem Hälschen und hellem, spärlichem Haar, so ein armes Wachsblümchen; der mit Zwergen spielte, und, wenn er brav gelernt hatte, das Auto-dafé ansehn durfte mit seinen hellen glasigen Augen . . . Der freundlich-unbekümmerte Mann, der ihn malte und ihm rasch auch sein Händchen und seinen Affen abkonterfeite, damit er lächeln sollte – war vielleicht das einzige harmlose Menschenantlitz, dem er in seinen kurzen Leben begegnen sollte, seit er von seiner armen braunen Amme getrennt war, die so schrecklich weinte, als sie fortging . . . Oh diese Fuchsgesichter um ihn her! Nur eine Frau in braunem Samt, listig, resolut, mit einem belustigten Lächeln, gefiel mir; die hatte gewiß immer eine gute Antwort bei der Hand und brachte ihren Beichtvater zum Lachen . . .

Aber ich möchte auch die schönsten Porträts nicht um mich haben; den ewigen Monologen ihrer Augen nicht 124 zuhören . . . Große Fresken von Göttern und Tieren und Hochzeitstafeln, das ist viel besser; oder von Heiligen, die still und unmenschlich wie schöne Tapetenblumen sitzen und verblassen. Die reden nicht mehr von dem Riß in ihrem Leben, als ihr übersattes Blut nach Dornen schmachtete wie nach einer Umarmung und ihre Ohren Heimweh hatten nach dem Rauschen der Adler und ihrem harten Geschrei. Bis dann die große Barmherzigkeit einzog in ihre Seelen . . . Und diese Götter, ihre Liebe, ihre Rache: sie gehn uns nichts an. Nur ihr zorniges Gewölk, die raschen Falten ihrer Gewänder, der Arm, der hinausreicht nach der goldnen Frucht im Hain: die gehn uns an; und die Säulen hochzeitlicher Wohnungen, die zum Gegendruck ruhevoller Dächer drängen.

*

Als ich herauskam, wurde ich beinah schwindlig im hellen Tageslicht. An der nächsten Ecke stand ein Lastwagen. Da blieb ich stehn. Der Kutscher gab den Pferden, schweren Rotschimmeln, aus einem ledernen Eimer zu trinken. Wie sie schluckten und innehielten, um zu schnaufen, und dann wieder schluckten; man fühlte, wie das kühle Wasser den heißen, trocknen Schlund passierte, kleine Schauer von Wohlbehagen 125 liefen über den mächtigen Hals . . . Und das anzusehn war mir solche Lust, besser als Säulen, Bilder und Tempel sie nur geben können, ja besser sogar als das erste Aufwachen in den Bergen.

 


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