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Neuer Besuch in Amerika: Januar bis April 1868.
1868.
Die Vorlesung am 3. Januar 1868 beschloß das erste Viertel der ganzen Serie, und an diesem Tage schrieb Dickens über die durch die Speculanten ihm zugefügten Unannehmlichkeiten, welche die drei vorhergehenden Abende in New-York in gewissem Maaße ungünstig beeinflußt hatten. Wenn Abenteurer die besten Plätze aufkaufen, so rächt das Publikum sich dafür, indem es die schlechtesten verweigert; dies dadurch zu verhindern, daß es sich zuerst selbst hilft, ist das letzte, woran es denkt. »Wir versuchen, den Speculanten die besten Sitze vorzuenthalten, aber das Unbegreifliche ist, daß die große Masse des Publikums von ihnen kauft, es vorzieht, von ihnen zu kaufen, und daß der Rest des Publikums sich gekränkt fühlt, wenn wir ihnen eben jene Sitze nicht mehr verkaufen können. Wir haben jetzt einen reisenden Stab von sechs Personen; aber trotzdem wird Dolby, der mich heute verläßt, um morgen Abend in Philadelphia Billette zu verkaufen, ohne Zweifel in einen Sturm von Schwierigkeiten hineingerathen. Natürlich werden auch in einer solchen Sache einem Engländer möglichst viel Hindernisse in den Weg gelegt, und überdies faßt er selbst vielleicht seine Aufgabe nicht ganz recht an. Gestern Abend z. B. sah er einen der ›Ceremonienmeister‹ (die den Leuten ihre Sitze zeigen) mit einem unserer Leute hereinkommen. Es ist gegen die Regel, daß irgend einer von den in der Halle beschäftigten Dienern während der Vorlesung hinausgeht, und er stellte diesen Mann auf britische Weise deshalb zur Rede. Sofort setzte der freie und unabhängige Ceremonienmeister seinen Hut auf und ging davon. Als die anderen freien und unabhängigen Ceremonienmeister (einige zwanzig an Zahl) dies sahen, setzten sie ihre Hüte auf und gingen davon, so daß wir für heute Abend vollständig ohne die nöthige Bedienung blieben. Seitdem ist eine solche improvisirt; aber eine so geringfügige Sache war es kaum werth, Aufregung und Unzufriedenheit hervorzurufen, zumal da auch einer unsrer eignen Leute Schuld hatte, und in Wahrheit ist heute Abend wenig zu thun. Die Amerikaner sind so daran gewöhnt, ihre Interessen selbst wahrzunehmen, daß eine dieser ungeheuern Zuhörerschaften mit einer Leichtigkeit ihre Plätze findet, die bei einem Besucher von St. James' Hall Staunen erweckt; und die Sicherheit, mit der Alle an ihren Plätzen sind, ehe ich anfange, ist ein sehr erfreuliches Zeichen ihrer Achtung. Unsre große Arbeit liegt draußen und wir haben unsern Stab, abgesehen von mehreren Jungen, durch die regelmäßige Anstellung eines neuen Schreibers, eines Bostoners, auf sechs vermehren müssen . . . Da die Speculanten die Vordersitze kaufen (wir haben öfter gefunden, daß Kaufleute dies thun, die eine gute Position haben), will das Publikum die Hintersitze nicht nehmen, gibt die Billette zurück, schreibt und druckt ganze Bände über die Sache und schreckt Andere vom Kommen ab. Du mußt nicht denken, daß dies in bedeutendem Maaße der Fall ist, denn unsere geringste Zuhörerschaft hier hat 300 Pfd. St. eingetragen, aber nichtsdestoweniger trifft es uns. Darüber ist kein Zweifel. Glücklicherweise erkannte ich die Gefahr in ihren Anfängen und änderte die Liste zur rechten Zeit. Du kannst Dir von dem, was der Stab zu thun hat, eine Vorstellung machen, nach Dem was sie jetzt in Händen haben. Sie sind beschäftigt, 6000 Billette für Philadelphia und 8000 Billette für Boston zu drucken, zu numeriren und zu stempeln. Sowie diese fertig sind, werden 8000 neue Billette für Boston erforderlich sein und wahrscheinlich noch 6000 für Washington, und dies Alles abgesehen von der Correspondenz, den Anzeigen, den Rechnungen, den Reisen und dem abendlichen Geschäft der Vorlesungen viermal wöchentlich . . . Ich kann diese unerträgliche Erkältung nicht los werden. Mein Wirth erfand für mich ein Getränk aus Brandy, Rum und Schnee, nannte es » Felsengebirgnieser« und sagte, es solle alles weniger wirksame Niesen austreiben – aber es hat diese Wirkung noch nicht gehabt. Sagte ich Dir schon, daß das Lieblingsgetränk vor dem Aufstehen ein Augen-Oeffner ist? Es hat wieder ein großer Schneefall stattgefunden, dem ein starker Thau folgte.«
Tags darauf ging er nach Boston zurück, und an dem dann folgenden Tage schrieb er mir: »Ich soll hier am Montag und Dienstag lesen, am Mittwoch nach New-York zurückkehren und am Donnerstag und Freitag dort abschließen (mit Ausnahme der Abschiedsvorlesungen im April). Die Vorlesung von Dr. Marigold in New-York that eine gewaltige Wirkung. Die Leute waren zuerst in Zweifel, da sie offenbar nicht die leiseste Vorstellung hatten, was damit gemacht werden könne, und brachen zuletzt in einen vollständigen Chorus des Entzückens aus. Am Ende erhoben sie ein großes Geschrei und stürmten auf die Platform zu, als wollten sie mich im Triumph forttragen. Dies bringt einen neuen starken Pfeil in meinen Köcher. Einen andern außerordentlichen Erfolg hat Nickleby und der Hausknecht in dem Holly-Tree-Inn davon getragen (man würdigt dies, beiläufig gesagt, hier in Boston mehr als selbst Copperfield) und denke Dir, daß der letzte Abend in New-York uns mehr als 500 Pfd. St. englisch eintrug, nach mehr als dem nothwendigen Abzug für den gegenwärtigen Preis des Goldes! Der Geschäftsführer geht immer mit einem gewaltigen Bündel umher, das aussieht, wie ein Sophakissen, aber in Wirklichkeit Papiergeld ist, und die Größe eines Sophas erreicht hatte an dem Morgen als wir nach Philadelphia abfuhren. Nun, die Arbeit ist hart, das Klima ist hart, das Leben ist hart, aber die Einnahme ist bis jetzt auch ungeheuer. Meine Erkältung weigert sich steif und fest, auch nur einen Zoll zu weichen. Sie quält mich zu Zeiten sehr, obgleich sie immer gut genug ist, mich für die nöthigen zwei Stunden zu verlassen. Ich habe Allöopathie, Homöopathie, kalte Sachen, warme Sachen, süße Sachen, bittre Sachen, Stimulantien, Schlafmittel versucht – Alles mit demselben Resultat. Nichts bringt sie fort.«
In demselben Briefe wurde auf das kirchliche Geheimniß Licht geworfen. »In Brooklyn werde ich in Mr. Ward Beecher's Kirche lesen, dem einzigen Gebäude, welches dort für den Zweck verwendbar ist. Du mußt wissen, daß Brooklyn eine Art Schlafstelle für New-York ist, und für einen äußerst reichen Ort gilt. Wir vermiethen die Sitze je nach den Kirchenstühlen! Die Kanzel wird abgetragen, um meinem Schirm und Gas Platz zu machen, und ich trete hervor aus der Sakristei, in kanonischer Form. Diese kirchlichen Unterhaltungen finden an den Abenden des 16., 17., 20. und 21. des gegenwärtigen Monats statt.« Sein erster Brief nach seiner Rückkehr nach New-York (9. Januar) fügte dem von Brooklyn entworfenen Gemälde einige Züge hinzu. »Jeden Abend wird eine ungeheuere Fähre mich und meinen Staatswagen (nicht zu reden von einem halben Dutzend Lastwagen und zahllosen Leuten und einer beträchtlichen Anzahl von Pferden) über den Fluß nach Brooklyn bringen und mich ebenso wieder zurückführen. Der Verkauf der Billette dort war eine staunenswerthe Scene. Die edle Armee der Speculanten (dies ist wörtlich wahr und ich rede ganz im Ernst) ist jetzt männiglich mit einer Strohmatratze, einem kleinen Brot- und Fleischsack, zwei wollenen Decken und einer Flasche Whiskey versehen. Mit dieser Ausrüstung legen sie sich die ganze Nacht, ehe die Billette verkauft werden, reihenweise auf das Pflaster nieder, gewöhnlich schon um zehn Uhr Abends. Da es in Brooklyn sehr kalt war, machten sie ein gewaltiges Feuer in der Straße an – einer engen Straße mit hölzernen Häusern – und als die Polizei das Feuer auszulöschen versuchte, entstand eine allgemeine Schlägerei, aus der die in der Reihe am weitesten entfernten Leute, wenn sie eine Möglichkeit sahen, andre, die näher an der Thüre waren, zu vertreiben, blutend hervorstürzten, ihre Matratzen an den so gewonnenen Stellen niederlegten und sich an dem eisernen Geländer festhielten. Um 8 Uhr Morgens erschien Dolby mit den in einen Mantelsack gepackten Billetten. Er wurde sofort begrüßt mit einem lauten Geschrei: Holla, Dolby! Karlchen hat Dir also seinen Wagen geliehen. Hat er, Dolby? Wie geht es ihm, Dolby? Laß die Billette nicht fallen, Dolby! Mach schnell, Dolby! u. s. w. – in dessen Mitte er zu seinem Geschäfte schritt, das er, wie gewöhnlich, unter allgemeiner Unzufriedenheit beschloß. Er geht jetzt auf eine kleine Reise, um sich zu orientiren, und wird dann schnell zurückkommen. Diese kleine Reise (nach Chicago) ist 350 Meilen mit der Eisenbahn und dann noch die Rückfahrt.« Dies mochte anstrengend sein für den Engländer, aber es war nichts für den geborenen Amerikaner. Es machte, wie Dickens mir erzählte, einen Theil des gewöhnlichen Lebens seines Wirthes in New-York aus, im Verlauf einer Woche, an einem Montag, nach Chicago zu fahren und dort nach seinem Theater zu sehen, nach Boston zurückzurasseln und sich dort sein Theater anzusehen an einem Donnerstage, und nach New-York zu eilen an einem Freitage, um dort seinem ungeheuern Ballet eine Rede zu halten.
