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Persönliche Charakterzüge.
1836–1870.
Man hat gegen diese Biographie den Einwand erhoben, daß sie die Leser enttäuschen werde, weil sie dieselben nicht »mit Dickens reden lasse, wie Boswell sie reden lasse mit Johnson«. Aber, wer ist zu tadeln, wenn Jemand Pickwick zur Hand nimmt und enttäuscht ist, daß er nicht Rasselas liest? Ein Buch muß nach dem beurtheilt werden, was es sein will, nicht nach dem, was es unmöglich sein kann. Meiner Meinung nach lebte wohl kaum je ein so bemerkenswerther Schriftsteller wie Dickens, der so wenig von seinem Schriftstellerthum in den gewöhnlichen, geselligen Verkehr hinübertrug. So mächtig die Herrschaft seiner Schriften über ihn war, so machte sie sich doch auf andre Weise geltend. Spuren oder Triumphe seiner literarischen Arbeit, Entfaltungen conversationeller oder sonstiger persönlicher Ueberlegenheit bildeten keinen Theil des Einflusses, den er über seine Freunde ausübte. Für diese war er nur der angenehmste Gefährte, in dessen Gesellschaft sie vergaßen, daß er je etwas geschrieben habe und nur den Zauber empfanden, den eine Natur, welche mit solcher Fähigkeit für den höchsten Lebensgenuß ausgestattet ist, auf ihre ganze Umgebung ausübt. Seine Unterhaltung war einfach und natürlich, nie im mindesten schulfüchsig. Er war ebenso gut belesen als die meisten gut belesenen Menschen, aber wie er seine Belesenheit in seinen Schriften nicht zur Schau trug, so auch nicht in seiner Conversation. Diese war so anziehend, weil sie eine so scharfe Beobachtung erkennen ließ, und von so vielen Zügen einer humoristischen Phantasie belebt wurde; aber während nichts fehlte, um sie genußreich zu machen, enthielt sie nicht Vieles, das man mit sich fortnehmen konnte.
Ein Buch steht oder fällt natürlich durch seinen Inhalt. Macaulay sagte sehr richtig, daß der Rang von Büchern in dem öffentlichen Urtheil nicht durch das bestimmt wird, was über sie geschrieben wird, sondern durch das, was in ihnen geschrieben steht. Ich erhebe keine Klage gegen irgend welche über diese Bände gemachten Bemerkungen, aber es hat nicht an falschen Auffassungen gefehlt. Obgleich Dickens äußerlich so wenig von dem Charakter seiner Schriften erkennen ließ, so bildeten sie doch das Ganze jenes inneren Lebens, welches das wahre Wesen des Menschen ausmacht, und wie er in dieser Beziehung wirklich war, so, glaubte ich, solle seine Lebensbeschreibung sich bemühen ihn darzustellen. Die Geschichte seiner Bücher in allen Phasen ihres Fortschritts und die Geschichte der mit denselben verknüpften Hoffnungen und Pläne bildete daher mein Hauptaugenmerk. Aus diesem Grunde und auch um der Lebensbeschreibung so viel als möglich von dem Werthe einer Selbstbiographie zu geben, wurden Dickens' Briefe an mich, Briefe, wie er sie nie an irgend einen andern seiner Correspondenten schrieb, und die alle wichtigen Ereignisse seines Lebens umfaßten, mit wenigen Ausnahmen ausschließlich benutzt, und obgleich die Ausnahmen in dem vorliegenden Bande weit zahlreicher sind, habe ich diesen allgemeinen Plan doch bis an's Ende befolgt. Ich hatte mich so sehr zu beschränken, daß die Hälfte selbst jener Briefe bei Seite gelegt werden mußte; und die Hinzufügung aller andern mir zu Gebote stehenden Briefe würde den Umfang meines Buches verdoppelt, keinen neuen Lebens- oder Charakterzug beigetragen und den ganzen Plan wesentlich verändert haben. Dem Gegenstande würde eine entsprechende Menge lebendiger Erläuterungen hinzugefügt worden sein, aber Erläuterungen, die nicht hierher gehörten. Der hier verfolgte Zweck war, Dickens in den erzählten Begebenheiten zu der einzigen Centralfigur zu machen, zum Erzähler sowohl als zu der handelnden Hauptperson, und nur durch die in Anwendung gebrachten Mittel konnte der Selbstenthüllung Zusammenhang und Einheit verliehen und das Bild fest und klar gezeichnet werden. Nur wenige Menschen sind für ihre vertrautesten Freunde weder mehr noch weniger als sie für sich selbst sind, aber bei Dickens war dies der Fall, und die Eigenschaften seiner Natur, welche ein solcher Verkehr bei ihm zur Geltung brachte, die Stärke und die Zartheit, deren sie fähig war, die beständige, sich gleich bleibende Wärme, die tägliche rastlose Thätigkeit des Geistes, die ununterbrochene Fortdauer freundschaftlicher Gefühle während der Veränderungen und Wechselfälle von dreiunddreißig Jahren, konnten einzig und allein die in diesen Bänden mitgetheilten Briefe an mich zum Ausdruck bringen. Aus mannigfachen und verschiedenartigen Quellen gesammelt, hätte ihr Interesse nicht sein können wie das Interesse dieser Briefe, in denen Alles, was sich während der einander folgenden Phasen eines höchst anziehenden Lebenslaufes zutrug, mit beispielloser Offenheit und Wahrhaftigkeit geschildert und in klaren, weder durch Unbestimmtheit noch durch Zurückhaltung verwischten Bildern dessen, was er sah und erlebte, dargestellt ist. Ueber die Anklage: daß ich mich selbst vordränge, welcher die Veröffentlichung der Briefe mich ausgesetzt hat, kann ich nur sagen, daß ich um nichts eifriger bemüht war als um die Unterdrückung meiner eignen Persönlichkeit, und daß ich meinen Mangel an Erfolg bedauern muß, wo ich glaubte, nur zu erfolgreich gewesen zu sein. Aber wir Alle haben häufige Gelegenheit, Mrs. Peachem's Bemerkung zu parodiren und zu sagen, daß wir bitter schlechte Beurtheiler unser selbst sind.
Die andern Eigenschaften dieser Briefe sind der Hauptthatsache ganz untergeordnet, daß der Mann, der sie schrieb, so vollkommen in ihnen erkannt wird. Aber sie verringern auch die Vorstellung von seinem Genie nicht. Sie erhöhen die Bewunderung der Geistesgaben eines Schriftstellers, der so viel von sich selbst in seine für die Oeffentlichkeit bestimmten Arbeiten hineinlegte und doch noch so viel Ueberfluß für einen solchen Privatverkehr bewahrte. Die sonnige Gesundheit seiner Natur, ihre Größe, ihre Unmittelbarkeit und ihre Männlichkeit werden darin offenbar, aber sie enthalten auch das, was die größten Geister am besten würdigen. »Ich habe sie,« schrieb mir Lord Russell, »mit Freude und mit Schmerz gelesen. Sein Herz, seine Phantasie, seine Fähigkeit das Edle zu malen und tiefverborgene Edelsteine zu finden, erscheinen mir hier noch größer als selbst in seinen Werken. Wie beklage ich es, daß er uns nicht länger erhalten blieb. Ich werde einen neuen Kummer erleben, wenn er in Ihren Bänden stirbt.« Seichtere Leute sind geneigter andre Dinge darin zu finden. Wenn die Bonhommie eines genialen Menschen aller Welt offenbar ist, so ist sofort eine Menge superkluger Kritiker bereit, das Genie seines Glanzes zu berauben, zu entdecken, daß es am Ende gar nicht so wunderbar ist, daß seinem Ernste die Tiefe fehlt und daß sein Humor etwas Mechanisches hat. Aber selbst für diese wird es schwer sein Briefe durchzulesen, die mit so wunderbarer Kunst dem Auge vorführen, was einmal gesehen wurde, die so natürlich und ungezwungen sind in ihrem Witz und Scherz, und in denen ein so beständiger Strom eigenthümlicher Redeformen, epigrammatischer Bemerkungen, origineller Ausdrucksweisen, mit absoluter Freiheit von jedem Anfluge von Künstelei, sich ergießt, und zu glauben, daß die Quelle des Humors in diesem Manne, und dasjenige, was sein Genie mit Reichthum ausstattete, anders als beständig, unbegrenzt und unwiderstehlich war.
Noch eine andre Erwägung ist von Bedeutung. Sterne ging nicht unablässiger von seinen Werken auf sich selbst zurück als Dickens, und einer der durch die Briefe hinterlassenen Eindrücke ist unzweifelhaft die Intensität und Zähigkeit, womit er seine eigne Individualität, auch in ihren gewöhnlichsten Aeußerungen, erkannte, verwirklichte, betrachtete, ausbildete und durch und durch genoß. Sollte aber Jemand sich versucht fühlen, dies der Selbstschätzung, einer beschränkten Ausschließlichkeit oder irgend einer andern gehässigen Form der Selbstsucht zuzuschreiben, so mag er diesen Eindruck berichtigen, indem er bemerkt, wie Dickens sich inmitten des allgemeinen Auflodern Amerika's am Anfang und am Ende seiner Laufbahn benahm. Ueber seinen lebhaften, unverhohlenen und unmißverstehbaren Genuß seiner erstaunlichen und wahrhaft verwirrenden Popularität kann ebenso wenig ein Zweifel bestehen, als darüber, daß kein Körnchen von Eitelkeit oder von falscher Bescheidenheit, oder Grimasse darin war. Mr. Grant Wilson hat mir einen Auszug aus einem Briefe Fitz-Greene Halleck's (Verfassers eines der schönsten Gedichte über Burns, die je geschrieben wurden) geschickt, welcher Dickens vollkommen darstellt, wie er nicht nur im Jahre 1842 war, sondern, in Bezug auf sein Gefühl als Autor, während seines ganzen Lebens. Der Brief war an Mrs. Rush aus Philadelphia gerichtet und vom 8. März 1842 datirt. »Sie fragen mich nach Mr. Boz. Ich bin ganz entzückt von ihm. Er ist ein grundguter Mensch, ohne alle Abzeichen eines Autors, außer seinem Ruhm, und er entledigt sich seiner Aufgabe als Löwe mit musterhafter Anmuth, Geduld und Gutmüthigkeit. Er hat das glänzende Gesicht eines Mannes von Genie . . . Seine Schriften kennen Sie. Ich wollte, Sie hätten seine Beredsamkeit bei dem Dîner hier hören können. Es war die einzige wirkliche Probe von Beredsamkeit, die mir je vorgekommen ist. Ihr Zauber lag nicht in den Worten, sondern in der Art, wie sie gesagt wurden.« Während er die Thatsache und den Werth der Thatsache vollständig realisirt, ist in seinem ganzen Wesen nicht eine Faser, die falsch auf die Stimme des Zauberers antwortet. Wenige Menschen in der Welt, so will uns bedünken, hätten eine so großartige Entfaltung von Feuerwerken durchmachen können, nicht bloß mit einer so wunderbaren Abwesenheit von dem, was die Franzosen pose nennen, sondern so unbeschmutzt durch den Rauch eines Schwärmers. Die starke Individualität keines Menschen war je so frei von Eitelkeit.