Drei Tage später schrieb er, ebenfalls noch aus New-York, an seine Schwägerin. »Ich reise heute Abend zu dem ersten der drei Besuche von je zwei Abenden nach Philadelphia, wo die Billette schon alle verkauft sind. Meine Erkältung will durchaus nicht weichen, aber übrigens bin ich so wohl, als bei dieser angestrengten Arbeit möglich ist. Meine Vorlesungen in New-York sind (mit Ausnahme der Abschiedsabende) vorüber und ich athme auf in dem Gedanken an die Beendigung dieses anstrengendsten Theils meiner Arbeit. Am Freitag war ich zuletzt wieder vollständig erschöpft, und wurde nochmals auf ein Sopha gelegt. Aber nach einer Weile ging die Mattigkeit vorüber. Wir haben jetzt kaltes, helles, frostiges Wetter, ohne Schnee. Das beste Wetter für mich.« Am nächsten Tage schrieb er von Philadelphia an seine Tochter, daß er in dem Continental-Hotel, einem der gewaltigsten amerikanischen Gasthöfe, einquartiert sei, aber grade so ruhig darin wohne wie anderswo. »Alles ist sehr gut, mein Kellner ist ein Deutscher und der größere Theil der Diener scheint aus Farbigen zu bestehen. Die Stadt ist sehr rein und der Tag so blau und hell wie ein schöner italiänischer Tag. Aber es friert sehr stark und meine Erkältung hat sich nicht gebessert. Denn die Eisenbahnwagen waren so unerträglich heiß, daß ich oft auf die äußere Galerie hinaustreten mußte, und dann biß die frostige Luft mich allerdings. Ich finde es nothwendig (so drückt dieser amerikanische Katarrh, wie man es nennt, mich nieder), um drei statt um vier zu diniren, damit ich mehr Zeit habe, Stimme zu bekommen; so werden die Tage abgekürzt und das Briefschreiben ist nicht so leicht.«
Er fand nichts destoweniger Zeit, mir aus dieser Stadt (14. Januar) die interessantesten Mittheilungen zu machen über die Ansichten, die er sich, abgesehen von seinem Hauptzwecke, während seines damaligen Besuches gebildet hatte. In Bezug auf das schon an einer früheren Stelle hierüber Mitgetheilte, Vgl. Bd. II. S. 18. braucht nur noch wiederholt zu werden, daß er, obgleich der Ton der Parteipolitik ihm noch einen ungünstigen Eindruck machte, doch in socialer Hinsicht überall einen großen Umschwung zum Besseren erkannte. Ich will nun andere Punkte aus demselben Briefe hinzufügen. Daß er es in Beziehung auf die Politik mit der Zeit seines Besuchs in New-York unglücklich getroffen hatte, wurde durch spätere Ereignisse unwiderleglich bewiesen. »Das irische Element gewinnt einen so ungeheuern Einfluß in der Stadt New-York, daß, wenn ich daran denke und die große römisch-katholische Kathedrale sehe, die sich dort erhebt, es mir unbillig scheint, andre monströse Dinge, die man auch sieht, als amerikanisch zu brandmarken. Aber die allgemeine Corruption in der lokalen Finanzverwaltung scheint staunenerregend und mehrere Gerichtshöfe zeigen beunruhigende Symptome, die, wie ich fürchte, im Lande geboren sind. Ein Fall kam neulich zu meiner Kenntniß, wobei es, nach den Mittheilungen, welche mir von einer Person gemacht wurden, die Interesse daran hatte einen richterlichen Bescheid zu vermeiden, vollkommen klar war, daß seine erste Sorge gewesen war, ›dem Richter seine Aufwartung zu machen‹.« Dann gibt er ein Beispiel von jener gelegentlichen provinciellen Sonderbarkeit, die, obgleich harmlos an sich, doch in großen Städten sich auffallend äußerte durch eine Art halber Enttäuschung über das geringe Aufheben, das er selbst von den Vorlesungen machte, und in den Zeitungsbemerkungen über ›Mr. Dickens' außerordentliche Gemüthsruhe‹ auf der Platform. »Gestern Abend hier in Philadelphia (meinem ersten Abend) war eine sehr erregbare und angeregte Zuhörerschaft so erstaunt über mein einfaches Hereinkommen und Oeffnen meines Buches, daß ich nicht wußte, was eigentlich los sei. Sie dachten offenbar, ein Trompetenstoß hätte den Anfang verkündigen und Dolby hineingeschickt werden sollen, um auf mich vorzubereiten. Bei ihnen erregt die Einfachheit des Vorganges Staunen. In den Zeitungen wird man sich nicht darüber klar, daß ›Mr. Dickens' außerordentliche Gemüthsruhe‹ für den künstlerischen Eindruck des Ganzen nothwendig ist, sondern beobachtet sie mit einem geheimen Zweifel, ob sie nicht vielleicht eine Geringschätzung der Zuhörerschaft bedingt. Beides fällt mir als komisch charakteristisch auf.«
Sein Zeugniß über die Verbesserung der socialen Gewohnheiten und Lebensweise ist in sehr entschiedenen Ausdrücken gehalten. »Es scheint mir nur vernünftig, zu erwarten, daß ich, indem ich westwärts gehe, die alten Sitten vor mir herschreiten sehen und vielleicht auf ihren Saum treten werde. Aber bis jetzt erlebe ich nicht mehr Zudringlichkeit und Langeweile, als wenn ich dasselbe Leben in England führe. Ich schreibe dies in einem gewaltigen Hotel, aber ich lebe so ruhig in meinen Zimmern und bleibe so vollkommen ungestört, als wäre ich in dem Eisenbahnhotel in York. Ich habe jetzt in New-York vor 40,000 Leuten gelesen und bin in den Straßen dort ebenso bekannt, als in London. Die Leute kehren wohl um, kehren sich noch einmal um, kommen mir entgegen und sehen mich an oder sagen zu einander: ›Seht, da kommt Dickens!‹ Aber Niemand bleibt je stehen, oder redet mich an. Als ich eines Tages vor dem Postamt in New-York im Wagen saß und las, während einer vom Stabe drinnen die Briefe mit Marken versah, wurde ich mir bewußt, daß einige Leute vor der Thüre mich erkannt hatten. Als ich gutmüthig hinausblickte, trat Einer von ihnen (er sah wie der Buchführer eines Kaufmanns aus) an den Wagen heran, nahm den Hut ab und sagte freimüthig: ›Mr. Dickens, ich möchte sehr gern die Ehre haben, Ihnen die Hand zu drücken‹ – und nachdem dies geschehen, stellte er zwei Andre vor. Nichts konnte ruhiger oder weniger zudringlich sein. Wenn ich in dem Eisenbahnwagen sehe, daß irgend Jemand offenbar mit mir zu sprechen wünscht, so komme ich ihm gewöhnlich zuvor, indem ich ihn selbst anrede. Wenn ich draußen auf der Galerie stehe (um den unerträglichen Ofen zu vermeiden), so sagen wohl Leute, die aussteigen: ›Da ich fortgehe, Mr. Dickens, und Sie nicht mehr als einen Augenblick belästigen kann, möchte ich Ihnen gern die Hand drücken, Sir.‹ Und so drücken wir uns die Hand und gehen unserer Wege . . . Viele meiner Eindrücke gewinne ich natürlich durch die Vorlesungen. So finde ich, daß die Leute leichter und humoristischer sind als früher; und alle Classen müssen ein gutes Theil unschuldige Einbildungskraft besitzen, sonst könnten sie nicht mit so außerordentlichem Vergnügen an der Erzählung des Hausknechts von dem Entlaufen der zwei kleinen Kinder hängen. Sie scheinen die Kinder zu sehen, und die Frauen ergehen sich in einer schrillen Begleitung, halb des Mitleids, halb der Freude, die ganz rührend ist. Heute Abend findet meine sechsundzwanzigste Vorlesung statt; aber da alle Billette für vier weitere Vorlesungen in Philadelphia, sowie für vier in Brooklyn schon verkauft sind, mußt Du annehmen, daß ich bei meiner fünfunddreißigsten Vorlesung angelangt bin. Ich habe an Coutts mehr als 10,000 Pfd. St. in Gold überschickt, und nach meiner Veranschlagung wird mir Dolby noch 1000 Pfd. St. mehr für diese Vorlesungen auszuzahlen haben. Diese Zahlen bleiben vorläufig natürlich unter uns; aber sind sie nicht glänzend? Die Ausgaben, mußt Du immer bedenken, sind ungeheuer. Andererseits haben wir hier keine Veranlassung gefunden, Anschlagezettel irgend welcher Art zu drucken (das Drucken und Vertheilen der Anschlagezettel bilden große Ausgaben in England) und wir haben eben eine Papiermasse von 90 Pfd. St. Werth, die schon im Voraus für Anschlagezettel beschafft war, als eine völlig nutzlose Last verkauft.«
Dann kam, wie immer, der beständige Schatten, der ihn begleitete: Der Sklave in seinem Triumphwagen. »Die Arbeit ist sehr anstrengend. Es ist jetzt keine Aussicht da, daß ich diesen amerikanischen Katarrh los werde, ehe ich mich nach England einschiffe. Es ist äußerst lästig. Nicht selten geschieht es auch, daß ich so vollständig erschöpft bin, wenn ich aufhöre, daß man mich, nachdem ich gewaschen und angekleidet bin, auf ein Sopha legt, wo ich dann eine Viertelstunde sehr matt daliege. In dieser Zeit erhole ich mich gewöhnlich und bin wieder wohl.« Eine Woche später schrieb er aus New-York, wo er sich am 16. zu der ersten seiner vier Vorlesungen in Brooklyn hatte einstellen müssen, an seine Schwägerin: »Meine Erkältung hält an mir fest und ich kann nicht sagen, was ich durch Schlaflosigkeit leide. Ich nehme selten mehr zum Frühstück als ein Ei und eine Tasse Thee – nicht einmal Toast oder Butter-Brot. Mein kleines Dîner um Drei und eine Wachtel oder etwas Leichtes der Art, wenn ich Abends nach Hause komme, bilden meine täglichen Mahlzeiten, und in der Lesehalle habe ich die Gewohnheit eingeführt, ein mit Sherry geschlagenes Ei zu mir zu nehmen ehe ich hineingehe, und noch eins in der Pause zwischen den beiden Abtheilungen, was mich, wie ich glaube, stärkt . . . Es schneit jetzt stark und morgen gehe ich wieder auf Reisen. Es ist so viel Treibeis im Flusse, daß wir ziemlich viel Extrazeit zusetzen müssen, wenn wir mit der Fähre zu der Vorlesung hinüberfahren.« Die letzte der Vorlesungen jenseits der Fähre fand an dem Tage statt, als dieser Brief geschrieben wurde. »Ich kam heute Abend in meiner Kirche zum Schlusse. Es ist die Kirche des Bruders von Mrs. Stowe und ein wunderbares Lokal zum Reden. Wir hatten sie gestern Abend ( Marigold und der Proceß) ungeheuer voll; aber es erforderte kaum eine Anstrengung. Da Mr. Ward Beecher in seinem Stuhle zugegen war, ließ ich ihn bitten, zu mir zu kommen, ehe er fortging. Ich fand in ihm einen anspruchslosen, offenbar fähigen, offnen und angenehmen Mann, außerordentlich gut unterrichtet und wohl bewandert in der Kunst.«