Andere persönliche Vorfälle und Gewohnheiten, und ganz besonders einige Meinungsäußerungen von ernster Bedeutung, werden dazu beitragen, seinen Charakter besser bekannt zu machen. Ein kurzer früherer Hinweis auf seinen religiösen Glauben hat eine lebhafte Kritik hervorgerufen; aber so inkonsequent und unlogisch das dort beschriebene Benehmen sein mochte, in meiner Darstellung desselben finde ich nichts zu verbessern oder zu ändern, Vgl. Bd. II. S. 37–38. und auf das, was sonst zweifelhaft scheinen könnte, wird eine ausführliche Antwort ertheilt werden durch einen Brief von Dickens, den er schrieb, als das jüngste seiner Kinder, im September 1868, die Heimath verließ, um seinem Bruder nach Australien zu folgen, und der den würdigsten seines Lebens zugezählt werden muß. »Ich schreibe heute diesen Brief, weil Dein Fortgehen mir sehr auf der Seele 1iegt und weil ich möchte, daß Du einige Abschiedsworte von mir hättest, an welche Du dann und wann in ruhigen Zeiten denken kannst. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß ich Dich von Herzen liebe, und daß es mir im innersten Herzen wehe thut, mich von Dir zu trennen. Aber die Hälfte dieses Lebens besteht aus Trennungen, und diese Schmerzen müssen ertragen werden. Es ist mein Trost und meine aufrichtige Ueberzeugung, daß Du eine Lebensweise versuchen willst, die am meisten für Dich geeignet ist. Ich halte ihre Freiheit und Wildheit Deiner Natur für angemessener als irgend ein Versuch in einer Studirstube oder einem Bureau gewesen sein würde, und ohne eine solche Erziehung hättest Du Dich keinem andern passenden Beruf widmen können. Was Dir bis jetzt immer gefehlt hat, war ein festes, bestimmtes, beständiges Ziel. Ich ermahne Dich daher, bei dem gründlichen Entschlusse zu beharren, daß Du Alles, was Du zu thun hast, so gut thust, als Du kannst. Ich war nicht so alt als Du jetzt bist, als ich mir zuerst meinen Lebensunterhalt erringen mußte und zwar aus diesem Entschlusse heraus, und ich habe seitdem nie darin nachgelassen. Uebervortheile nie Jemanden auf gemeine Art in irgend einem Geschäft und behandle Leute, die in Deiner Gewalt sind, nie mit Härte. Versuche gegen Andre zu handeln, wie Du selbst von ihnen behandelt sein möchtest, und laß Dich nicht entmuthigen, wenn sie zuweilen darin fehlgehen. Es ist besser für Dich, daß sie gegen das größte Gebot unsres Erlösers fehlen, als wenn Du selbst dagegen fehltest. Ich lege ein Neues Testament unter Deine Bücher, aus denselben Gründen und mit denselben Hoffnungen, die mich veranlaßten, eine leicht verständliche Darstellung seiner Lehren für Dich zu schreiben, als Du ein kleines Kind warst. Weil es das beste Buch ist, welches die Welt je gekannt hat oder kennen wird, und weil es Dir die besten Vorschriften lehrt, durch welche ein menschliches Wesen, das wahr und pflichtgetreu zu sein versucht, geleitet werden kann. Als Deine Brüder Einer nach dem Andern fortgingen, habe ich für jeden von ihnen Worte geschrieben, wie ich sie jetzt für Dich schreibe und habe sie Alle gebeten, sich durch dieses Buch leiten zu lassen, ohne Rücksicht auf menschliche Deutungen und Erfindungen. Du wirst Dich erinnern, daß Du zu Hause nie mit religiösen Observanzen oder bloßen Formalitäten belästigt worden bist. Ich habe immer Sorge getragen, meine Kinder nicht durch solche Dinge zu ermüden, ehe sie alt genug waren, sich selbst Ansichten darüber bilden zu können. Du wirst es daher um so besser verstehen, wenn ich Dir jetzt die Wahrheit und die Schönheit der christlichen Religion, wie sie von Christus selbst kam, und die Unmöglichkeit, weit vom Rechten abzuweichen, wenn Du sie demüthig, aber von Herzen achtest, feierlich einpräge. Nur noch eine Bemerkung über diesen Gegenstand. Je mehr es uns mit dem religiösen Gefühle Ernst ist, desto weniger sind wir geneigt, darüber Reden zu halten. Gib nie die heilsame Gewohnheit auf, Morgens und Abends im Stillen für Dich allein zu beten. Ich selbst habe sie nie aufgegeben, und ich kenne ihre Tröstungen. Ich hoffe, Du wirst immer in Deinem späteren Leben sagen können, daß Du einen gütigen Vater gehabt hast. Du kannst Deine Liebe zu ihm nicht besser zeigen oder ihn glücklicher machen, als indem Du Deine Pflicht thust.« Die, welche Dickens am genauesten kannten, werden am besten wissen, daß jedes dieser Worte aus seinem Herzen geschrieben und von der Wahrheit seiner Natur durchstrahlt ist.
In demselben Sinne drückte er sich über seine religiösen Ueberzeugungen zwölf Jahre früher aus, und wieder am Tage vor seinem Tode, – in beiden Fällen als Antwort an Correspondenten, die ihm als Schriftsteller geschrieben hatten. Einem Geistlichen hatte der Choral in der Weihnachtserzählung »Das Wrack der Goldenen Marie« (Household Words, 1856) einen Eindruck gemacht. »Ich danke Ihnen,« antwortete Dickens am Weihnachtsabend 1856, »für Ihren willkommenen Brief – nicht minder willkommen, weil ich selbst der Verfasser bin, auf den Sie sich beziehen . . . Es gibt, glaube ich, nicht viele Menschen, die eine demüthigere Verehrung für das Neue Testament empfinden, oder eine tiefere Ueberzeugung von seiner Allgenugsamkeit haben, als ich. Wenn ich (wie Sie meinen) je in Bezug hierauf irre, so ist es deshalb, weil ich alle zudringlichen religiösen Bekenntnisse und jedes Handeltreiben mit der Religion, als eine der Hauptursachen, warum das wahre Christenthum in der Welt verzögert worden ist, mißbillige, und weil meine Lebenserfahrungen mich einen unsäglichen Widerwillen empfinden lassen vor jenen ungebührlichen Zänkereien über den Buchstaben, welche den Geist aus Hunderttausenden heraustreiben.« In ganz ähnlichem Tone schrieb er an einen Leser Edwin Drood's, der ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, daß die Anwendung einer Zeile aus der Bibel als Redefigur in seinem zehnten Kapitel zu Mißverständnissen Veranlassung bieten könne, am Mittwoch, 8. Juli 1870, aus Gadshill. »Es würde mir ganz unbegreiflich sein, daß irgend ein verständiger Leser in jener Stelle eine biblische Hinweisung finden könnte, wenn Ihr Brief nicht diese Ansicht ausspräche. Ich bin auf's höchste verwundert, daß ein Leser ein solches Versehen machen kann. Ich habe mich in meinen Schriften immer bestrebt, Ehrfurcht vor dem Leben und den Lehren des Erlösers auszudrücken, weil ich sie empfinde und weil ich jene Geschichte von Neuem schrieb für meine Kinder, deren jedes sie durch meine Erzählung kannte, lange ehe sie lesen und fast ehe sie sprechen konnten. Aber ich habe dies nie von den Dächern verkündigt.«
Eine Abneigung gegen jede Ostentation war tief in ihm gewurzelt und sein Widerwille gegen posthume Ehrenbezeugungen, der in den Verordnungen seines Testaments zu Tage tritt, fand einen sehr treffenden Ausdruck zwei Jahre vor seinem Tode, als Thomas Fairbairn ihn, bei einer damals befürworteten Anerkennung der Verdienste des Rajah Brooke durch ein Denkmal in der Westminsterabtei, um seinen Beistand bat. »Ich fühle mich sehr lebhaft gedrängt, (24. Juni 1868) jede von Ihnen ausgesprochene Bitte zu erfüllen. Aber diese posthumen Ehrenbezeugungen von Comités, Geldzeichnungen und Westminsterabtei sind in meinen Augen so gründlich unbefriedigend, daß ich – offen gesagt – in allen Fällen lieber Nichts damit zu thun haben möchte. Meine Tochter und ihre Tante schließen sich mir an in den herzlichsten Grüßen an Ihre Frau, und ich hoffe, Sie werden an den Besitz meiner Freundschaft glauben, bis ich ruhig begraben sein werde, ohne ein Denkmal, außer demjenigen, das ich mir während meines Lebens errichtet habe.« Als man ihn ein Jahr später (1869) bat, bei der Einweihung der Büste Leigh Hunts auf dessen Grabe in Kensal Green einige Worte zu reden, erklärte er dem Comité, er habe eine entschiedene Abneigung gegen Reden an Gräbern. »Ich erwarte und verlange nicht, daß meine Gefühle in Bezug auf diesen Punkt Andern zur Richtschnur dienen; aber mir ist es so sehr Ernst damit, und der Gedanke, je selbst zum Gegenstande einer solchen Ceremonie gemacht zu werden, ist mir so in der Seele zuwider, daß ich es ablehnen muß, daran theilzunehmen.«
Seine Abneigung gegen jede Form dessen, was man Gönnerthum in der Literatur nennt, war aus einem Stücke mit diesem Gefühl. Einige Monate vorher schrieb ein Herr aus Manchester an ihn, mit der Bitte um seine Beförderung eines solchen Vorhabens. »Ich bedaure, die Bitte, welche Sie mir die Ehre erweisen, an mich zu stellen, ablehnen zu müssen, einfach deshalb, weil ich der Meinung bin, daß schon viel zu viel Gönnerthum in England vorhanden ist. Je besser der Plan, desto weniger, scheint mir, sollte er solchen künstlichen Beistand suchen und desto entschiedener sollte er auf der Grundlage seiner eigenen Verdienste ruhen.« Dies war auch Southey's Meinung. Sie erstreckte sich aus die Beförderung solcher Gesellschaften wie des Literarischen Fonds, mittelst des Gönnerthums, und sie überlebte das Mißlingen der Gilde der Literatur und Kunst, welche in der Hoffnung gegründet wurde, ein System der Selbsthülfe herzustellen, bei dem Männer, die auf dem Felde der Literatur arbeiteten, mit ebenso viel Stolz empfangen und geben könnten. Obgleich er sich in keinen seiner Lebenspläne mit größerem Eifer hineinstürzte als in die Gilde, so fand dieselbe doch keine Beförderung bei der Klasse, deren Wohlfahrt dadurch bezweckt wurde, und jede neue Anstrengung vermehrte nur das Mißlingen. In diesen Blättern fehlt der Raum für eine Geschichte, welche eines Tages der Geschichte der Eitelkeit menschlicher Wünsche ihr Kapitel hinzufügen wird; aber eine Stelle aus einem, zur Zeit ihres Anfangs geschriebenen Briefe von Bulwer Lytton wird als ein Maaß der Höhe gelten können, von welcher der Schreiber herab fiel, als alle Hoffnung auf das, worauf er sein Herz gesetzt hatte, verschwand. »Ich glaube fest, daß dieser Plan, wenn er durch die Unterstützung, die ihm, wie ich hoffe, gewährleistet werden wird, zur Ausführung kommt, den Status des Schriftstellers in England verändern und eine Revolution in seiner Stellung hervorbringen wird, welche keine Regierung, keine Macht auf Erden, außer seiner eigenen, je bewirken könnte. Ich habe das vollste Vertrauen zu dem so glänzend begonnenen Werke, wenn wir es mit stätiger Energie ausführen. Ich hege die Ueberzeugung, daß wir den Frieden und die Ehre des Schriftstellerthums. auf Jahrhunderte hinaus in Händen halten, und daß Sie berufen sind, ihr bester und dauerndster Wohlthäter zu werden . . . O, was für eine Reihe neuer Jahre kann aus diesem Allen für den Stand, dem wir angehören, hervorschreiten, wenn wir in Staub zerfallen sind!«