Baltimore und Washington waren die Städte, wo Dickens jetzt, nachdem er New-York verlassen, zum erstenmal lesen sollte; und in Bezug auf die letztere erhoben sich Zweifel. Man hatte dort das ausnahmsweise Verfahren eingeschlagen, eine Halle mit Raum für nicht mehr als 700 Leute auszuwählen und für jeden Platz fünf Dollars angesetzt. Dickens hatte dem anfangs entschieden widersprochen, dann aber dem Argument nachgegeben, daß man »in New-York, Dank den Speculanten, noch mehr Leute habe, die fünf Dollars für den Abend bezahlten«. Jetzt aber kamen andere Einwendungen. »Horace Greeley dinirte vorigen Sonnabend bei mir,« schrieb er am 20., »und wollte nicht davon hören, daß ich nach Washington ginge, das jetzt voll ist von den größten Rowdies und der schlechtesten Art von Volk in den Vereinigten Staaten. Gestern Abend um elf kam B., der ähnliche Zweifel laut werden ließ, und obgleich sie albern sein mögen, hielt ich sie doch der Beachtung werth, da B. so bald nach Greeley kam.« Dolby wurde demnach besonders nach Washington geschickt, mit Vollmacht, die Vorlesungen abzusagen oder in Gang zu bringen, je nachdem Erkundigungen an Ort und Stelle das Eine oder das Andere erheischen möchten, und Dickens faßte zugleich den Entschluß, die letzten Anordnungen seiner Tour insoweit abzuändern, daß er die Entfernungen von Chicago, St. Louis und Cincinnati vermied, sich mit kleineren Orten und Einnahmen begnügte, und dadurch einen Monat früher in die Heimath zurückkehrte. Er war in Philadelphia, am 23. Januar, als er diese Absicht ankündigte. »Das Schlimmste ist, daß Jeder, den man um Rath fragt, eine Monomanie in Bezug auf Chicago hat. ›Guter Gott, Sir,‹ sagte die große Philadelphiaer Autorität heute Morgen zu mir, ›wenn Sie nicht in Chicago lesen, werden die Leute in Krämpfe fallen!‹ Nun, antwortete ich, es wäre mir lieber, wenn sie in Krämpfe fielen als ich. Aber das schien ihm nicht im mindesten einzuleuchten.«
Aus Baltimore schrieb er seiner Schwägerin am 29., in einer freien Stunde vor seiner Rückkehr nach Philadelphia. »Es hat seit vierundzwanzig Stunden stark geschneit, obgleich dieser Ort so südlich liegt, wie Valentia in Spanien, und mein Geschäftsführer, der auf dem Wege nach New-York ist, hat eine gute Aussicht, irgendwo eingeschneit zu werden. Dies ist einer der Orte, wo Butler während des Krieges sein Gewaltregiment führte, und wo die Damen auszuspucken pflegten, wenn sie einem nördlichen Soldaten begegneten. Es sind sehr schöne Frauen, mit einem orientalischen Anflug, und kleiden sich glänzend. Ich habe selten so viele schöne Gesichter in einer Zuhörerschaft gesehen. Sie sind auch ein intelligentes verständnißvolles Volk und es liest sich sehr angenehm vor ihnen. Meine Halle ist ein allerliebstes, von einer Gesellschaft von Deutschen gebautes kleines Opernhaus, ein vorzügliches Lokal für meinen Zweck. Ich stehe auf der Bühne, während der Vorhang niedergelassen wird und mein Schirm davor steht. Die ganze Scene ist sehr hübsch und vollständig; und die Zuhörer haben einen Klang in sich, der tiefer dringt als in's Ohr. Ich gehe von hier nach Philadelphia, wo ich morgen Abend und am Freitag lese; komme hier wieder durch auf meiner Rückkehr nach Washington, komme hierher zurück am Sonnabend über acht Tage, zu meinen beiden Abschiedsvorlesungen, gehe dann nach Philadelphia zu zwei Abschiedsvorlesungen – und kehre damit dem südlichen Theile des Landes den Rücken. Unser neuer Plan wird im Ganzen 82 Vorlesungen umfassen.« (Die wirkliche Zahl war 76, da sechs in Folge späterer politischen Aufregungen unterlassen wurden.) »Natürlich entdeckte ich nachher, daß wir die Liste schließlich an einem Freitage festgestellt hatten. Ich werde bis zur Hälfte kommen in Washington, – natürlich auch an einem Freitage und meinem Geburtstage.« Mir schrieb er Tags darauf aus Philadelphia und begann mit einem Gott sei Dank, daß er Canada und den Westen ausgestrichen hatte, denn er fand die Anstrengung ›ungeheuer‹. »Dolby kam zu dem Schlusse, daß die Unglückspropheten in Washington Unrecht hätten und ging mit der Sache voran, um so mehr als seine höheren Preise, die er schließlich auf drei Dollars feststellte, Beifall fanden. Fields ist so vertrauensvoll in Bezug auf Boston, daß der Rest meiner Liste in Allem noch 14 Vorlesungen für dort enthält. Ich weiß nicht, wie viele wir hier noch gehabt haben könnten (wo mir auch sonst Aufmerksamkeiten bewiesen wurden, die mir sehr angenehm waren), hätten wir gewollt. Die Billette werden jetzt zu zehn Dollars das Stück wiederverkauft. In Baltimore hatte ich ein allerliebstes kleines Theater und eine sehr verständnißvolle lebhafte Zuhörerschaft. Es ist merkwürdig zu sehen, wie der Geist der Sklaverei noch in der Stadt spukt, und wie der schlenkernde, unreinliche, ausweichende und aufschiebende Ununterdrückbare sich bei seiner freien Arbeit benimmt, rund um sie herumgeht, statt sie frisch anzufassen. Die melancholische Absurdität, diesen Leuten Voten zu geben, wenigstens schon jetzt, würde Einem aus jedem Rollen ihrer Augen, aus jedem Lachen ihrer Münder und jedem Buckel ihrer Köpfe entgegenstarren, wenn man nicht sähe (hier im Lande nicht umhin kann zu sehen), daß ihre politische Emancipation ein Parteikniff ist, um Voten zu bekommen. Als ich neulich im Zuchthause war (dies fällt mir ein, da ich von Voten rede) und die Bücher dort ansah, bemerkte ich, daß fast jeder Mann einen oder zwei Tage vor dem Ablauf seiner Strafzeit ›begnadigt‹ war. Warum? Weil er, wenn er seine volle Zeit abgesessen hätte, ispo facto sein Stimmrecht verloren haben würde. So wendet man denn diese Form der Begnadigung an, um sein Votum zu retten, und da jeder Gefängnißbeamte seine Stelle nur auf Grund der Partei bekleidet, der er angehört, so stimmen seine hoffnungsvollen Klienten natürlich für die Partei, welche sie herausgelassen hat . . . Als ich in Beecher's Kirche in Brooklyn las, fanden wir, daß die Vorsteher die Thatsache unterdrückt hatten, daß eine gewisse 150 Personen fassende obere Galerie ›die farbige Galerie‹ sei. Am ersten Abend konnte nicht eine Seele bewogen werden, hineinzugehen, und erst als es am folgenden Tage bekannt wurde, daß ich keinesfalls mehr als viermal dort lesen würde, gelang es uns, sie zu füllen. Eines Abends in New-York saßen auf unserer zweiten oder dritten Reihe zwei gut gekleidete Frauen mit einem Anflug von Farbe – wie mir schien, nicht einmal Quadronen. Aber ein Mensch, der ein Billet für den ihnen zunächst befindlichen Sitz hatte, fragte Dolby, ›wie er sich unterstehen könne, ihn neben diese zwei gottverfluchten Negerweiber zu setzen?‹ und bestand darauf, daß ihm ein andrer guter Platz angewiesen werde. Dolby antwortete mit Entschiedenheit, er sei vollkommen überzeugt, Mr. Dickens werde einen solchen Einwand unter keiner Bedingung berücksichtigen, aber wenn er wolle, könne er sein Geld zurück haben. Was denn auch nach einigem Gezänk geschah. In einer komischen Scene in dem New-Yorker Circus, den ich eines Abends besuchte, setzten vier Weiße sich auf eine Bank in einem Barbierladen, um sich rasiren zu lassen. Ein Farbiger kam als fünfter Kunde herein und die vier liefen sofort hinaus. Hierüber lachte man sehr und klatschte Beifall. In dem Zuchthaus in Baltimore essen die weißen Sträflinge auf einer Seite des Zimmers, die farbigen Sträflinge auf der andern und Niemandem fällt es ein, sie zusammenzusetzen. Aber es ist eine unzweifelhafte Thatsache, daß nicht grade die angenehmsten Ausdünstungen entstehen, wenn man eine Anzahl von Farbigen zusammenbringt, und ich mußte mich eiligst aus ihren Schlafzimmern entfernen. Ich glaube fast, daß sie hier schnell aussterben werden. Wenn man sie ansieht, scheint es so vollkommen thöricht, für möglich zu halten, daß sie sich je gegen eine rastlose, talentvolle, vorwärtsstrebende stärkere Race behaupten können.«
Am 4. Februar schrieb er aus Washington. »Du wirst gern durch eine Zeile hören, daß hier Alles in Ordnung ist und daß die Unglückspropheten sich einfach lächerlich gemacht haben. Ich fing gestern Abend an. Eine sehr hübsche Zuhörerschaft, nicht die mindeste Unzufriedenheit über die erhöhten Preise, nichts verfehlt oder verloren, Cheers am Ende des Weihnachtsliedes und während des ganzen Vortrages ein Beifallssturm nach dem andern. Alle angesehenen Leute und deren Familien hatten Billette für sämmtliche vier Vorlesungen genommen. Die Halle ist klein, dennoch betrug die Einnahme für den Abend 300 Pfd. St.« Es wird keine Verletzung der Regel sein, der zufolge ich Privatnachrichten vermeide, wenn der sehr interessante Schluß dieses Briefes mitgetheilt wird. Die darin enthaltene Anekdote von Präsident Lincoln wurde von Dickens nach seiner Rückkehr wiederholt erzählt, und es liegt mir nicht ob, die Autorität von Sumner's Namen vorzuenthalten. »Ich werde morgen den Präsidenten sehen, der zweimal nach mir geschickt hat. Ich dinirte vorigen Sonntag, gegen meine Regel, bei Charles Sumner, und da ich mir ausbedungen hatte, daß keine Gesellschaft da sei, war, außer seinem Sekretär, der Kriegsminister Stanton der einzige Gast. Stanton ist ein Mann mit einem sehr merkwürdigen Gedächtniß, und außerordentlich vertraut mit meinen Büchern. Da er und Sumner die ersten beiden öffentlichen Männer waren, die an dem Sterbebette des Präsidenten erschienen und bei ihm blieben, bis er verschied, geriethen wir nach dem Dîner in ein sehr interessantes Gespräch, bei dem, da jeder der Beiden die Sache besonders erzählte, die gewöhnlichen Abweichungen in Bezug auf Einzelheiten der Zeit bemerkbar waren. Dann erzählte Stanton mir eine merkwürdige kleine Geschichte, welche den Rest dieses kurzen Briefes bilden soll.