Diese Ansichten über das Gönnerthum machten ihn nicht nachsichtiger gegen das laute Geschrei, womit es so oft für das lächerlich Kleine angerufen wird. »Du hast wohl Clare's Leben gelesen?« schrieb er am 15. August 1865. »Ist Dir je eine so alberne Uebertreibung kleiner Ansprüche vorgekommen? Und ist das beständige Geschwätz in dem Buche über ihn, als den Poeten, nicht sehr bezeichnend? So pflegte ein andrer Unfähiger an den Literarischen Fonds zu schreiben, als ich im Comité war: ›Bei Abgang dieses Briefes befindet der Dichter sich bei seiner göttlichen Mission in einer Ecke des einzigen Zimmers. Der Vater des Dichters wischt seine Brille ab. Die Mutter des Dichters ist mit Weben beschäftigt‹ – Ha.« Ebenso wenig Geduld hatte er mit all den glänzenden Plänen, welche den Schriftsteller unabhängig machen sollten von dem Buchhändler, und er kritisirte sogar einen Compromiß, demgemäß das System der Theilung des Reinertrages durch eine Abgabe von den verkauften Exemplaren ersetzt werden sollte, mit vieler Schärfe. »Worauf läuft es am Ende hinaus?« bemerkte er über eine sehr gut geschriebene Broschüre, worin dies vorgeschlagen wurde (10. November 1866), »was ist schließlich der Nutzen des Heilmittels? Du und ich wissen sehr gut, daß in neun von zehn Fällen der Schriftsteller gegen den Verleger im Nachtheile ist, weil der Verleger Kapital hat und der Schriftsteller nicht. Wir wissen sehr gut, daß in neun von zehn Fällen Geld durch den Verleger vorgeschossen wird, ehe das Buch fertig ist, – oft lange vorher. Kein junger oder erfolgloser Schriftsteller (es sei denn ein Amateur und ein unabhängiger Mann) würde morgen einen Vertrag zum Zwecke jener Abgabe eingehen, wenn er eine gewisse Geldsumme oder einen Vorschuß von Geld bekommen könnte. Der Autor, der überhaupt auf einem solchen Contrakt bestehen könnte, könnte morgen darauf bestehen, oder auf irgend etwas Anderm bestehen. Was die weniger Glücklichen oder die weniger Fähigen angeht, so erkläre ich kühn – und zwar als ein Schriftsteller, der das Glück eines Verlegers machte, lange ehe er anfing an dem wirklichen Ertrag seiner Bücher einen Antheil zu haben, mit einiger Sachkenntniß – daß, wenn die Verleger nächste Woche zusammenkämen und beschlössen, hinfort diesen Abgaben-Contrakt abzuschließen und keinen anderen, dies eine ungeheure Härte und ein Unglück sein würde, weil die Schriftsteller nicht existiren könnten, während sie schrieben. Die Broschüre kommt mir vor, wie ein neues Beispiel des alten philosophischen Schachspiels, bei dem menschliche Wesen die Figuren sind. ›Seid nicht in Geldverlegenheit.‹ – ›Seht zu, daß ihr mit einem Vermögen geboren werdet und Geld beim Banquier habt.‹ – Euer Verleger wird nach seinem Geschäftsgebrauch in so und so langen Zeiträumen mit Euch abrechnen und Ihr rechnet inzwischen mit Euerm Schlächter und Bäcker wöchentlich ab, grade wie ich es mache, indem ich Wechsel ausstelle.‹ – ›Ihr dürft nicht in Geldverlegenheit kommen – dann habe ich das Problem glänzend für Euch gelöst.‹«
Weniger als man vielleicht hätte wünschen mögen, ist in diesem Werke gesagt worden über die Art, wie er seine Aufgabe als Herausgeber von Household Words und All the Year Round erfüllte. Er zeichnete sich dabei vor Allem aus durch Großmuth, und die scrupulöse Rücksicht und Zartheit, die er gegen die Mitarbeiter bewies, bildete einen Theil der Achtung, welche er vor der Literatur selbst hatte. Es wurde in einer Zeitung nach seinem Tode bemerkt (offenbar von einem seiner Mitarbeiter), daß er durch Ermuthigung und Anerkennung immer Jeden angeregt habe, sein Bestes zu leisten, daß er es gern hatte, wenn seine Mitarbeiter sich ungebunden fühlten und daß seine letzte Antwort auf einen Vorschlag zu einer Reihe von Artikeln gewesen sei: »Alles was Sie glauben, gut machen zu können, wird mir recht sein und wir kennen und verstehen einander gut genug, um aus diesem Vertrage den größten gegenseitigen Vortheil zu ziehen.« Dennoch empfand er bei der Herausgabe beider Wochenschriften immer ein starkes Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit, und so mannigfaltig der Inhalt eines Heftes und so verschieden die Verfasser der Artikel waren, eine gewisse von ihm selbst ausgehende Individualität fehlte nie darin. Er gab sich die größte Mühe (was überhaupt in allen Dingen seine Gewohnheit war) mit Heften, für die er nichts geschrieben hatte, nahm oft einen Artikel von einem jungen oder ungeschickten Antor auf, wegen eines einzigen Gedankens, um dessen willen er denselben des Umarbeitens für werth hielt, und auf diese Art, oder indem er im Allgemeinen dazu beitrug, der Arbeit Anderer Kraft und Interesse zu verleihen, ließ er sich keine Mühe verdrießen. »Ich mußte,« schrieb er 22. Juni 1856, »heute Morgen eine Erzählung für Household Words in eine gewisse Form zusammenhacken und hauen, was mir vier Stunden angestrengter Arbeit gekostet hat. Und schließlich bin ich doch ganz trostlos über ihren schrecklichen Mangel an Zusammenhang und über das furchtbare Schauspiel, was ich in den Correcturbogen angerichtet habe, die aussehen, wie ein Fischernetz von Dinte.« Einige Zeilen aus einem anderen Briefe werden die Schwierigkeiten erkennen lassen, in welche er oft durch den für die Weihnachtshefte angenommenen Plan hineingerieth: in einen von ihm selbst gezeichneten Grundriß eine Anzahl von Erzählungen verschiedener Schriftsteller einzufügen, deren jedem der Grundgedanke vorher besonders mitgetheilt war. »Bis jetzt (25. November 1859) ist mir noch keine einzige Erzählung zugegangen, die im mindesten mit der Grundidee (der einfachsten von der Welt, die ich selbst auf's ausführlichste schriftlich entwickelt hatte) in Einklang steht und eine jede dreht sich, durch ein seltsames Verhängniß, um einen Criminalproceß.« Er mußte dies Alles in Ordnung bringen, und das Amt des Herausgebers war unter diesen Umständen keine Sinekure.
Es hatte jedoch neben seinen Schmerzen auch seine Freuden, und die größeste Freude war es für ihn, wenn er ungewöhnliches Talent in einem Schriftsteller zu entdecken glaubte. Ein Brief, der mir von der Dame, an welche er gerichtet war und die unter ihrem angenommenen Namen, Holme Lee, viele Bewunderer gefunden hat, zur Benutzung überlassen ist, wird als Beispiel für manche solche Fälle dienen. »Folkestone, 14. August 1855. Ich habe Ihre Erzählung mit der tiefsten Bewegung und mit der größten Bewunderung des darin enthaltenen außerordentlichen Talents gelesen. Sowohl in ihrer Strenge als in ihrer Zartheit schien sie mir meisterhaft. Sie ergriff mich mehr als ich Ihnen ausdrücken kann. Ich schrieb an Mr. Wills, daß sie mich für jenen Tag vollständig aus den Fugen gehoben habe und daß ich, wer auch der Verfasser sein möge, die höchste Achtung vor dem Geiste empfinde, der sie hervorgebracht habe. Es traf sich grade so, daß ich seit einigen Tagen an einem Charakter gearbeitet hatte, der äußerlich der Tante glich. Und es war mir wirklich höchst merkwürdig zu beobachten, wie die beiden Personen einander zuerst so nahe schienen und sich dann auf ihren eignen, so weit getrennten Wegen von einander entfernten. Ich sagte Mr. Wills, ich sei nicht gewiß, ob ich es über mich hätte gewinnen können, einem großen Publikum die schreckliche Vorstellung erblichen Wahnsinns vorzuführen, da es höchst wahrscheinlich sei, daß Manche oder Einige darunter seien, auf welche sie einen furchtbaren, weil persönlichen Eindruck ausüben müsse. Aber ich war gezwungen, mir die Frage vorzulegen, weil die Länge der Erzählung sie für Household Words unbrauchbar machte. Ich rede von ihrer Länge lediglich in Beziehung auf jene Zeitschrift, in Bezug auf das darin Erzählte möchte ich keine Seite Ihres Manuscripts missen. Die Erfahrung lehrt mich, daß ein Roman in vier Abtheilungen den eigenthümlichen Erfordernissen eines solchen Journals am angemessensten ist; und ich versichere Ihnen, daß es mir eine seltene Genugthuung sein würde, wenn diese Correspondenz Ihre Aufnahme unter meine Mitarbeiter veranlassen sollte. Aber meine tiefe und aufrichtige Ueberzeugung von der Kraft und dem Pathos dieser schönen Erzählung ist ganz getrennt von allen weiteren Folgen und wird durch diese in keiner Weise beeinflußt. Sie existirten nicht für mich, als ich sie las. Die Handlungen und die Leiden der Charaktere ergriffen mich durch ihre eigne Kraft und Wahrheit und haben mir einen tiefen Eindruck hinterlassen.« Der Brief ist gerichtet an Miß Harriet Parr, deren Gilbert Massenger betiteltes Werk die Erzählung ist, worauf er sich bezieht. Die hier erwähnte Erfahrung hielt ihn nicht ab, in seine spätere Zeitschrift All the Year Round längere, heftweise veröffentlichte Romane von bekannten Schriftstellern aufzunehmen und seiner Einmischung in diese setzte er in gebührender Weise Grenzen. »Wenn einer meiner literarischen Brüder mir die Ehre erweist, eine solche Aufgabe zu unternehmen, bin ich der Meinung, daß er sie auf seine eigne Verantwortlichkeit und zur Erhaltung seines eignen Rufes ausführt, und ich halte mich nicht für berechtigt, jene Controle über seinen Text auszuüben, die ich in Bezug auf andre Beiträge in Anspruch nehme.« Auch gewährte ihm, selbst in diesen Fällen, nichts ein größeres Vergnügen, als jüngeren Novellisten zur Verbreitung ihrer Popularität zu verhelfen. »Du fragtest mich gestern Abend nach neuen Schriftstellern. Wenn Du Kissing the Rod lesen willst, ein Buch, das ich heute gelesen habe, wirst Du es nicht schwer finden, Dich für den Verfasser eines solchen Werkes zu interessiren.« Dies war Edmund Yates, an dessen literarischen Erfolgen er den größten Antheil nahm und mit dem er bis zuletzt einen intimen persönlichen Verkehr unterhielt, welcher aus Freundlichkeiten hervorgegangen war, die Yates ihm in einer sehr schweren Zeit erwiesen hatte. »Ich »glaube,« schrieb er von einem andern seiner Mitarbeiter, Percy Fitzgerald, zu dem er auch eine persönliche Neigung fühlte und von dessen Talenten er einen hohen Begriff hatte, »Du wirst in Fatal Zero ein sehr merkwürdiges Stück geistiger Entwicklung finden, die sich im Fortgang der Erzählung zu einem ebenso erstaunlichen als wahren Bilde vertieft.« Meine Erwähnung dieser Freuden seines Herausgeberamtes soll mit derjenigen schließen, welche, wie ich glaube, für ihn die größeste von allen war. Er gab der Welt, während der Name der Verfasserin ihm noch unbekannt war, die reinen und pathetischen Verse Adelaide Procter's. »Im Frühling des Jahres 1853 bemerkte ich ein kurzes Gedicht unter den eingesandten Beiträgen, sehr verschieden, wie mir schien, von der großen Flut von Versen, die beständig durch das Büreau einer solchen Zeitschrift hindurchwogt.« Man sehe den Lebensabriß aus seiner Feder, welcher jetzt jeder Ausgabe der volksthümlichen und schönen Legends and Lyrics voransteht. Große und häufige Beiträge unter einem angenommenen Namen waren dann gefolgt, als er um Weihnachten 1854 entdeckte, daß Miß Mary Berwick die Tochter seines alten und lieben Freundes Barry Cornwall war.
Aber die Arbeit für Zeitschriften ist nicht ohne ihre Nachtheile und ihr Einfluß auf Dickens, der sie von Zeit zu Zeit in großem Umfange betrieb, war bemerkbar in der zunehmenden Gereiztheit der Anspielungen auf nationale Einrichtungen und conventionelle Unterschiede, welche sich in seinen späteren Büchern finden. An Parteiunterschieden lag ihm immer weniger, je länger er lebte; aber der entschiedene, gebieterische dogmatische Styl, zu welchem die Gewohnheit rascher Bemerkungen über die Tagesfragen auch den aufrichtigsten und rücksichtvollsten Beobachter verleitet, zeigte, vielleicht ihm selbst nicht immer bewußt, ihren Einfluß in dem tiefgehenden Tone von Bitterkeit, der alle seine auf Copperfield folgenden Bücher durchzieht. Der Groll gegen heilbare Uebel ist in denselben ebenso lobenswerth, als in den früheren Romanen; aber die Blosstellung der Mißbräuche des Kanzleigerichtshofs, der Incompetenz der Staatsverwaltung, nationalökonomischer Uebelstände und gesellschaftlichen Bediententhums in Bleak House, Klein Dorrit, Harte Zeiten und Unser gegenseitiger Freund würde keinen minder tiefen Eindruck hervorgebracht haben durch den heitereren Ton, der, mit viel schärferer Wirkung, Mißbräuche des Gefängnißwesens, Uebelstände der Communalverwaltung, die Schulen von Yorkshire und den heuchlerischen Humbug in Pickwick, Oliver Twist, Nickleby und Chuzzlewit getroffen hatte. Man wird sich immer erinnern, daß er an die Stelle des Unrechts das Recht setzen wollte, daß er keinen Mißbrauch für unverbesserlich hielt, daß er keins der genannten Uebel zurückließ, wie er sie fand, und daß dem Einflusse seiner Schriften nicht wenige der heilsamen Veränderungen zuzuschreiben waren, welche die Epoche, in der er lebte, kennzeichnen; aber Zorn verbessert die Satire nicht, und während seiner späteren Lebensjahre gab er, aus den genannten Ursachen, demjenigen, was im Grunde nur ein sehr gesunder Haß gegen das heuchlerische Vorgeben war, daß alles Englische vollkommen ist, und daß die Bezeichnung einer Sache als unenglisch, ihre Verdammung zu schmählicher Vernichtung bedingt, eine zu aggressive Form.
»Ich habe einen Gedanken an gelegentliche Artikel in Household Words, betitelt: Das Parlamentsmitglied für Nirgendwo. Sie sollen einen Bericht über seine Ansichten, Voten und Reden enthalten und ich denke mit seinen Reden über die Sonntagsfrage anzufangen. Er ist natürlich in der Regierung. Sowie man fand, daß ein solches Mitglied im Unterhause war, fühlte man, daß er (wenn nöthig, mit Gewalt) in das Cabinet gezerrt werden müsse.« – »Ich gebe es mit Widerstreben auf,« schrieb er später, »und damit meine Hoffnung, jedem Manne in England etwas von der Verachtung für das Unterhaus einzuflößen, die ich selbst empfinde. Wir werden nie anfangen etwas zu thun, ehe diese Empfindung allgemein ist.« Dies war im August 1854, und der Zusammenbruch in der Krim verbitterte seinen Radikalismus noch mehr. »Ich werde stündlich in meinem alten Glauben befestigt,« schrieb er 3. Februar 1855, »daß unsre politische Aristokratie und unsre Stellenjägerei der Tod Englands sind. In dieser ganzen Geschichte sehe ich keinen Schimmer von Hoffnung. Was den Geist des Volkes angeht, so ist zwischen ihm und der Regierung und dem Parlament eine so vollständige Trennung eingetreten, und beide sind ihm so gleichgültig, daß ich dies im Ernst für ein unglückverheißendes Zeichen halte.« Ein paar Monate später schrieb er: »Heute morgen ist mir ein sehr hübscher Einfall für Household Words gekommen: ein schönes kleines Stück Satire, ein Bericht über ein kürzlich entdecktes arabisches Manuscript, ähnlich wie Tausend und Eine Nacht – betitelt Tausend und Ein Humbug. Mit neuen Versionen der am besten bekannten Geschichten.« Auch dies mußte aufgegeben werden und ich erwähne es nur als ein andres Beispiel seiner politischen Unzufriedenheit und des Zusammenhanges derselben mit seiner Journalarbeit. Auf die Einflüsse seiner Jugenderlebnisse, welche sie nach gewissen gesellschaftlichen Richtungen hin vermehrten, wurde bereits hingedeutet und über seine absolute Aufrichtigkeit in dieser Sache kann kein Zweifel bestehen. Dickens' Irrthümer waren nie derart, daß sie einen Schatten auf die Lauterkeit seiner Gesinnung warfen. Was er mit zu viel Bitterkeit aussprach, glaubte er mit ganzem Herzen und hatte er leider nur zu viel Grund zu glauben. »Ein Land,« schrieb er 27. April 1855, »das in Bezug auf seine Kriegsbereitschaft in diesem furchtbaren Zustande gefunden wird, während eine gewaltige schwarze Wolke der Armuth sich in jeder Stadt ausbreitet und sich stündlich vertieft, und zwar ohne daß Einer unter Zweitausenden etwas über ihr Dasein weiß, oder auch nur daran glaubt; dazu eine nicht arbeitende Aristokratie und ein schweigendes Parlament, und Jeder für sich selbst und Niemand für die Andern – das ist die Aussicht und ich halte sie für höchst beklagenswerth.« Vortrefflich sagte er über eine wohlbekannte Untersuchung zu jener Zeit: »O, was für ein herrliches Zeichen der politischen Oekonomie ist es, daß die edeln Professoren dieser Wissenschaft, die in dem Comité über die Verfälschung von Nahrungsmitteln sitzen, versucht haben, aus der Verfälschung ein Problem des Angebots und der Nachfrage zu machen! Wir werden das Millennium nie auf den Stufen dieser Leiter erreichen, Sir, und ich meinerseits werde mich nicht an dem Gewande jenes Großmoguls der Betrüger, Meister Mac Culloch, festhalten.« – Wiederum schrieb er am 30. September 1855: Ich bin wirklich ganz ernsthaft der Meinung, – und ich habe der Sache eine so schmerzliche Erwägung gewidmet, als ein Mann mit Kindern, die nach ihm leben und leiden werden, ihr aufrichtig widmen kann – daß das ganze Repräsentativsystem vollständig bei uns fehlgeschlagen ist, daß die englischen Respektabilitäten und Unterwürfigkeiten das Volk ungeeignet dafür machen, und daß das ganze Ding seit jener großen Zeit des siebzehnten Jahrhunderts zusammengebrochen ist und keine Lebensfähigkeit mehr hat.«
Mit seinem gesunden Menschenverstande, der doch immer mächtiger war als seine extremsten Ansichten, dachte er nie daran, selbst Parlamentsmitglied zu werden. Er konnte die Dinge nicht bessern und für ihn würde es eine falsche Stellung gewesen sein. Die Leute von Reading und Andere forderten ihn während der ersten, und einige hauptstädtische Wahlbezirke während der letzten Hälfte seines Lebens dazu auf. In seiner Antwort an einen der letzteren, die mir vorliegt, sagt er: »Ich erkläre, daß von allen Dingen auf dieser wimmelnden Erde, das Haus der Gemeinen und das Parlament überhaupt mir als der traurigste Fehlschlag und Unrath erscheint, der je diese vielgequälte Welt gequält hat.« Auf eine Privatanfrage von etwa demselben Datum, erwiederte er: »Ich habe nicht den mindesten Zweifel, denn ich habe oft Gelegenheit gehabt, die Sache zu überlegen, daß ich in meinem erwählten Berufskreise weit nützlicher und unabhängiger wirken kann, als es im Unterhause möglich wäre, und ich glaube nicht, daß irgend eine Rücksicht mich bewegen würde, ein Mitglied jener außerordentlichen Versammlung zu werden.« Endlich, als er hörte, daß man in Finsbury darüber berathschlage, ob man ihn auffordern solle, diesen Wahlbezirk im Parlament zu vertreten, schrieb er ohne Zögern (November, 1861): »Es mag einige Mühe ersparen, wenn Sie die Güte haben wollten, einen verständigen Herrn zu bekräftigen, der es bei jener Versammlung bezweifelte, ob ich ganz der rechte Mann für Finsbury sei. Ich bin durchaus nicht der rechte Mann, und ich glaube, Nichts würde mich bewegen, mich als Parlamentscandidat für diesen oder für irgend einen andern Ort unter der Sonne zu bewerben.« Der einzige direkte Versuch, sich einer politischen Agitation anzuschließen, war seine Rede in Drury Lane, zu Gunsten administrativer Reform, und er wiederholte diesen Versuch nie. Aber jede Bewegung zu Gunsten praktischer, gesellschaftlicher Reformen, zur Erlangung wirksamerer sanitarischer Gesetze, zur Einführung der angemessensten zwangsweisen Erziehungsmaßregeln für die Armen und zur Besserung der Lage der arbeitenden Klassen, förderte er nach besten Kräften bis zu seiner letzten Stunde; und die Bereitwilligkeit, womit er bei Versammlungen, welche solche Zwecke hatten, den Vorsitz übernahm, die Hülfe, die er wichtigen Gesellschaften angedeihen ließ, welche auf wohlthätige Weise für sich selbst oder für die Gesammtheit arbeiteten und die Gewalt und Anziehungskraft seiner Beredsamkeit machten ihn zu einer der bewegenden Kräfte der Zeit. Seine Reden gewannen einen eigenthümlichen Reiz durch die Lebhaftigkeit seiner vollkommenen Selbstbeherrschung, und hiermit vereinigte er die Vorzüge einer Persönlichkeit und eines Wesens, welche ebenso allgemein bekannt und populär geworden waren, wie seine Bücher. Die gemischtesten Versammlungen hörten auf ihn wie auf einen persönlichen Freund.