»Am Nachmittage des Tages, an welchem der Präsident erschossen wurde, fand ein Ministerrath statt, bei dem er den Vorsitz führte. Stanton, der damals Oberbefehlshaber der um Washington concentrirten nördlichen Truppen war, kam ziemlich spät. In der That wartete man auf ihn, und als er ins Zimmer trat, brach der Präsident mitten in einem Satze ab und bemerkte: »Zu unserm Geschäft, meine Herren.« Stanton sah dann mit großer Ueberraschung, daß der Präsident mit einem Ausdruck von Würde auf seinem Stuhle saß, statt wie sonst seine Gewohnheit war, sich in den wunderlichsten Attitüden darauf herumzuräkeln und daß er, statt zwecklose oder zweideutige Geschichten zu erzählen, ernst und ruhig war und ein ganz verschiedener Mensch. Als Stanton den Ministerrath mit dem Generalfiscal verließ, sagte er zu diesem: ›Das ist die befriedigendste Kabinetssitzung, bei der ich seit langer Zeit zugegen gewesen bin! Welch' außerordentliche Veränderung ist in Lincoln vorgegangen!‹ Der Generalfiscal erwiederte: ›Wir Alle sahen es, ehe Sie hereinkamen. Während wir auf Sie warteten, sagte er, mit dem Kinn auf der Brust: ›Meine Herren, etwas sehr Außerordentliches wird geschehen und zwar sehr bald.‹ Worauf der Generalfiscal bemerkt hatte: Hoffentlich etwas Gutes, Sir! und der Präsident sehr ernst antwortete: ›Ich weiß nicht, ich weiß nicht; aber geschehen wird es, und in Kurzem.‹ Da ihnen Allen seine Art und Weise auffiel, nahm der Generalfiscal die Sache wieder auf: ›Haben Sie vielleicht Nachrichten erhalten, Sir, die uns noch unbekannt sind?‹ – ›Nein,‹ antwortete der Präsident; ›aber ich habe einen Traum gehabt. Und ich habe jetzt denselben Traum dreimal gehabt. Einmal in der Nacht vor der Schlacht bei Bull Run. Einmal in der Nacht vor‹ – irgend einer andern Schlacht, die auch gegen den Norden ausfiel. Sein Kinn sank wieder auf seine Brust und er saß nachdenklich da. ›Dürfte man fragen, was für ein Traum das war, Sir?‹ sagte der Generalfiscal. ›Nun,‹ antwortete der Präsident, ohne den Kopf zu erheben oder seine Stellung zu verändern: ›Ich bin auf einem großen, breiten, rollenden Fluß – und ich bin in einem Boot – und ich treibe dahin – und ich treibe dahin! – Aber das gehört nicht zu unserm Geschäft‹ – unterbrach er sich, indem er plötzlich den Kopf erhob und sich an dem Tische umblickte, als Stanton eintrat, ›zu unserm Geschäft, meine Herren!‹ Stanton und der Generalfiskal sagten, als sie zusammen fortgingen, es werde interessant sein zu sehen, ob etwas hierauf geschehen werde und sie kamen überein, Acht zu geben. Au jenem Abend wurde er erschossen.«
An seinem Geburtstage, den 7. Februar, hatte Dickens seine Zusammenkunft mit dem Präsidenten Andrew Johnson. »Dies zusammengestoppelte Geschreibsel wird heute Morgen wieder aufgenommen, weil ich grade den Präsidenten gesehen habe, der mich sehr höflich gebeten hatte, die Zeit festzusetzen, die mir am besten passe. Er ist ein Mensch mit einem merkwürdigen Gesicht, das Muth, Wachsamkeit und ganz gewiß Willensstärke anzeigt. Es ist ein Gesicht von dem Webster-Typus, aber ohne den Schwung von Webster's Gesicht. Er würde mir überall als eine bemerkenswerthe Persönlichkeit aufgefallen sein. Seine Figur ist für einen Amerikaner etwas stark, ein wenig unter Mittelgröße; die Hände hält er vorn zusammen, seine Art und Weise ist vorsichtig, zurückhaltend, ängstlich. Jeder von uns sah den Andern scharf an . . . Ich sah ihn in seinem eignen Kabinet. – Als ich fortging, fuhr Thornton Der englische Gesandte in Washington. – D. Uebers. in einem Galaschlitten vor, um seine Vollmachten zu überreichen. Um 12 sollte ein Kabinetsrath stattfinden. Das Zimmer erinnerte an das Vorzimmer des Saals in einem Londoner Club. An den Wänden nur zwei Kupferstiche: einer sein eignes Porträt, der andere das Porträt Lincoln's. In dem äußeren Zimmer saß ein gewisser sonnverbrannter General Blair, mit vielen Spuren des Krieges an sich. Er stand auf, um mir die Hand zu drücken und erinnerte sich dann, daß er vor fünfundzwanzig Jahren mit mir auf die Prairie hinausgefahren war . . . Da die Zeitungen erwähnt hatten, heute sei mein Geburtstag, ist mein Zimmer mit den seltensten Blumen angefüllt. Einige Tage später beschrieb er es seiner Tochter. »Ich mußte an meinem Geburtstage in Washington über mich selbst lachen, er wurde gefeiert, als wäre ich ein kleiner Junge. Die schönsten Blumen und Kränze, in allen möglichen grünen Körben arrangirt, blühten in dem ganzen Zimmer, Briefe, strahlend von guten Wünschen, strömten herein, eine Brustnadel, eine schöne silberne Reiseflasche, ein Paar goldene Hemdenknöpfe und ein Paar goldene Manschettenknöpfe lagen auf dem Mittagstisch. Auch wurde die Lesehalle Abends durch unbekannte Hände geschmückt, und nach dem Hausknecht im Holly Tree erhob sich die ganze Zuhörerschaft und applaudirte weiter, große Leute und Alle, bis ich an den Tisch zurückging und ihnen eine kleine Rede hielt.« Sie strömten zur Frühstückszeit von allen möglichen Leuten herein. Die Zuhörerschaften sind hier wirklich ausgezeichnet. So bereit zu lachen oder zu weinen und in beidem so ergiebig, daß man sie eher für Manchester-Shillinge als für Washingtoner Halbe Pfunde Sterling halten möchte. Ach, ach! meine Erkältung ist schlimmer als je.« Dasselbe hatte er auch am Anfang des Briefes geschrieben.