Zwei Vorgänge am Schlusse seines Lebens werden zeigen, was seine letzten Ansichten über diese Dinge waren. Bei dem großen Festmahl in Liverpool, nach seinen Vorlesungen in den Provinzen im Jahre 1869, wo Lord Dufferin auf beredte Weise den Vorsitz führte, erwiederte er auf einen Einwand Lord Houghton's, gegen seine Abneigung, sich an dem öffentlichen Leben zu betheiligen: daß es, als er die Literatur zu seinem Berufe gewählt, seine Absicht gewesen sei, sie zu seinem einzigen Berufe zu machen; daß es ihm damals geschienen, als werde sie in England nicht so gut verstanden, als in einigen andern Ländern; daß die Literatur ein ehrenvoller Beruf sei, mit dem ein Jeder stehen oder fallen könne, und daß er entschlossen sei, daß sie in seiner Person wenigstens stehen oder fallen solle »durch sich selbst, in sich selbst und für sich selbst«, ein Uebereinkommen, welches »keine Rücksicht auf Erden ihn jetzt bewegen werde, zu brechen«. Hier gelang es ihm indeß wohl kaum, den ganzen Sinn von Lord Houghton's Bedauern zu erfassen, der in höflicherer Form ausdrücken zu wollen schien, daß die Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten ihm die Schwierigkeit gezeigt haben würde, in einem freien Staate sehr schnell für Uebel von langem Wachsthum Heilmittel zu beschaffen. Ueber Lord Houghton's Einwand und Dickens' Antwort darauf hatte die Times einen Leitartikel, dessen Schlußsätze eine passende Stelle in seiner Biographie finden. »Wenn Lord Russell's Theorie begründet ist, daß die Ertheilung der Pairswürde auf Lebenszeit besonders wünschenswerth erscheine, um diejenigen Formen nationaler Größe zu repräsentiren, welche auf andre Weise keine angemessene Repräsentation finden können, so möchte man, aus den bereits erwähnten Gründen, darauf bestehen, daß die Pairswürde auf Lebenszeit dem wahrhaft nationalen Repräsentanten eines wichtigen Gebiets der neueren englischen Literatur zukomme. Ohne Zweifel läßt sich etwas zu Gunsten dieser Ansicht sagen, aber wir möchten bezweifeln, ob Dickens selbst durch eine Pairswürde auf Lebenszeit etwas gewinnen würde. Dickens ist vor Allem ein Schriftsteller des Volkes und für das Volk. Nach unserer Ansicht ist er weit besser geeignet für die Rolle des ›Großen Bürgers‹ des englischen Romans, als für eine Pairswürde auf Lebenszeit. Charles Dickens in Lord Dickens zu verwandeln, würde so ziemlich derselbe Irrthum in der Literatur sein, wie es einst in der Politik die Verwandlung William Pitt's in Lord Chatham war.« Einen halben Vorwurf von derselben Seite, wegen vorgeblicher unfreundlicher Gefühle gegen das Oberhaus, wies Dickens mit großer Wärme zurück, indem er seine hohe Achtung für individuelle Mitglieder dieser Versammlung hervorhob und erklärte, daß es keinen Mann in England gebe, den er in seiner öffentlichen Eigenschaft mehr achte, in seiner Privateigenschaft mehr liebe, oder von dem er bemerkenswerthere Beweise der Verehrung und Liebe für die Literatur empfangen, als Lord Russell. Als er kurz darauf in Birmingham vor den Mitgliedern des Midland Institute über Erziehung sprach, sagte er denselben, sie sollten die Selbstverbesserung nicht schätzen wegen der äußern Vortheile, welche sie ihnen bringe, sondern weil sie an sich gut und recht sei; erklärte ihnen, daß in Beziehung hierauf Genie nicht halb so viel werth sei, als Fleiß, oder die Kunst, sich ungeheure Mühe zu geben, die er in allen Studien und Berufskreisen für die einzige sichre, gewisse, lohnende Eigenschaft halte, und faßte sein politisches Glaubensbekenntniß kurz in den Worten zusammen: »Mein Glaube an das regierende Volk ist im Ganzen unendlich gering, mein Glaube an das regierte Volk ist im Ganzen unbegrenzt.« Den Sinn dieser Bemerkung erklärte er später (Januar 1870) dahin, daß er sehr wenig Vertrauen habe zu den Leuten (»mit einem kleinen p«), die uns regieren, und sehr großes Vertrauen zu dem Volke (mit einem großen P), das sie regieren. People hat im Englischen bekanntlich die doppelte Bedeutung von Leuten im Sinne einiger Wenigen, und von Volk im Sinne der Masse des Volks, der Nation. – D. Uebers. »Mein kurz und elliptisch gefaßtes Bekenntniß wurde, sicherlich ohne jede böse Absicht, an einigen Orten in umgekehrtem Sinne gedeutet.« Er fügte hinzu, daß seine politischen Ansichten schon dunkel ausgesprochen seien in »ein paar müßigen Büchern« und erinnerte seine Zuhörer daran, daß er der Erfinder einer gewissen Fiktion sei, »genannt das Amt der Umschweife, die für sehr ungereimt erklärt wird, die ich aber ziemlich häufig citirt finde, als lägen ihr doch einige Körner Wahrheit zu Grunde.« Man darf nichtsdestoweniger mit einiger Zuversicht annehmen, daß diejenige Deutung seiner wirklichen Meinung nicht sehr unrichtig war, welche als die Vorbedingung seines unbegrenzten Glaubens annahm, daß das Volk, selbst mit dem großen P, » regiert« werden müsse. Es war seine beständige Klage, daß ein Volk, welches der Regierung so sehr bedürfe, nur Schein-Regierer habe; und er war von seinem zweiten Besuche in Amerika zurückgekehrt, wie von seinem ersten, abgeneigt zu glauben, das politische Problem sei in dem Lande der Freien wirklich gelöst worden. In den Seiten seines letzten Buches fehlte die Bitterkeit der in den letztgenannten Büchern so häufigen Anspielungen vollständig, und sein alter unveränderter Wunsch, das, was an den englischen Einrichtungen schlecht war, zu bessern, brachte kein Verlangen mit sich, sie durch neue zu ersetzen.
In einer kurz nach seinem Tode veröffentlichten Lebensbeschreibung erschien die folgende Erklärung. »Seit vielen Jahren hat Ihre Majestät die Königin das lebhafteste Interesse an Dickens' literarischen Arbeiten bewiesen, und oft den Wunsch einer persönlichen Zusammenkunft mit ihm ausgesprochen . . . Diese Zusammenkunft fand statt am 9. April, als er den Befehl der Königin empfing, ihr in Buckingham Palace aufzuwarten und von seinem Freunde Arthur Helps, dem Secretär des Staatsraths, vorgestellt wurde . . . Seit dem Dahinscheiden unsres Autors hat die Zeitung, mit der er früher in Verbindung stand, gesagt: ›Die Königin war bereit, ihm jede Auszeichnung zu Theil werden zu lassen, welche er bei seinen wohlbekannten Ansichten und Neigungen anzunehmen Willens sei, und nachdem mehr als ein Ehrentitel abgelehnt war, sprach Ihre Majestät den Wunsch aus, daß er wenigstens eine Stelle in ihrem Staatsrath annehmen möge.‹« Da nichts zu einfältig ist, um nicht geglaubt zu werden, In einer in Amerika verbreiteten Lebensbeschreibung von Dr. Shelton Mackenzie findet sich der nachstehende, ohne Zweifel aus zeitgenössischen Veröffentlichungen entlehnte Bericht, über den es streng wahrheitsgemäß sein wird, zu sagen, daß er, mit Ausnahme der Schlußbehauptung, derzufolge Dickens der Königin, auf ihren eignen Wunsch, ein Exemplar seiner Werke schickte, kein einziges wahres Wort enthält. »Zu Anfang des Jahres 1870 schenkte die Königin Dickens ihr Buch über die Hochlande, mit der bescheidenen autographischen Inschrift: ›Von dem geringsten an den größten Autor Englands‹. Dies sollte ein Compliment sein und wurde als solches von Dickens angenommen, der in einem männlichen, höflichen Briefe dafür dankte. Bald nachher schrieb ihm Königin Victoria, und bat ihn, er möge ihr den Gefallen thun, sie in Windsor zu besuchen. Er nahm die Einladung an und verlebte einen sehr angenehmen Tag in der Gesellschaft seiner Monarchin. Es heißt, daß Beide einander gefielen, daß Dickens grade den der Königin angenehmen Ton zu treten wußte, daß sie sehr freundschaftlich zusammen schwatzten, daß die Königin nicht müde wurde, über gewisse Charaktere seiner Bücher Fragen an ihn zu stellen, daß sie fast ein tête-à-tête Dejeuner einnahmen und daß die Königin, ehe er fortging, in ihn drang, die Baronetswürde anzunehmen (ein Titel, der sich auf den ältesten Sohn vererbt) und daß sie, als er dies ablehnte, sagte: ›Lassen Sie mich dann wenigstens die Befriedigung haben, Sie zum Mitgliede meines Staatsraths zu machen.‹ Auch diese Würde, welche den persönlichen Titel ›Sehr Ehrenwerth‹ mit sich bringt, lehnte er ab – und in der That bedurfte Charles Dickens keines Titels, um ihm Ansehen zu verleihen. Die Königin und der Autor trennten sich im besten Einverständniß. Die Zeitungen berichteten, die Pairswürde sei ihm angeboten und von ihm abgelehnt worden – aber selbst Zeitungen sind nicht ohne Ausnahme correkt. Dickens machte seiner königlichen Herrin ein Geschenk mit einem schönen Exemplar seiner sämmtlichen Werke, und noch am Morgen seines Todes kam ein auf ihren Wunsch von Arthur Helps geschriebener Brief in Gadshill an, der für das Geschenk dankte und genau die Stelle beschrieb, welche die Bücher in Balmoral hatten, wo sie so gestellt waren, daß die Königin sie sehen konnte, wenn sie ihren gewöhnlichen Sitz in ihrer Wohnstube einnahm. Als dieser Brief anlangte, war Dickens noch am Leben, aber völlig bewußtlos. Was war für ihn um diese Zeit die Leutseligkeit eines irdischen Herrschers?« Ich wiederhole, daß das einzige Stückchen Wahrheit an diesem ganzen Geschreibsel ist, daß Dickens die Bücher schickte und daß Arthur Helps auf den Wunsch der Königin dafür dankte. Der Brief kam nicht an seinem Todestage, dem 9. Juni, an, sondern wurde an diesem Tage von Balmoral datirt. wird es nicht überflüssig sein, zu bemerken, daß Dickens von keinem solchen Wunsche seitens Ihrer Majestät wußte, und obgleich alle Wahrscheinlichkeiten auf Seiten seiner Unwilligkeit liegen, irgend einen Titel oder Ehrenstelle anzunehmen, so ist es doch ebenso gewiß, daß ihm kein solches Anerbieten gemacht wurde.
Man hatte gehofft, den Namen Ihrer Majestät für die 1857, nach Jerrold's Tode, veranstalteten Aufführungen zu erlangen; aber da dies eine öffentliche Bemühung zu Gunsten eines Privatmannes war, würde die Zustimmung der Königin »entweder beständige Nachgiebigkeit oder beständige Beleidigung gegen Andre« bedingt haben. Ihre Majestät ließ jedoch damals durch Oberst Phipps Um jene Zeit Privatsekretär der Königin. – D. Uebers. an Dickens das Gesuch stellen, sich ein Zimmer in ihrem Palaste auszusuchen, damit zu thun, was er wolle und sie dort das Stück sehen zu lassen. »Ich sagte darauf zu Oberst Phipps« (21. Juni 1857), »der Gedanke sei mir nicht neu; ich sei nicht ganz ruhig in Bezug auf die gesellschaftliche Stellung meiner Töchter &c. bei einer Hofversammlung unter solchen Umständen, und ich möchte Ihre Majestät bitten, mich zu entschuldigen, wenn es sich einrichten lasse, daß sie das Stück auf irgend eine andre Weise sehe. Hierauf sagte Phipps, er habe nicht an den Einwand gedacht, zweifle aber nicht im mindesten, daß ich Recht habe. Ich schlug dann vor, die Königin solle eine Woche vor dem Beginn der öffentlichen Aufführungen in die Gallery of Illustration kommen und die Halle dort ganz zu ihrer Verfügung haben und ihre eigene Gesellschaft einladen. Hierzu entschloß sie sich, mit dem richtigen Gefühl das ihre gute Natur bei allen Gelegenheiten zu begleiten scheint, in wenigen Stunden.« Die Wirkung der Aufführung war höchst befriedigend. »Meine gnädige Monarchin« (schrieb Dickens am 5. Juli 1857) »war so befriedigt, daß sie mich bitten ließ, zu ihr zu kommen und ihren Dank in Empfang zu nehmen. Ich antwortete, ich sei in meinem Possenanzuge und müsse bitten, mich zu entschuldigen. Worauf sie noch einmal schickte, mit der Bemerkung, ›der Anzug könne nicht so sehr lächerlich sein,‹ und ihren Wunsch wiederholte. Ich ließ mich zur Antwort gehorsamst empfehlen, drückte aber wieder die Hoffnung aus, Ihre Majestät werde die Güte haben, mich zu entschuldigen, wenn ich mich nicht in einem Kostüm und Aufzuge vorstelle, die nicht meine eigenen seien. Als ich heute Morgen aufwachte, freute es mich gewaltig, zu denken, daß ich meinen Willen durchgesetzt hatte.«
Die Gelegenheit, sich in seinem eignen Kostüm vorzustellen, kam erst in seinem Todesjahre, nachdem inzwischen ein anderer Versuch ebenfalls erfolglos gewesen war. »Ich wurde am Sonntag« (30. März 1858) »in große Verlegenheit versetzt. Ich weiß nicht, wer mit meinem Informanten gesprochen hat; aber es scheint, daß die Königin lebhaft verlangt, mich das Weihnachtslied vorlesen zu hören und den Wunsch ausgesprochen hat, dies ohne Anstoß zu Wege zu bringen, aber nicht recht weiß, wie es anzufangen ist, weil ich mich entschuldigen ließ, als sie mich nach der Gefrorenen Tiefe sehen wollte. Ich parirte die Sache so gut ich konnte, aber als man mich bat, eine freundliche und rücksichtsvolle Antwort bereit zu haben, da man wisse, das Gesuch werde gemacht werden, sagte ich: ›Nun! ich dachte, Oberst Phipps würde mit mir darüber sprechen, und sollte er dies thun, so würde ich ihn meines Wunsches versichern, den Wünschen Ihrer Majestät entgegenzukommen und meine Hoffnung ausdrücken, daß sie mir den Gefallen erweisen möchte, als Mitglied irgend einer Zuhörerschaft zuzuhören; denn meiner Meinung nach sei eine Zuhörerschaft zu der Wirkung nothwendig.‹ So steht die Sache; aber sie quält mich.« Die Schwierigkeit wurde nicht überwunden; aber das fortdauernde Interesse Ihrer Majestät an dem Weihnachtsliede erhellte aus ihrem Ankauf eines Exemplars des Buches mit Dickens' Autograph, bei der Versteigerung von Thackeray's Bibliothek; Das Buch war folgendermaßen in dem Kataloge verzeichnet. » Dickens (C.) Ein Weihnachtslied in Prosa 1843: Geschenk des Autors, mit der Inschrift ›W. M. Thackeray, von Charles Dickens (den er einmal, weit von der Heimath, sehr glücklich machte).‹« Einige hübsche Verse seines Freundes hatten ihn tief ergriffen, während er im Auslande war. Ich citire aus dem von Mr. Hotten veröffentlichten ›Leben Dickens‹. »Ihre Majestät sprach den lebhaften Wunsch aus, dies vom Autor geschenkte Exemplar zu besitzen, und gab einen unbeschränkten Auftrag für den Ankauf desselben. Der ursprüngliche Ladenpreis des Buches war 5 Schillinge. Es kam in den Besitz Ihrer Majestät für 25 Pfd. St. 10 Sh. und wurde sofort in den Palast gebracht.« und endlich, in Dickens' Todesjahre, kam es zu der Zusammenkunft mit dem Autor, dessen Popularität von ihrer Thronbesteigung datirte, dessen Bücher eine größere Anzahl ihrer Unterthanen erfreut hatten, als diejenigen irgend eines anderen zeitgenössischen Schriftstellers und dessen Genie dem Glanze ihrer Regierung zugerechnet werden wird. Ein Zufall führte diese Zusammenkunft herbei. Dickens hatte aus Amerika einige große und merkwürdige Photographieen der Schlachtfelder des Bürgerkrieges mitgebracht, von welchen die Königin durch Mr. Helps gehört hatte und die sie zu sehen wünschte. Dickens schickte sie unverzüglich, und ging später mit Mr. Helps, auf Verlangen der Königin, nach Buckingham Palace, damit sie ihn sehen und ihm in eigner Person danken könne.