Die erste Vorlesung hatte vier Tage früher stattgefunden und wurde seiner Tochter in einem Briefe vom 4. Februar, nebst einem im Verlaufe derselben vorgekommenen komischen Vorfall beschrieben. »Das Gas ließ gestern Abend viel zu wünschen übrig und ich begann mit einer kleinen Rede des Inhalts, daß ich mich hinsichtlich der Erleuchtung meines Gesichtes auf die Helligkeit der ihrigen verlassen müsse. Dies gefiel sehr. In dem Weihnachtsliede ereignete sich ein höchst lächerlicher Vorfall. Ganz plötzlich sah ich einen Hund aus den Sitzen im Mittelschiff hervorspringen und mich sehr aufmerksam betrachten. Da die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich gerichtet war, glaube ich nicht, daß Jemand den Hund sah; aber ich war so gewiß, er werde wieder zum Vorschein kommen und bellen, daß ich fortwährend mit dem Auge nach ihm herumsuchte. Es war ein sehr komischer Hund und es war gut für mich, daß ich grade einen komischen Theil des Buches las. Aber als er wieder an einem ganz neuen Orte in das Mittelschiff hinaussprang, und (mich noch immer aufmerksam betrachtend) die Wirkung eines Gebells auf mein Verfahren versuchte, wurde ich von einem solchen Anfall von Lachen ergriffen, daß es sich der Zuhörerschaft mittheilte, und wir laut und lange auf einander loslachten.« Drei Tage später kam die Fortsetzung in einem Briefe an seine Schwägerin. »Ich erwähnte wohl den Hund an dem ersten Abend hier. Am folgenden Abend glaubte ich, ich hörte (in Copperfield) ein plötzlich unterdrücktes Bellen. Es begab sich folgendermaßen. Einer unsrer Leute, der grade in der Thüre stand, fühlte eine Berührung an seinem Beine und sah, als er niederblickte, einen Hund, der mich aufmerksam betrachtete und offenbar grade anfangen wollte, zu bellen. In einer Verzückung von Geistesgegenwart und Wuth packte er ihn sofort mit beiden Händen und warf ihn über seinen eignen Kopf hinaus in den Eingang, wo die Billeteinnehmer ihn wie einen Ball auffingen. Gestern Abend kam derselbe Hund wieder, mit einem andern Hunde; aber unsere Leute paßten ihm so scharf auf, daß er nicht hineinkam. Er hatte dem andern Hunde offenbar freien Eintritt versprochen.«
Was in diesem Briefe von einem noch thätigen, hoffnungsvollen, lebensfrohen, energischen Geiste zum Ausdruck kommt, der es vermochte, sich gegen Krankheit des Körpers zu behaupten und dieselbe in gewissem Maaße zu überwinden, übte auch auf seine Umgebung einen so starken Einfluß, daß sie, obgleich Zeugin seiner Leiden, es doch schwer fand, den Umfang derselben zu verstehen. Die Traurigkeit, welche so seinen Triumphen immer zu Grunde lag, macht dies Alles sehr tragisch. »An jenem Nachmittage meines Geburtstages,« schrieb er am 11. Februar aus Baltimore, »war mein Katarrh so schlimm, daß Charles Sumner, der um fünf Uhr kam und mich mit Senfpflastern bedeckt und anscheinend stimmlos fand, sich an Dolby wendete und sagte: ›Gewiß, Mr. Dolby, heute Abend kann er unmöglich lesen!‹ Worauf Dolby sagt: ›Sir, ich habe dies Mr. Dickens heute schon viermal erklärt, und bin sehr besorgt um ihn gewesen. Aber Sie können sich nicht vorstellen, wie anders er wird, wenn er an den kleinen Tisch tritt.‹ Nach fünf Minuten am kleinen Tische war ich (für den Augenblick) nicht einmal heiser. Die häufige Erfahrung dieser Wiederkehr meiner Kraft, wenn ich sie nöthig habe, erspart mir viele Besorgniß; aber mitunter empfinde ich eine nervöse Furcht, daß ich einmal vollständig zusammenbrechen könnte.« Ueber dieselbe Sache bemerkte er in einem andern Briefe: »Dolby und Osgood« (der Letztere vertrat die Verlagshandlung von Mr. Fields und gehörte zu der Reiseverwaltung) »thun die lächerlichsten Dinge, um mich in guter Stimmung zu halten. Dolby trug, ohne es zu wissen, um diese Zeit zu demselben erfreulichen Resultate bei, indem er Anzeigen veröffentlichte mit folgenden Worten: »Die Vorlesung wird zwei Minuten dauern und die Zuhörer werden ernstlich gebeten, zwei Stunden vor dem Beginn derselben an ihren Plätzen zu sein.« Er hatte die Minuten und die Stunden transponirt. (Ich fühle mich oft gedrückt und schlafe selten viel.) Sie haben beschlossen, am ersten Tage des Februars in Boston einen Geh-Wettkampf zu veranstalten, zur Feier des Tages wenn ich sagen kann: Nächsten Monat nach Hause!« Der Geh-Wettkampf endete mit der Niederlage des Engländers, welche Dickens in doppelter Weise denkwürdig machte, durch eine Darstellung des amerikanischen Sieges, im Style der Sporting-Zeitungen und durch ein einer Gesellschaft lieber Freunde in Boston gegebenes Dîner.
Nach Baltimore las er wieder in Philadelphia, woher er seiner Schwägerin am 13. über einen charakteristischen Zug schrieb, den er an beiden Orten bemerkt hatte. »Die Leute lassen sich durch nichts bewegen, an die Abschiedsvorlesungen zu glauben. Am Dienstag Abend in Baltimore (einem sehr glänzenden Abend) fragten sie, als sie herauskamen: ›Wann wird Mr. Dickens wieder hier lesen?‹ – ›Nie.‹ – ›Unsinn! Nach solchen vollen Häusern nicht wieder kommen? Flink, sagen Sie uns, wann er wieder lesen wird!‹ Grade so hier. Wir könnten sie ebenso leicht überreden, daß ich der Präsident bin, als daß ich morgen Abend hier zum letztenmal lesen werde . . . Es ist ein Kind hier im Hause – ein kleines Mädchen – der ich eine schwarze Puppe schenkte, als ich zuletzt hier war, und da ich eben, seit ich anfing dies zu schreiben, ihr Auge am Schlüsselloch gesehen habe, glaube ich, sie und die Puppe müssen noch draußen sein. ›Als Du sie mir durch den farbigen Jungen hinausschicktest,‹ sagte sie nach dem Empfang der Puppe (farbiger Junge ist der Ausdruck für einen schwarzen Kellner), ›schrie ich so laut, daß Mama herunter gelaufen kam und auch schrie, weil sie meinte, ich hätte mir weh gethan, aber ich schrie einen Freudenschrei.‹ Sie hatte an jenem Tage eine Freundin zum Spielen bei sich und brachte ihre Freundin mit – zu meiner größten Beunruhigung. Eine Freundin, die ganz aus Strümpfen bestand und viel zu groß war, die auf dem Sopha sehr weit zurück saß, während ihre Strümpfe nach vorn steif hervorsteckten, und die mich anstarrte und kein Wort sprach. Dolby fand uns in einer Art von Verzauberung einander gegenüber, wie Schlange und Vogel.«
Am 15. war er wieder in New-York, mitten in neuen Kämpfen mit den Speculanten. Diese Kämpfe schlossen sogar Anklagen auf Betrug bei Billetverkäufen in Newhaven und Providence ein, wo die Mayors Indignationsmeetings gehalten und sein Geschäftsführer vergebliche Versuche gemacht hatte, den Zorn zu besänftigen. »Ich erwarte ihn hier jetzt, halb seiner Sinne beraubt, zurück, und ich würde der meinigen ganz beraubt sein, wenn die Lage nicht eben sowohl komisch als unangenehm wäre. Wir können in unserem Billetbüreau so viel verkaufen als wir wollen; aber wir können keine Billette von den Speculanten zurückkaufen, weil wir dem Publikum angekündigt haben, daß alle Billette verkauft sind, und selbst wenn wir uns das Opfer auferlegten, zu ihren Preisen zu kaufen und zu den unsern zu verkaufen, würde man uns anklagen; mit ihnen in Unterhandlung zu stehen und Geld dadurch zu machen.« In Providence endete die Sache damit, daß er selbst in die Stadt ging und eine Rede hielt; und in Newhaven endete sie damit, daß er das eingegangene Geld zurückschickte, mit der Bemerkung, daß er nicht lesen werde, ehe eine neue, von der ganzen Stadt gutgeheißene Vertheilung der Billette stattgefunden habe. Dies führte neue Unruhen herbei; aber er blieb bei seinem Entschlusse, die Vorlesungen aufzuschieben, bis die Leidenschaften abgekühlt wären, und was in der Mitte des Februar hätte gegeben werden sollen, gab er erst zu Ende März.