Es war in der Mitte des März 1870, nicht im April. »Kommen Sie her, das ist interessant, erzählen Sie uns davon,« riefen Dr. Johnson's Freunde, nach seiner Unterhaltung mit Georg III., und wieder und wieder wurde die Geschichte an Zuhörer erzählt, die bereit waren, aus ihren Gemeinplätzen Wunder zu machen. Aber die Romantik, selbst die des 18. Jahrhunderts, in einer solchen Sache, ist vollständig verschwunden aus dem 19ten. Es genügt zu sagen, daß die Freundlichkeit der Königin Dickens einen starken Eindruck hinterließ. Als Ihre Majestät ihr Bedauern ausdrückte, seine Vorlesungen nicht gehört zu haben, bemerkte Dickens, diese seien jetzt eine Sache der Vergangenheit geworden, während er das Compliment Ihrer Majestät in Bezug auf dieselben dankbar anerkannte. Sie sprach mit ihm von dem Eindruck, welchen sein Spiel in der Gefrorenen Tiefe ihr gemacht habe, und als er auf ihre Nachfrage bemerkte, das kleine Stück sei auf den öffentlichen Bühnen nicht sehr erfolgreich gewesen, sagte sie, dies überrasche sie nicht, da der Vorzug seines Spiels ihm abgehe. Dann geschah eines angeblich dem Prinzen Arthur in New-York widerfahrenen unfreundlichen Benehmens Erwähnung und Dickens bat Ihre Majestät die wahren Amerikaner jener Stadt nicht zu verwechseln mit dem fenischen Theil ihrer irischen Bevölkerung, worauf sie ruhig bemerkte, sie sei überzeugt, die Umgebung des Prinzen habe auf den Vorfall zu großes Gewicht gelegt. Er erzählte ihr die Geschichte von dem Traume des Präsidenten Lincoln in der Nacht vor seiner Ermordung. Vgl. III. 380–381. Sie bat ihn, ihr seine Schriften zu geben und fragte, ob sie dieselben schon am Nachmittag desselben Tages erhalten könne; aber er bat um die Erlaubniß, ihr ein gebundenes Exemplar schicken zu dürfen. Ihre Majestät nahm dann von einem Tische ihr eigenes Buch über die Hochlande, mit einer eigenhändigen Zueignung »an Charles Dickens«, indem sie sagte, »der geringste der Schriftsteller würde sich schämen, es einem der größesten anzubieten,« hätte nicht Mr. Helps, als sie ihn gebeten, es Dickens zu überreichen, bemerkt, es würde am höchsten geschätzt werden, wenn es von ihr selbst komme – und machte der Zusammenkunft ein Ende, indem sie das Buch in seine Hand legte. »Sir,« sagte Dr. Johnson, »man mag von dem jungen Könige sagen, was man will, aber Ludwig der Vierzehnte hätte keine feinere Höflichkeit zeigen können;« und Dickens war nicht geneigt, weniger zu sagen von der Enkelin des jungen Königs. Daß der wohlthuende Eindruck genügte, ihn auf neue Bahnen zu führen, davon erhielt ich, zugleich mit der Andeutung der noch überlebenden Stärke alter Erinnerungen, sofort Beweise. »Da meine Monarchin wünscht,« schrieb er am 26. März 1870, »daß ich bei dem nächsten Levée zugegen bin, falle nicht vor Erstaunen in Ohnmacht, wenn Du meinem Namen an einer so ungewohnten Stelle begegnest. Ich habe mich für den zweiten April scrupulös frei gehalten, falls Du zugänglich sein solltest.« Sein Name erschien demnach bei dem Levée, seine Tochter war bei dem dann folgenden Drawing-Room und Lady Houghton schreibt mir: »Ich sah Dickens nie heiterer als bei einem Dîner in unserem Hause, etwa vierzehn Tage vor seinem Tode, als er mit dem König der Belgier und dem Prinzen von Wales, auf den besonderen Wunsch des Letzteren, zusammentraf.« Fast bis zur Stunde des Dîners war es zweifelhaft, ob er werde hingehen können. Er litt an der Krankheit in seinem Fuße und mußte, als er ankam, da er außer Stande war, die Treppe hinaufzugehen, sofort in das Eßzimmer geführt werden.
Der Freund, welcher Dickens nach Buckingham Palace begleitet hatte, sagte in einem, nach seinem Tode geschriebenen kurzen, aber von ausgezeichneter Einsicht und Geschmack zeugenden Nachrufe: In Memoriam, von Arthur Helps, in Macmillans' Magazine, Juli, 1870. Dickens habe glühend eine Zeit herbeigewünscht und derselben zuversichtlich entgegengesehen, wo ein engeres Band, als das gegenwärtig bestehende, die verschiedenen Klassen des Volkes verbinden, ein Band die höchsten wie die niedrigsten umfassen werde. Dies drückt, so gut als wenige Worte es ausdrücken können, das aus, was jedenfalls sein Herz immer erfüllte, und vielleicht mochte er am Schlusse seines Lebens die künftige Verwirklichung dieser Sehnsucht für möglicher halten, als je zuvor. Die Hoffnung war auf den Lippen seines Freundes Talfourd, als dieser starb, und seine eignen widerstrebendsten Ansichten mögen sich zuletzt in dem Bemühen vereinigt haben, eine solche Versöhnung herbeizuführen. Mehr braucht über diesen Punkt nicht gesagt zu werden. Was man auch gegen gewisse, ihm eigenthümliche Ansichten einwenden mag, er würde, auch ohne die verwerflichste derselben, weniger gewesen sein als er selbst. Es war in ihm etwas von dem Despoten, was nur selten von dem Genie zu trennen ist, vereint mit einer Wahrheit der Natur, welche den größesten Charakteren angehört, wodurch Männer, deren eigne Begabung von seltener Art war, veranlaßt wurden, das in ihm zu finden, was Sir Arthur Helps beschrieben hat: »einen Mann, auf den man in der Mitte einer großen Gefahr vertrauen, zu dem man als zu einem Führer emporblicken konnte.«
Auch Layard hatte diese Ansicht von ihm. Er war in Gadshill, während der Weihnachtszeit vor Dickens' letztem Besuche in Amerika, und erlebte eine jener dort nicht seltenen Scenen, in denen der Herr des Hauses recht eigentlich zu Hause war. Dieselben nahmen gewöhnlich die Form von Cricket-Partieen an, aber die damals stattfindende war, um den Ausdruck seines Freundes Bobadil zu gebrauchen, mehr populär und allgemein, und natürlich wuchs er mit seinen größeren Zwecken. »Je mehr Ihr von dem Herrn verlangt, desto mehr werdet Ihr in ihm finden,« sagte der bei seinen Vorlesungen angestellte Gasmann. »Es werden morgen,« schrieb Dickens am Weihnachtstage, »in meinem Felde Wettrennen zu Fuße für die Dorfbewohner stattfinden. Wir sind heute Alle eifrig beschäftigt gewesen, eine Rennbahn herzustellen, zahllose Fähnchen zu machen, und ich weiß nicht, was sonst noch. Layard ist Oberpräsident der häuslichen Polizei. Die Landpolizei prophezeit uns eine ungeheure Volksmenge.« Es stellten sich zwei- bis dreitausend Personen ein und irgendwie, durch eine Art magischen Einfluß, sagte Layard, schien Dickens jedes anwesende Geschöpf, auf die Ehre, welche das Geschöpf hatte, verpflichtet zu haben, Ruhe zu halten. Welche besonderen Mittel dazu gebraucht, oder welche Kunst dazu angewandt wurde, mochte schwer sein zu sagen; aber dies war das Resultat. In einem Briefe vom Neujahrstage beschrieb Dickens mir es selbst. »Wir hatten eine sehr hübsche Rennbahn gemacht, und uns große Mühe gegeben. Durch meine Erfahrung bei den Cricket-Partieen ermuthigt, erlaubte ich dem Wirth des »Falstaff« eine Trinkbude auf dem Felde zu halten. Um den Anschein eines diktatorischen oder mißtrauischen Benehmens zu vermeiden, gab ich alle Preise (eine Gesammtsumme von etwa zehn Pfd. St.) in Geld. Die große Masse des Volks waren Arbeiter jeder Art, Soldaten, Matrosen und Tagelöhner. Sie brachten zwischen halb elf Uhr, wo wir anfingen, und Sonnenuntergang, keinen Strick und keine Stange in Unordnung, und ließen jede Barriere und jede Stange so nett als sie sie fanden. Es gab weder Zänkereien noch Betrunkenheit. Ich hielt ihnen von dem Rasenplatze aus, am Ende der Spiele, eine kleine Rede, in der ich sagte, daß wir, so Gott wolle, es im nächsten Jahre wieder so machen wollten. Sie applaudirten eifrig und zerstreuten sich. Die Straße zwischen hier und Chatham war den ganzen Tag wie ein Markt; und jedenfalls ist es aller Ehren werth, wenn die Bewohner einer leichtlebigen Seestadt sich so ausgezeichnet betragen. Unter andern Seltsamkeiten hatten wir ein Wettrennen mit Hindernissen, für Fremde. Ein Mann (er gewann den zweiten Platz) lief in zwanzig Sekunden 120 Schritte und sprang über zehn Barrieren mit einer Pfeife im Munde, und während er die ganze Zeit rauchte. ›Hätten Sie die Pfeife nicht gehabt,‹ sagte ich zu ihm am Ziele der Rennbahn, ›so würden Sie der erste gewesen sein.‹ – ›Ich bitte um Vergebung, Sir,‹ sagte er, ›hätte ich meine Pfeife nicht gehabt, so würde ich nirgends gewesen sein.‹« Der Schluß des Briefes enthielt folgende merkwürdige Ankündigung. »Der Verkauf des Weihnachtsheftes belief sich gestern Abend auf 255,380 Exemplare.« Könnte man nicht mit einigem Rechte sagen, daß in einer so gewaltigen Popularität etwas liegt, was an sich elektrisch ist und was, obgleich nur auf Bücher gegründet, auch da gefühlt wird, wohin die Bücher nie kommen?
Es ist auch bemerkenswerth, daß grade dasjenige, was Dickens' Stärke gewesen sein würde, hätte er eine öffentliche Laufbahn eingeschlagen, die anziehende wie die gebietende Seite seiner Natur, auch das war, was ihn am meisten an den Kreis häuslicher Pflichten und Freuden fesselte. Dieser »bessere Theil von ihm« hatte jetzt lange jene traurige Zeit von 1857–58 überlebt, als, aus Gründen, die ich nicht verschweigen zu glauben durfte, ein unbestimmtes Gefühl von Rastlosigkeit sich seiner bemächtigte und die Umstände ihn veranlaßten, sich in eine andre Thätigkeit hineinzustürzen als diejenige, der er bis dahin sich ausschließlich gewidmet hatte. Es war eine trübe Epoche in seinem Leben; aber obgleich gewisse durch jene neue Beschäftigung bedingte Veränderungen blieben, und mit ihnen manche widrige Einflüsse, welche sein Leben zu einem vorzeitigen Abschluß brachten, so war es doch, in Bezug auf jenes Gefühl, nur eine Zwischenzeit; und der vorherrschende Eindruck der späteren Jahre, wie der früheren, nimmt jene wunderbar heimathliebende Gestalt an, in der auch die Stärke seines Genies sich offenbart. Es ist unmöglich, um irgend einen Theil eines solchen Menschen eine zu scharfe Linie zu ziehen, und man darf den Schriftsteller nicht der Inconsequenz beschuldigen, der sagt, daß die Leiden von Dickens' Kindheit Vor Kurzem erschien im Athenaeum ein Auszug aus einem gedruckten, aber noch nicht herausgegebenen Tagebuch Payne Collier's, vom Juli 1833, mit einer Hinweisung auf Dickens, zu der Zeit, als er zuerst als Berichterstatter Beschäftigung fand, und im Zusammenhang mit der Erzählung meines ersten Bandes über jene Leiden seiner Kindheit. »Bald nachher bemerkte ich einen großen Unterschied in Dickens' Kleidung, denn er hatte sich einen neuen Hut und einen sehr schönen blauen Mantel gekauft, den er à l'Espagnole über die Schulter warf . . . Wir gingen zusammen durch den Hungerford-Markt, wo wir einem Kohlenträger folgten, der sein kleines, rosiges, aber schmutziges Kind auf der Schulter trug, und Dickens kaufte für ein paar Pfennige Kirschen, und indem wir weiter gingen, gab er sie eine nach der andern dem kleinen Kerl, ohne daß der Vater es merkte . . . Er sagte mir, als wir hindurchschritten, daß er den Hungerford-Markt gut kenne . . . Er bemühte sich nicht, die Verlegenheiten zu verbergen, gegen welche er und seine Familie zu kämpfen gehabt hatten.« und das elende Gefühl der Verlassenheit und der Sehnsucht nach den Freuden der Heimath, welches sie ihm einbrannten, nicht bloß das hervorrief, was am schwächsten, sondern auch das, was am größesten in ihm war. Es war in reiferen Jahren ebensowohl seine Schwäche als sein Verdienst, daß er nicht allein leben konnte. Wenn die Gedanken zu seinen Romanen ihn ergriffen und er unter ihrem rastlosen Einflusse war, redete er wohl oft davon, daß er sich an abgelegenen einsamen Orten verschließen wolle, ging aber nie irgendwohin, ohne von Mitgliedern seiner Familie begleitet zu sein. Die Gewohnheiten seines täglichen Lebens nahm er überall, wohin er auch gehen mochte, mit. In Albaro und Genua, in Lausanne und Genf, in Paris und Boulogne lebte er ganz auf dieselbe Weise, wie zu Hause, in London und Broadstairs. Wenn es die Eigenthümlichkeit einer häuslichen Natur ist, an allen kleinsten und größten Dingen innerhalb der vier Wände, in denen man lebt, Interesse zu haben, so besaß Niemand dieselbe in höherem Maaße als Dickens. Niemand konnte von Natur geneigter sein, sein Glück im häuslichen Leben zu finden als er. Selbst jene eigne Art von Interesse an einem Hause erfüllte ihn, welche gewöhnlich auf die Frauen beschränkt ist. Nicht zu reden von Veränderungen von Bedeutung, wurde nirgends, wo er auch wohnte, auch nur ein neuer Haken eingeschlagen, ohne daß er davon wußte, oder daß er irgend einen eignen kleinen Zweck damit verband. Nichts war zu gering für seine persönliche Beaufsichtigung. Was auch vor sich ging, Privattheater für die kleinen Kinder, Unterhaltungen für die heranwachsenden, Cricket-Partieen, Dîners, gymnastische Spiele, von dem ersten Sylvester-Ball in Doughty Street bis zu dem letzten musikalischen Abend in Hyde-Park-Place, er war bei Allem der Mittelpunkt und die Seele. Er bemühte sich nicht, die größere oder geringere Wichtigkeit einer Sache abzumessen. Daß Etwas gethan werden mußte, war für ihn ein hinreichender Grund, es zu thun, als gäbe es nichts Anderes in der Welt zu thun. In kleinen wie in großen Dingen folgte er der Aufforderung Laud's und Wentworth's, und auf Niemanden war das Deutsche echt, welches sowohl Wirklichkeit als Gründlichkeit ausdrückt, anwendbarer als auf ihn. Die natürliche Folge davon war, daß man sich in seinem häuslichen Kreise immer in allen Dingen absolut auf ihn verließ. In allen Schwierigkeiten, in allen Nothfällen kam von ihm der aufmunternde Einfluß, die klare, stets bereite Hülfe. In Krankheitsfällen, der Kinder wie der Dienstboten, war er besser als ein Arzt. Er war so voll von Hülfsmitteln, um welche ein Jeder sich eifrig an ihn wandte, daß seine bloße Gegenwart im Krankenzimmer ein heilender Einfluß war, als könne nichts fehlschlagen, wenn er nur da sei. So daß endlich, als er während der furchtbaren Nacht, welche seinem Scheiden vorherging, besinnungslos in dem Zimmer lag, wo er hingesunken war, die Geschlagenen und Betäubten, die seiner warteten, es unmöglich fanden zu glauben, daß nichts von ihm geblieben sei, als was sie sahen, oder ganz der seltsamen, wilden Hoffnung zu entsagen, daß er plötzlich wieder unter ihnen sein werde, wie er selbst, und von Neuem in's Leben zurückrufen werde, was sie selbst damals noch nicht in Zusammenhang bringen konnten mit der verzweifelnden Hülflosigkeit des Todes.
Dies Gefühl beschränkte sich nicht auf die Verwandten, denen er so gelehrt hatte, sich ausschließlich auf ihn zu verlassen. Unter den an jene Trauernden gerichteten Tröstungen waren die Worte eines Mannes, den er während seines Lebens am höchsten geehrt hatte, und der es auch schwer fand, ihn mit dem Tode in Verbindung zu bringen, oder zu denken, daß er jenes lebensvolle Gesicht nie wieder sehen solle. »Es sind fast dreißig Jahre,« schrieb Carlyle, »seit meine Bekanntschaft mit ihm anfing, und ich meinerseits kann sagen, daß jede neue Begegnung sie zu einer immer klareren Erkenntniß seines seltenen und großen Werthes als Mensch reifte: ein warmfühlender, aufrichtiger, klarsehender, ruhig entschiedener, gerechter und liebender Mensch – bis er mir endlich so an's Herz gewachsen war, wie wenige andere Menschen meiner Zeit. Dies kann ich Euch Dreien sagen, denn es ist wahr und wird Euch willkommen sein; mit andern, weniger Betheiligten möchte ich ebenso gern nicht über eine solche Sache reden.« – »Ich fühle tiefen Schmerz für Sie,« schrieb Carlyle um dieselbe Zeit an mich; »und in der That für mich selbst und für uns Alle. Es ist ein weltweites Ereigniß; ein in seiner Art einziges Talent ist plötzlich erloschen und hat (auch wir dürfen das sagen) ›die harmlose Heiterkeit der Nationen verdunkelt‹. Kein Tod seit 1866 hat mich mit einem solchem Schlage getroffen; der Tod keines Schriftstellers hat mich je so getroffen. Der gute, hochgesinnte, hochbegabte, immer freundliche, edle Dickens – jeder Zoll von ihm ein ganzer Mensch.«
Von seinen durchgehend thätigen Gewohnheiten habe ich gesprochen und ohne Zweifel wurden dieselben zu weit getrieben. In seiner Jugend mochte es angehen, aber er nahm keine Rücksicht auf die Jahre. Ich habe dies an vielen Beispielen erläutert; einige Worte darüber mögen jedoch hier noch ihre Stelle finden. Für alle Menschen, die viel thun, sind Regel und Ordnung wesentlich. Methode in allen Dingen war eine Eigenthümlichkeit von Dickens; und zwischen dem Frühstück und dem Dejeuner war, mit seltenen Ausnahmen, seine Arbeitszeit. Aber seine täglichen Spaziergänge waren weniger eine Regel als ein Genuß und eine Nothwendigkeit. Inmitten seiner schriftstellerischen Arbeiten waren sie ihm unentbehrlich, und besonders, wie oft gezeigt worden, in der Nacht. Mr. Sala ist eine Autorität über die Londoner Straßen und in dem beredten und edeln Tribut, den er, als Einer der Ersten, dem Andenken Dickens' darbrachte, hat er erzählt, wie er selbst ihm an den wunderlichsten Orten und in dem unfreundlichsten Wetter begegnete, in Ratcliffe-Highway, auf Haverstock-Hill, auf Camberwell-Green, in Grays-Inn-Lane, in Wandsworth Road, in Hammersmith Broadway, in Norton Folgate und in Kensal New Town. »Man fuhr rasch in einer Droschke durch Brompton dahin und da schritt er, wie mit Siebenmeilenstiefeln, anscheinend nach Fulham zu. Man kam bei Lisson Grove aus der unterirdischen Eisenbahn an's Licht und begegnete ihm, wie er rasch dem Yorkshire Stingo zuwanderte. In schnellem Gange sah man ihn dem Fuße der finstern Ziegelsteinmauern des Gefängnisses in Coldbath-Fields entlang wandern, oder wie er Seven Sisters-Road in Holloway durchschlenderte, oder mit vollen Segeln den Bogengang bei Highgate durcheilte, oder Vauxhall Bridge-Road hinauf gleichmäßig seinen Weg verfolgte.« Aber er war ebenso sehr zu Hause in dem verworrenen Labyrinth enger Gassen wie auf den großen Verkehrsstraßen. Ueberallhin, wo es in abgelegenen Quartieren, in Höfen und in Gängen, an Citywerften, in den ärmeren Logirhäusern, in Gefängnissen, in Arbeitshäusern, in Lumpenschulen, in Polizeigerichtshöfen, in Lumpen- und Trödlerläden, und allen möglichen Märkten für die Armen etwas zu sehen und zu lernen gab, trug er seine scharfe Beobachtung und seinen unermüdlichen Forschungstrieb. »Ich war heute Nacht von 12 bis 2 Uhr unter den italiänischen Jungen,« sagt einer seiner Briefe. »Ich gehe heute Abend mit der Themsepolizei in deren Boote aus,« sagt ein anderer. Es war, wie wir gesehen, dasselbe, wenn er in Italien oder in der Schweiz war, und wenn er sich in späteren Jahren in französischen Provinzialstädten aufhielt. »Ich mache meilenweite Spaziergänge in's Land hinein und Du kannst Dir kaum vorstellen, an was für verlassenen Wällen und stillen, kleinen Kirchhöfen vorbei, oder wie ich über rostige Zugbrücken und stagnirende Gräben in der verfallenden Stadt aus- und eingehe.« Mehrere Jahre hintereinander begleitete ich ihn jeden Weihnachtsabend die Straße von Aldgate nach Bow hinunter, um das Treiben des Weihnachtsmarkts zu sehen, und auffallend gern wanderte er am ersten Weihnachtstage in armen Quartieren umher, an den Thüren der schäbig-gentilen Häuser in Somers-Town und Kentisch-Town vorbei, und beobachtete, wie die Mahlzeiten vorbereitet oder hineingetragen wurden. Aber die Versuchungen des Land-Lebens verleiteten ihn zu Excessen im Spazierengehen. »Nachdem ich,« schrieb er im dritten Jahre seines Aufenthalts in Gadshill, »drittehalb Meilen im Regen gewandert war, kam ich so naß nach Hause, daß ich mich ganz umziehen und ein warmes Fußbad nehmen mußte, ehe ich etwas thun konnte.« Wieder zwei Jahre später: »Es weht ein Südostwind, hinreichend Einem die Kehle abzuschneiden. Ich hüte, wie auch gestern, wegen meiner Erkältung das Haus. Aber das Heilmittel ist so neu für mich, daß ich zweifle, ob es mir halb so gut bekommt, als anderthalb Meilen im Schnee. Wenn daher diese Behandlungsweise heute fehlschlägt, werde ich morgen jene versuchen.« Er versuchte sie vielleicht nur zu oft. Im Winter 1865 hatte er zuerst den Anfall in seinem linken Fuß, der seine Gehkraft während des Restes seines Lebens wesentlich schwächte. Er meinte, die Ursache sei ein zu langes Gehen im Schnee gewesen, und daß dies das Leiden verschlimmerte, ist sehr wahrscheinlich; aber im Lichte dessen gesehen, was folgte, darf man jetzt wohl annehmen, daß es einen ernsteren Ursprung hatte. Es kehrte in Zwischenräumen, ohne besondere Veranlassung, vor der Reise nach Amerika zurück; in Amerika stellte es sich wieder ein, nicht wenn er am meisten im Schnee gegangen war, sondern wenn seine nervöse Erschöpfung am größesten war; nach Amerika trat es hervor am Vorabend der Begebenheit in Preston, die zuerst den Fortschritt offenbarte, welchen die Krankheit in den Gehirngefäßen gemacht hatte, und in dem letzten Jahre seines Lebens verursachte es, wie wir sogleich sehen werden, beständige Unruhe und heftige Schmerzen und dehnte sich dann auch in ernster Weise auf seine linke Hand aus, welche vorher nur leicht davon berührt gewesen war.