Die Vorlesungen, welche er in den kleineren entlegenen Orten, an der Grenze von Canada und in dem Niagaradistrikt, versprochen hatte, und die Syrakus, Rochester und Buffalo umfaßten, sollten in eben diesem Märzmonate stattfinden, der zwischen dem Schluß der gewöhnlichen Vorlesungen und den Abschiedsvorlesungen in den zwei Hauptstädten eine Pause machen sollte. Alle in New-York versprochenen Vorlesungen waren zum Abschluß gekommen, als er am 23. Februar von Boston zurückkehrte, bereit, die dort versprochene Anzahl noch zu vergrößern; aber eine plötzliche politische Aufregung trat ihm hindernd in den Weg. Es war der Monat, als die Abstimmung über die Anklage gegen den Präsidenten Johnson stattfand. »Es ist gut« (schrieb Dickens am 25. Februar), »daß das Geld bis jetzt so schnell eingegangen ist, denn ich befürchte, daß die große Aufregung über die Anklage gegen den Präsidenten unsere Einnahmen benachtheiligen wird. Die Abstimmung fand gestern Abend um 5 Uhr statt. Um 7 wurden die drei großen Theater hier, die alle, bis zu diesem Augenblicke, vortreffliche Geschäfte gemacht hatten, von Lähmung betroffen. Um 8 war unsre lange Reihe von Außenstehenden, die auf unbesetzte Plätze warteten, nirgends zu sehen. Heute hört man alle Leute in den Straßen nur von einer Sache reden. Ich werde meine, für nächste Woche versprochenen (aber glücklicherweise noch nicht angekündigten) Vorlesungen unterdrücken und den Gang der Dinge beobachten. Wie ich schon früher sagte, dauert nichts in diesem Lande lang, und ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß das Publikum bis zum 9. März, wo ich in einer beträchtlichen Entfernung von hier lese, den Namen des Präsidenten herzlich müde sein wird. Denke mich Dir also mit der Aussicht auf eine ganze Woche Ferien!« Zwei Tage später schrieb er seiner Schwägerin in erfreulicher Weise über seine Zuhörerschaften. »Sie sind dahin gekommen, die Vorlesungen und den Vorleser als ihr ganz besonderes Eigenthum zu betrachten, und es würde Dir zugleich Unterhaltung und Freude gewähren, könntest Du sehen, auf wie merkwürdige Weise sie dies vermehrte Interesse an beiden zeigen. So oft sie lachen oder weinen, applaudiren sie auch, und die Gesammtwirkung ist sehr anregend. Ich werde bis zum Sonnabend, den 7., hier bleiben; aber nach morgen Abend werde ich hier nicht wieder lesen vor dem 1. April, wo meine Abschiedsvorlesungen, sechs an der Zahl, beginnen.« Am 28. schrieb er: »Morgen über vierzehn Tage denken wir an den Niagarafällen zu sein, und dann werden wir zurückkommen und die Sache wirklich zu Ende bringen. Ich weiß das Weihnachtslied jetzt so gut, daß ich mich nicht daran erinnern kann und gelegentlich auf die wildeste Art herumirre, um verlorene Stücke aufzulesen. Es machte gestern Abend einen so ungeheuren Eindruck, daß ich alle fünf Minuten zum Stillstand kam. Ein armes, junges Mädchen in Trauer brach in einen leidenschaftlichen Schmerz aus über Tiny Tim, und wurde hinausgebracht. Wir hatten eine schöne Versammlung, und während ich in der Pause hinaus war, bedeckten sie den kleinen Tisch mit Blumen. Der Husten hat einen frischen Anlauf genommen, als wäre er etwas ganz Neues und ist heute schlimmer als je. Die Aufregung über den Präsidenten hat nachgelassen; aber die Anklageartikel sollen heute Nachmittag veröffentlicht werden, und dann mag sie von Neuem beginnen. Osgood kam gestern von einem Billetverkauf an entfernten Orten in's Lager zurück, und berichtet, daß in Rochester und Buffalo (beides nahe an der Grenze gelegene Orte) Billette von Leuten aus Canada gekauft wurden, die über den gefrornen Fluß gesetzt waren und alle möglichen Hindernisse überwunden hatten, um sie zu bekommen. Einige jener fernen Lesehallen erweisen sich als kleiner, als uns vorgestellt war, aber ich zweifle nicht – um einen amerikanischen Ausdruck zu gebrauchen – daß wir ›vom Fleck rücken‹ werden. Man kann vernünftigerweise nicht erwarten, daß die zweite Hälfte der Einnahmen der ersten gleichkommt, wenn man die politischen Zustände und alle andern Verhältnisse in Erwägung zieht.«
Sein altes Reiseunglück verfolgte ihn auch jetzt. An dem Tage, als er diesen Brief schrieb, begann ein Schneesturm, begleitet von einem heftigen Orkan, und nach all dem schlechten Wetter, das er schon überstanden, schrieb er am 2. März: »Dies ist der schlimmste Tag, den wir bis jetzt erlebt haben. Man telegraphirt, daß der Sturm eine ungeheure Strecke Landes durchweht, und daß er in Chicago ebenso stark ist, als hier. Ich hoffe, daß er einen Wendepunkt bezeichnet. Wir sind schon ganz krank von dem bloßen Ton der Schlittenglocken.« Die Wege waren so schlecht und die Züge verspäteten sich so, daß er einen Tag früher aufbrechen mußte, und am 6. März fing seine Tour nach Nordwesten an, während der Sturm noch raste und ein dichter Schnee fiel. Am 13. schrieb er mir von Buffalo.
»Wir gehen morgen zu unserem eignen Vergnügen nach den Niagarafällen und ich nehme alle meine Leute mit. Wir fanden vorigen Dienstag Rochester in einem sehr sonderbaren Zustande. Vielleicht weißt Du, daß die großen Fälle des Genesseeflusses (wirklich sehr schön, selbst in solcher Nähe des Niagara) sich an jenem Orte befinden. Auf dem Höhepunkt eines plötzlichen Thaues wollte eine ungeheure Eismasse oberhalb der Fälle nicht weichen, so daß die Stadt (zum zweitenmale in vier Jahren) mit Ueberschwemmung bedroht wurde. Boote waren in den Straßen bereit, alle Leute wachten die Nacht durch und Niemand, außer den Kindern, schlief. Mitten in der Stille der Nacht hörte man ein donnerartiges Getöse, das Eis gab nach. Der geschwollene Fluß raste und toste die Fälle hinab, und die Stadt war in Sicherheit. Sehr malerisch! aber nicht sehr gut für das Geschäft, wie unser Geschäftsführer sagt. Besonders da die Halle in dem Mittelpunkte der Gefahr steht und, bei Gelegenheit der letzten Fluth, zehn Fuß tief unter Wasser stand. Aber ich glaube, wir nahmen über 200 Pfd. St. englisch ein. An dem vorhergehenden Abend, in Syrakus – einem äußerst abgelegenen und unverständlich aussehendem Orte, anscheinend ohne Einwohner – hatten wir einige 375 Pfd. St. Hier hatten wir gestern Abend und werden heute Abend so viele Leute haben, als sich irgendwie in die Halle hineinpressen lassen.
»Dies Buffalo ist eine große und wichtige Stadt geworden, mit einem sehr starken deutschen und irischen Element in der Bevölkerung. Aber es ist sehr merkwürdig zu beobachten, indem wir uns der Grenze nähern, wie die amerikanische weibliche Schönheit ausstirbt und ein Frauenantlitz an deren Stelle tritt, das aus noch nicht verschmolzenen und noch nicht geformten deutschen, irischen, westamerikanischen und canadischen Charakteren roh zusammengesetzt ist. Unsre Schönheitsschau ist Abends gewöhnlich bemerkenswerth, aber gestern Abend hatten wir in der ganzen Masse nicht ein Dutzend hübsche Gesichter, und die Gesichter waren alle stumpf. Ich habe eben einen Spaziergang durch die Stadt gemacht und dasselbe in den Straßen gesehen . . . Der Winter ist so streng gewesen, daß das Hotel auf der englischen Seite des Niagara (von wo man die schönste Aussicht auf die Fälle hat, und das aus diesem Grunde vorzuziehen ist) noch nicht eröffnet ist. So gehen wir nothgedrungen in das amerikanische, welches auf unser Telegramm zurücktelegraphirt: ›Alle Wünsche von Mr. Dickens werden vollkommen verstanden.‹ Ich bin noch nicht in mehr als zwei sehr schlechten Gasthöfen gewesen. Ich bin in einigen gewesen, wo ziemlich viel von dem herrscht, was man hier ›Herumgießen‹ nennt. In diesem Sinne gebraucht, bedeutet ›Herumgießen‹ Unreinlichkeit und Unordnung. Es ist ein komisch ausdruckvolles Wort, mit vielen Bedeutungen. Fields erkundigte sich neulich nach dem Preise eines Ankers Sherry. ›Ja, Muschö Fields,‹ antwortet der Weinhändler, ›das ändert sich mit der Qualität, wie nur natürlich ist. Wenn Se 'nen Sherry so grade zum Herumgießen haben wollen, kann ich Ihne 'ne sehr niedrige Summe fixiren.‹«
Er setzte seinen Brief am 18. in Rochester fort. »Nach zwei sehr glänzenden Tagen an den Niagarafällen, kehrten wir gestern Abend hierher zurück. Morgen früh um sechs treten wir eine lange Eisenbahnfahrt, zurück nach Albany, an. Aber es ist jetzt, Gott sei Dank, fast Alles zurück! Und doch weiß ich nicht, wie lange wir noch in Buffalo hätten fortfahren können . . . Wir gingen an den Fällen überall hin und sahen sie von allen Seiten. Es führt jetzt, etwa eine halbe Meile von dem Hufeisen, eine Hängebrücke darüber hin, und eine andere, die zehn Minuten näher ist, soll im Juli eröffnet werden. Sie sind sehr schön, aber sehr kitzlich, wie sie dort oben hängen, inmitten der beständigen Erschütterung des donnernden Wassers; auch fühlt man sich nicht eben beruhigt durch die gedruckte Anzeige, daß Soldaten sie nicht im Marschschritt überschreiten, daß Musikbanden, wenn sie darüber hinziehen, nicht spielen dürfen und dergleichen. Ich werde nie die letzte Ansicht von dem Niagara vergessen, die wir gestern hatten. Wir waren überall gewesen, als mir der Gedanke kam, uns in einem offnen Wagen ein tüchtiges Stück sehr schwieriges Terrain hinaufzuarbeiten und so weit zu fahren, daß wir einen Punkt über dem Flusse erreichten und ihn sähen, wie er aus meilenweiter Entfernung seinem gewaltigen Sprunge zustürzt. Zu unsrer Rechten, bis hin an den Horizont, war eine wunderbare Verwirrung hellgrünen und weißen Wassers. Indem wir diese mit der Höhe des Falls zugewandtem Gesicht betrachteten, standen wir mit dem Rücken gegen die Sonne. So durch die gewaltige Schaumwolke gesehen, schien das majestätische Thal, unterhalb der Fälle, wie aus Regenbogen gemacht. Die hohen Ufer, die zerklüfteten Felsen, die Wälder, die Brücke, die Gebäude, die Luft, der Himmel, alle waren wie aus Regenbogen gemacht. Nichts in Turner's Aquarellen, aus seiner größesten Zeit, ist so ätherisch, so phantasievoll, so farbenstrahlend, als was ich dort sah. Mir war als sei ich emporgehoben von der Erde und schaue hinein in den Himmel. Alles, was ich Dir einst sagte, als ich dieses Schauspiel vor fünfundzwanzig Jahren sah, kam mir bei diesem rührenden und erhabnen Anblick wieder in den Sinn. Das ›schmutzige Gewand unseres Thons‹ fällt von uns ab, indem wir anschauen . . . Ich nahm einen besonderen Wagen für unsere Leute, damit sie Alles auf ihre eigene Weise und zu ihrer eigenen Zeit sehen könnten.
»Zwischen Rochester und New-York stehen große Strecken unter Wasser, und das Reisen ist sehr unsicher, was wir, wie ich fürchte, morgen erleben werden. Man ist hier wieder wegen des zu schnellen Steigens des Flusses in einiger Unruhe. Aber unsere Zuhörerschaft heute Abend ist viel größer als die erste. Allerliebste Hallen an diesen Orten, vortrefflich für Auge und Schall. Sie sind fast ohne Ausnahme als Theater gebaut, mit Bühne, Scenerie und guten Ankleidezimmern. Das Publikum könnte nicht besser sitzen (jeder Sitz ein Sperrsitz), vortreffliche Thürwege und Gänge und glänzende Erleuchtung. Mein Schirm und mein Gas werden vor dem Vorhange angebracht und die zartesten Andeutungen bringen überall ihren Eindruck hervor. Niemand, außer meinen eigenen Leuten, kommt mir je nahe.«
Seine Vorahnung der Ungewißheit, welcher seine Rückreise ausgesetzt sein könne, ging auf trübe Art in Erfüllung. Er beschrieb diese Reise in einem Briefe vom 21. Februar aus Springfield, an seinen Freund Frederic Ouvry, der an sich sehr interessant ist und das in diesen Kapiteln gegebene Bild durch einige lebensvolle Züge bereichert. Der unbezwingliche Muth, welcher sich allen Widerwärtigkeiten zum Trotz behauptet, tritt hier wieder wunderbar hervor. »Sie können sich kaum vorstellen, was mein Leben unter seinen gegenwärtigen Bedingungen ist, – wie hart die Arbeit ist und wie wenig Zeit ich zu meiner Verfügung habe. Für die tägliche Wiedergewinnung meiner Stimme ist es nothwendig, daß ich um 3 Uhr dinire, wenn ich nicht auf Reisen bin; die Vorbereitungen für den Abend beginne ich um 6 und nach meinem Hôtel komme ich, so ziemlich erschöpft, um halb 11 zurück. Fügen Sie zu allem diesen hinzu: beständiges Eisenbahnreisen in einem der strengsten Winter, die man hier je erlebt hat, und Sie werden einige Gründe wahrnehmen, weshalb ich ein mittelmäßiger Correspondent bin. Vorigen Sonntag Abend verließ ich die Niagarafälle, um hierher und nach zwei dazwischen liegenden Orten zu fahren. Da ein starker Thau eingetreten war und sämmtliche Flüsse durch das Schmelzen des Schnees anschwollen, war das ganze Land auf 60–70 Meilen überschwemmt. Dienstag Nachmittag (ich hatte am Montage gelesen) gab der Zug die unter den Umständen völlig hoffnungslose Weiterfahrt auf, und hielt an einem Orte Namens Utika, dessen größerer Theil unter Wasser stand, während der hoch und trocken liegende Theil nichts Besonderes zu essen vorräthig hatte. Hier brachten einige der bejammernswerthen Passagiere in dem Zuge zu, während andere das Hotel stürmten. Ich war glücklich genug, ein Schlafzimmer zu bekommen, und stattete dasselbe mit einem ungeheuren Kruge Gin-Punsch aus, bei dem ich und der Geschäftsführer einen Rubber mit zwei Strohmännern spielten. Um 6 Uhr Morgens wurden wir aufgestört: wir sollten an ›Bord kommen und es versuchen‹. Um halb sieben wurden wir wieder aufgestört mit der Nachricht: ›es sei nutzlos, an Bord zu kommen, oder es zu versuchen‹. Um 8 Uhr wurden alle Glocken in der Stadt geläutet, um uns unverzüglich ›an Bord‹ zu laden. Und so fuhren wir ab, durch das Wasser hindurch, ungefähr eine Meile die Stunde. Nichts war zu sehen als ertränkte Pachthäuser, Scheunen, die wie Noah's Archen umherschwammen, verlassene Dörfer, zerbrochene Brücken und jede Art von Zerstörung. Ich sollte an jenem Abend in Albany lesen und alle Billette waren verkauft. Ein sehr energischer Eisenbahninspektor versicherte mich, daß, wenn ich überhaupt ›von der Stelle geschafft‹ werden könne, er der Mann sei, mich von der Stelle zu schaffen; und daß, wenn ich nicht von der Stelle geschafft werden könne, ich daraus schließen müsse, daß es nicht möglich sei. Dann schickte er hundert Leute in Siebenmeilenstiefeln aus, die vor dem Zuge hergingen, jeder mit einer langen Stange bewaffnet, und die Eisblöcke wegschoben. Dieser Cavalcade folgend, erreichten wir endlich Land und kamen zu rechter Zeit an, daß ich das Weihnachtslied und den Proceß triumphirend vorlesen konnte. Meine Leute (ich hatte fünf von ihnen bei mir) gingen mit Macht an die Arbeit und vollendeten in ein paar Stunden das Geschäft eines Tages. Wären wir nicht noch schließlich angekommen, wie wir ankamen, so würde ich 350 Pfd. St. verloren haben und Albany würde in Verzweiflung gerathen sein. Sie werden sich von der Fluth eine Vorstellung machen können, wenn ich die zwei bemerkenswerthesten Vorfälle unserer Reise hervorhebe: 1) Wir befreiten die Passagiere aus zwei Zügen, die die ganze Nacht und den ganzen vorhergehenden Tag regungslos im Wasser gestanden hatten. 2) Wir befreiten eine große Menge Schafe und Rindvieh aus Viehwagen, die, ich weiß nicht wie lange, im Wasser gewesen waren, aber so lange, daß die Geschöpfe darin angefangen hatten, einander zu fressen und ein gräßliches Schauspiel darboten.« An dem Schlusse dieses Briefes bemerkte er: »Ich habe mit Chappell Verabredungen getroffen, daß ich nach meiner Rückkehr, in hundert herbstlichen und Wintervorlesungen, den Vorlesungen auf immer ein Ende machen will. Ich kehre zurück mit dem Cunard-Dampfschiff ›Russia‹. Ich hatte bei der Herfahrt die Cajüte des zweiten Officiers auf dem Verdeck und bei der Rückfahrt soll ich die Cajüte des Hauptproviantmeisters haben. Cunard war so freundlich, daran zu denken, daß dies auf der Sonnenseite des Schiffes sein wird.«
Außer in Springfield, hatte er Engagements in Portland, New-Bedford und anderen Orten in Massachusetts, ehe die Abschiedsvorlesungen in Boston anfingen, und es fehlten nur zwei Tage an dem Beginn dieser Zeit, als er die Arbeit, welche sie ausfüllen sollte, seiner Tochter beschrieb, wie folgt. Sein Brief war am 29. März aus Portland geschrieben, und man wird bemerken, daß er nicht mehr verhüllt oder beschönigt, was er litt und gelitten hatte. Während seiner schrecklichen Reise nach Albany hatte sein Husten ihn etwas verschont, aber die alte Krankheit in seinem Fuße war von Neuem ausgebrochen, und obgleich er sie beharrlich ihrem früheren vermeintlichen Ursprunge zuschrieb, belästigte sie ihn sehr, erstreckte sich jetzt mitunter auch auf den rechten Fuß und lähmte ihn für die ganze Zeit, die er noch in den Vereinigten Staaten blieb. »Ich würde Dir mit der letzten Post geschrieben haben, aber ich war wirklich zu unwohl dafür. Der Tag zum Schreiben war der vorige Freitag, wo ich vor 11 Uhr Morgens von Boston nach New-Bedford (12 Meilen) hätte aufbrechen sollen. Aber ich war so erschöpft, daß ich nicht aufstehen konnte und es darauf ankommen lassen mußte, ob ich mit einem Abendzuge zu rechter Zeit für die Vorlesung einträfe – was ich so grade that. Mit der Rückkehr des Schnees vor acht Tagen wurde meine Erkältung so schlimm als je. Ich habe jeden Morgen von zwei oder drei bis fünf oder sechs gehustet und bin vollständig ohne Schlaf gewesen; außerdem habe ich keinen Appetit gehabt und keinen Geschmack. Folgendes war sein Bericht über seine Lebensweise während der letzten zehn Wochen in Amerika. »Ich kann nicht essen (d. h. bei weitem nicht so viel, als nothwendig) und habe das nachstehende System festgestellt. Um 7 Uhr Morgens im Bette ein Bierglas frische Sahne und zwei Eßlöffel Rum. Um 12 Uhr einen Sherry Cobbler und ein Biscuit. Um 3 (die Zeit zum Dîner) eine halbe Flasche Champagner. Fünf Minuten vor 8 ein geschlagenes Ei in einem Glase Sherry. In der Pause, während der Vorlesung, der stärkste Beefthee, den man machen kann, heiß getrunken. Ein Viertel nach 10 Suppe und irgend ein kleines Getränk, worauf ich Appetit habe. Ich esse nicht mehr als ein halbes Pfund solide Speise in den vierundzwanzig Stunden, wenn so viel.« Gestern Abend nahm ich hier etwas Laudanum und es ist das Einzige, was mir gut gethan hat, obgleich es mich heute morgen übel machte. Aber das Leben in diesem Klima ist so sehr schwer! Als es mir gelang, New-Bedford zu erreichen, las ich mit meiner ganzen Kraft und Lebendigkeit. Am nächsten Morgen mußte ich, einerlei ob gesund oder krank, um sieben hinaus, um auf meinem Wege hierher nach Boston zu kommen. Ich dinirte in Boston um drei und mußte um fünf, zu morgen Abend, 34 Meilen oder so hierher fahren, da am Sonntage kein Zug geht. Morgen Abend lese ich hier in einer sehr großen Halle und am Dienstag Morgen um sechs muß ich wieder aufbrechen, um noch einmal nach Boston zurückzukehren. Aber nach morgen Abend habe ich nur noch die Abschiedsvorlesungen, Gott sei Dank! Aber auch so habe ich an Dolby (der in New-York ist) schreiben müssen, daß er meinen Arzt dort bittet, mir eine beruhigende Arznei zu schicken, die ich Abends nehmen kann, weil ich ohne Schlaf nicht durchkommen könnte. So sympathisch und hingebend die Leute um mich her auch sind, so unmöglich ist es, wenn sie sehen, daß ich die zwei Stunden durchhalte, so oft die Zeit kommt, ihnen begreiflich zu machen, daß auch viele Leiden damit verknüpft sind.« Mir schrieb er am 30. aus demselben Orte, mit einem ähnlichen Geständniß. Keine Erklärung könnte den Schmerz der in seiner eignen einfachen Sprache enthüllten Leidensgeschichte vertiefen. »Ich schreibe in einer Stadt, von der drei Viertel vor drei Jahren in einem schrecklichen Feuer verbrannten. Die Leute wohnten in Zelten, während ihre Stadt wieder aufgebaut wurde. Die verkohlten Stämme der Bäume, mit welchen die Straßen der alten Stadt bepflanzt waren, stehen noch hie und da in den neuen Straßen, wie schwarze Gespenster. Der Neubau ist noch überall im Gange. Aber so erstaunlich ist die Energie dieses Volkes, daß die große Halle, in der ich heute Abend lesen soll (ihre Vorgängerin brannte mit auf), sehr wohl mit der Freihandelshalle in Manchester den Vergleich aushalten könnte! . . . Meine Kraft ist beinahe erschöpft. Das Klima, die Entfernung, der Katarrh, das Reisen und die harte Arbeit haben (ich kann dies jetzt sagen, nun sie fast alle vorüber sind) angefangen, mich arg mitzunehmen. Ich leide an Schlaflosigkeit, und hätte ich mich verpflichtet, bis in den Mai hinein zu lesen, so glaube ich, ich würde zusammengebrochen sein. Es war gut, daß ich Canada und den fernen Westen zu der Zeit aufgab, als ich es that. Sonst würde es eine traurige Verwicklung gegeben haben. Es ist unmöglich, den Leuten in meiner Umgebung verständlich zu machen, so eifrig und ergeben sie auch sind (es ist unmöglich, selbst Dolby verständlich zu machen, ehe die Noth drängt), daß die Fähigkeit, jeden Abend mit Geist und Frische das Beste zu leisten, zusammen bestehen kann mit der nächsten Annäherung zu einem Sinken unter der Anstrengung. Als ich am Donnerstag, nach drei sehr schweren Wochen, nach Boston zurückkam, sah ich, daß Fields meine Weiterreise nach New-Bedford (12 Meilen) am nächsten Tage, und dann meine Weiterreise hierher (40 Meilen) an dem dann folgenden Tage sehr bedenklich fand. Aber das Schlimmste ist vorüber, und so fühle ich mich fähig, darauf zurück zu blicken und darüber nachzudenken und darüber zu schreiben.« Am 31. schloß er seinen Brief in Boston und er war nach Hause zurückgekehrt, als ich wieder von ihm hörte. »Die neueste Nachricht, mein lieber Kerl, ist, daß ich hier wohlbehalten angekommen bin und daß es mir jedenfalls besser geht. Ich betrachte meine Arbeit jetzt als thatsächlich vorüber. Ich fürchte, daß die politische Krisis die Abschiedsvorlesungen um die Hälfte des Ertrages verkürzen wird. Ich kann noch nicht mit voller Bestimmtheit darüber reden; aber meine Vorhersagungen sind bis jetzt ohne Ausnahme eingetroffen. Wir nahmen gestern Abend in Portland 360 Pfd. St. englisch ein, während eine kostspielige italiänische Truppe, welche heute Abend dieselbe Halle benutzte, für nicht mehr als 14 Pfd. St. Billette verkaufte. Es ist grade so im ganzen Lande und das Schlimmste ist noch nicht vorüber. Alles Interesse wird absorbirt durch die Anklage gegen die Präsidenten und durch die nächste Präsidentenwahl. Connecticut ist besonders aufgeregt. Den Abend, nachdem ich vorige Woche in Hartford gelesen hatte, fanden dort zwei politische Meetings statt, Meetings zweier Parteien, und das Hotel war voll von Rednern, die aus den umliegenden Orten herbeigekommen waren. Ebenso in Newhaven: sowie ich fertig war, kamen Zimmerleute herein, um die Vorbereitungen zu treffen für die Politik des nächsten Abends. Ebenso in Buffalo. Ebenso, sehr bald, überall.«
In demselben Tone schrieb er seinen letzten Brief aus Boston an seine Schwägerin. »Es ist jetzt so ziemlich gewiß, daß ich mit meiner Ansicht über die Abschiedsvorlesungen Recht behalten werde. Wir nahmen hier gestern Abend 300 Pfd. St. ein. Heute ist Fasttag, und heute Abend werden wir vermuthlich viel weniger einnehmen. Dann werden wir vermuthlich wieder in die Höhe gehen und es zu einer anständigen Durchschnittssumme bringen; aber es ist durchaus nicht wahrscheinlich, daß wir einen ungewöhnlich großen Erfolg haben werden. Jede Kanzel in Massachusetts wird heute den Tag über und heute Abend von heftiger Politik ertönen.« Dies war am 2. April und eine Nachschrift wurde hinzugefügt. »Freitag, den 3. Der Katarrh schlimmer als je! und wir wissen noch nicht (um vier Uhr), ob ich heute Abend lesen kann oder aussetzen muß. Sonst Alles wohl.«
Dickens' letzter Brief aus Amerika wurde an seine Tochter Mary geschrieben, aus Boston, am 9. April, dem Tage vor seiner sechsten und letzten Abschiedsvorlesung. »Ich habe vorigen Freitag, als ich bezweifelte, ob ich dazu im Stande sein werde, nicht nur gelesen, sondern gelesen wie nie vorher, so daß die Zuhörer ebenso erstaunt waren als ich selbst. Du kannst Dir keine Vorstellung machen von der aufgeregten Scene jenes Abends. Longfellow und sämmtliche Leute in Cambridge drangen in mich, die andern Vorlesungen aufzugeben und ich war nahe daran, dies zu thun; aber heute fühle ich mich stärker. Ich kann nicht sagen, ob der Katarrh mir in den Lungen oder andern Athmungsorganen einen dauernden Schaden zugefügt hat, ehe ich mich ausgeruht habe und zu Hause angekommen bin. Ich hoffe und glaube nicht. Bedenke das Wetter! Seit ich zuletzt schrieb, haben wir zwei Schneestürme gehabt, und heute ist die Stadt in einem unaufhörlichen Wirbel von Schnee und Wind ausgelöscht. Dolby ist so zartfühlend wie eine Frau, und so wachsam wie ein Arzt. Er verläßt mich jetzt während der Vorlesung nie, sondern sitzt seitwärts auf der Platform und behält mich die ganze Zeit im Auge. Ebenso George, der Gasmann, der tüchtigste und zuverlässigste Mensch, der je in meinem Dienste gewesen ist. Ich habe heute Dombey zu lesen, und muß es sorgfältig durchnehmen; so endet denn hier mein Bericht. Die persönliche Zuneigung der Leute an diesem Orte ist reizend bis zuletzt. Habe ich Dir schon gesagt, daß die New-Yorker Presse mir am Sonnabend, dem 18., ein öffentliches Festessen geben wird?«
In New-York, wo fünf Abschiedsvorlesungen stattfanden, betrug die Einnahme der letzten, am 20. April, 3298 Dollars, während die Einnahmen der letzten Abschiedsvorlesung in Boston, am 8., sich auf 3456 Dollars belaufen hatten. Aber auch an früheren Abenden waren diese Summen in denselben Städten erreicht worden; und in der That wechselten, mit einer gelegentlichen Ausnahme hier und dort, die Einnahmen so merkwürdig wenig, daß eine Erwähnung der höchsten Durchschnittserträge an andern Orten keine übertriebene Vorstellung geben wird von den gewöhnlichen Erträgen im Allgemeinen. In runden Summen beliefen sich die niedrigsten in New-Bedford auf 1640, in Rochester auf 1906, in Springfield auf 1970 und in Providence auf 2140 Dollars. Albany und Worcester brachten einen Durchschnittsertrag von etwas weniger als 2400 Dollars, während Hartford, Buffalo, Baltimore, Syrakus, Newhaven und Portland auf 2610 Dollars stiegen. Der letzte Abend in Washington trug 2600 Dollars ein, und kein andrer Abend dort weniger als 2500 Dollars. Philadelphia übertraf Washington um 800 und Brooklyn Philadelphia um 200 Dollars. Die durch die letzten vier Vorlesungen in Brooklyn eingenommene Summe belief sich auf 11,128 Dollars.
Das Festessen in New-York fand bei Delmonico statt, der Wirthe waren mehr als zweihundert und Horace Greeley führte den Vorsitz. Dickens konnte nur mit großer Anstrengung zugegen sein und redete unter Schmerzen. Aber er benutzte diese Gelegenheit, sein Zeugniß für die Veränderungen von fünfundzwanzig Jahren abzulegen: das Entstehen großer, neuer Städte, das Wachsthum der Anmuth und Gesittung der Lebensweise, große, für jeden andern Fortschritt wesentliche Verbesserungen in der Presse und Veränderungen in ihm selbst, die ihn zu andern besser begründeten Ansichten geführt hatten. Er versprach seinen freundlichen Wirthen, daß kein Exemplar seiner Amerikanischen Noten und Chuzzlewit's in Zukunft von ihm veröffentlicht werden solle, ohne die gleichzeitige Erwähnung der Veränderungen, auf die er an jenem Abend hingewiesen: der Höflichkeit, des Zartgefühls, der Gastfreiheit, der Rücksichtnahme in jeder Hinsicht, wofür er ihnen zu danken habe, und seiner Dankbarkeit für die, während seines ganzen Besuches bewiesene Achtung vor der Zurückgezogenheit, welche das Wesen seiner Arbeit und der Zustand seiner Gesundheit ihm auferlegt habe.
Er mußte das Zimmer verlassen, ehe die Verhandlungen vorüber waren. Folgendes ist der Bericht der Zeitungen. »Um 5 Uhr fingen die Wirthe an sich zu versammeln, aber um halb 6 kam die Nachricht, daß der erwartete Gast an einem schmerzhaften Leiden des Fußes daniederliege. In Kurzem jedoch verkündigte ein anderes Bülletin Mr. Dickens' Absicht, auf jede Gefahr hin, bei dem Festessen zugegen zu sein. Nachdem er etwas nach sechs die Treppe hinaufgeleitet war, wurde er von Mr. Greeley empfangen und die Wirthe, die sich in zwei Reihen aufstellten, ließen die beiden berühmten Männer schweigend hindurchgehen. Mr. Dickens hinkte bemerkbar, sein rechter Fuß war in Tücher gewickelt, und er stützte sich schwer auf Mr. Greeley's Arm. Er litt offenbar große Schmerzen.« Am nächsten Montage las er vor seiner letzten amerikanischen Zuhörerschaft und erklärte am Schlusse, er hoffe sich ihrer oft zu erinnern, bei seinem Winterfeuer wie in dem grünen Sommerwetter, und nie als einer bloß öffentlichen Zuhörerschaft, sondern als eines Heeres von persönlichen Freunden. Er segelte zwei Tage später in der »Russia« ab, und erreichte England in der ersten Maiwoche 1868.
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