Aus einem Briefe vom 21. Februar 1865 erfuhr ich zuerst, daß er Qualen erdulde durch einen vom Frost angegriffenen Fuß und zehn Tage später kam ein ausführlicherer Bericht. »Ich bekam den Frost davon, daß ich beständig im Schnee umherwanderte und jeden Tag nasse Füße hatte. Meine Stiefel wurden hart und wurden weich, wurden hart und wurden weich, mein Fuß schwoll und ich zwängte doch den Stiefel darauf, saß und schrieb darin die eine Hälfte des Tages und wanderte die andre damit im Schnee herum; zwängte den Stiefel am folgenden Morgen wieder an, saß und spazierte wieder darin umher und kümmerte mich nicht weiter darum, da ich an alle möglichen Veränderungen in meinem Fuße gewohnt war. Endlich, als ich wieder, wie gewöhnlich, ausging, wurde ich auf dem Spaziergange lahm und mußte während der letzten fünfviertel Stunden vollkommen lahm durch den Schnee nach Hause hinken, – beiläufig bemerkt, zu dem erstaunlichen Schrecken der beiden großen Hunde.« Die Hunde waren Turk und Linda. Vgl. oben S. 185–186. So ungestüme Gefährten sie stets waren, die plötzlich bei ihm eintretende Veränderung brachte sie zum Stillstand, und während des Restes der Wanderung krochen sie so langsam neben ihrem Herrn her als er selbst und verließen ihn keinen Augenblick. Er wurde sehr hierdurch gerührt und erzählte öfter davon. Turk, sagte er, schlug Blicke voll von Mitleid wie von Furcht zu ihm auf, aber Linda war vollständig niedergeschmettert.
Das Wort in seinem Briefe an seinen jüngsten Sohn: er solle gegen Andre handeln, wie er wolle, daß sie gegen ihn handelten, ohne sich entmuthigen zu lassen, wenn sie es nicht thäten; und sein Wort an das Volk von Birmingham, sich der geistigen Ausbildung zu befleißigen, nicht weil dieselbe zum Wohlstand führe, sondern weil sie an sich gut sei, drücken einen Grundsatz aus, der ihn selbst zu allen Zeiten leitete. Starker Neigungen fähig, war er doch nicht das, was man überströmend nennt, aber keine seiner Neigungen war mattherzig. Das einzige ganz Hassenswürdige war für ihn Gleichgültigkeit. »Ich gebe mein Herz nur wenigen Leuten, aber ich würde eher den unversöhnlichsten Menschen von der Welt lieben als einen gleichgültigen, der, wenn mein Platz morgen leer wäre, sich weiter schieben und mich nie vermissen würde.« Nichts schärfte er seinen Kindern häufiger ein, als daß sie die Gleichgültigkeit Andrer nicht als Rechtfertigung gelten lassen sollten für ihre eigene. »Alle Freundlichkeiten,« schrieb er, »müssen um ihrer selbst willen erwiesen werden und ohne jede Rücksicht auf Dankbarkeit.« Dieselbe Ansicht sprach er von Neuem aus, als er, um eines todten Freundes willen, Anstrengungen machte, welche von Denjenigen, denen sie dienen sollten, nicht gehörig gewürdigt zu werden schienen. »Was die Dankbarkeit der Familie angeht, so habe ich es schon oft gegen Dich ausgesprochen, daß man eine edle That thut, weil sie recht und angenehm ist, und nicht wegen irgend einer Erwiederung, die sie bei Andern hervorrufen soll.« In einer andern Form erscheint diese Regel häufig in seinen Briefen und sie wurde Allen, die ihm theuer waren, auf vielfache Weise eingeprägt. Es ist der Mühe werth, seine Bemerkung über einen Ausdruck des Bedauerns eines seiner Familienmitglieder, hinsichtlich eines Actes der Großmuth anzuführen, der vergeudet zu sein schien: »Keine edle That kann je verloren gehen.« Als demselben Sinne angehörend, muß auch daran erinnert werden, daß es nicht der laute, sondern der schweigende Heroismus war, den er am meisten bewunderte. Ueber Sir John Richardson, einen der wenigen Männer unserer Zeit, die zu dem Namen eines Helden berechtigt sind, schrieb er aus Paris im Jahre 1856: »Lady Franklin schickte mir jene ganze Lebensbeschreibung Richardson's, und Richardson's männliche Liebe und Freundschaft für Franklin scheint mir eine der erhebendsten Thatsachen, die mir in meinem ganzen Leben vorgekommen sind. Sie läßt das Herz hoch schlagen, von einer Art heiliger Freude.« Wegen eines höheren Etwas als bloßer Literatur schätzte er den originellsten Schriftsteller und den gewaltigsten Lehrer seiner Zeit. »Ich würde zu allen Zeiten weiter gehen, um Carlyle zu sehen, als irgend einen andern lebenden Menschen.«
Ueber die Eigenschaften, welche ihn in der Gesellschaft und der Unterhaltung anziehend machten, habe ich wenige Einzelnheiten angeführt, weil sie in Wahrheit er selbst waren. Wie sie nun einmal waren, fehlten sie ihm nie. Seine lebhafte Genußfähigkeit verlieh seinen gesellschaftlichen Talenten einen solchen Reiz, daß wohl Niemand, es sei denn ein Mann von großem Geist und ein Sprecher von Profession, wenn er aus einem geselligen Kreise schied, eine so unausfüllbare Lücke zurückließ. In energischer und mannigfaltiger Sympathie, in rascher Anpassung an jede Stimmung und Laune, in Hülfeleistung bei jedem heitern Scherz und Spiel, stand er für ein Dutzend Menschen. Wenn es erlaubt ist, so etwas zu sagen, so schien er immer um so mehr er selbst als er ein Andrer war, als er seine Persönlichkeit beständig ablegte. Seine Vielseitigkeit war einzig in ihrer Art. Was er einmal über seine Liebe zur Schauspielkunst sagte, war im vollen Maaße aus ihn selbst, in seinen glücklichsten Momenten, im Kreise von Freunden, die er liebte, anwendbar: wenn er einen Charakter zeichnete, eine Geschichte erzählte, eine Charade aufführte, an einem Spiele theilnahm, einen Vorfall des Tages in Komödie verwandelte, das letzte gute oder schlechte Ding, das er gesehen, beschrieb, einen Theil des leidenschaftlichen Lebens, von welchem sein ganzes Leben überströmte, in treffender, tragischer, oder humoristischer Form reproducirte. »Charakterdarstellung übt einen so beglückenden Zauber auf mich aus – ich weiß kaum, aus wie vielen wilden Gründen – daß ich es als einen Verlust einer, o, ich kann nicht sagen wie, köstlichen Thorheit empfinde, wenn ich eine Gelegenheit verliere, Jemand zu sein, der mir nicht im entferntesten ähnlich ist.« Wie es kam, daß man von Einem, der so unbegrenzte Mittel besaß, zu dem Vergnügen seiner Freunde beizutragen, doch, wie ich schon bemerkte, so wenig mit fortnehmen konnte, mag auf diese Weise erklärt werden. Aber man hat auch gesehen, daß Niemand zu Zeiten vortrefflichere Bemerkungen machte, und den schon früher mitgetheilten Proben will ich hier noch einige andre hinzufügen. »Ein alter Priester,« (schrieb er im Jahre 1862 aus Frankreich) »das wahre Bild Frederic Lemaitres, wenn er für eine solche Rolle angezogen ist, und sehr verdrießlich, weil er Zahnweh hatte, sagte mir neulich in einem Eisenbahnwagen, daß wir in dem ketzerischen England keine Antiquitäten hätten. ›Gar keine?‹ sagte ich. – ›Aber Sie haben dafür Schiffe.‹ – ›Ja, ein paar.‹ – ›Sind sie gut?‹ – ›Nun,‹ sagte ich, ›Ihr Amt ist ein geistiges, mein Vater: Fragen Sie den Geist Nelson's.‹ Einem französischen Hauptmann, der mit in dem Wagen war, gefiel dieser kleine Scherz ungeheuer. Ich traf ihn gestern in Calais, als er mit einer Truppenabtheilung irgendwohin marschirte und er sagte: Pardon! Aber er sei beschränkt genug gewesen, um einen Engländer einer solchen Bonhommie nicht für fähig zu halten.« Vortrefflich verstand er es, sowohl in Briefen als in der Unterhaltung, einen Scherz durchzuführen, und wegen dieser Art des Genusses verdienen seine unbedeutendsten kleinen Briefe oft, aufbewahrt zu werden. Ich erwähne ein kleines Beispiel. Er hatte einer von seinem Freunde und Advokaten Frederic Ouvry erzählten Geschichte eine so lebhafte Bewunderung gezollt, daß er, auf einen humoristischen Vorschlag zur Veröffentlichung derselben, in seiner eignen Manier, in seiner eigenen Zeitschrift, zu erwiedern hatte. »Ihre Bescheidenheit steht auf einer Stufe mit Ihrem Verdienst . . . Meiner Ansicht nach ist die Art, wie Sie jene ländliche Liebeswerbung im mittleren Lebensalter beschreiben, ganz unvergleichlich . . . Ein Wechsel für 1000 Pfd. St. liegt für Sie bei dem Verleger bereit. Wir würden Ihnen gern mehr bezahlen, fänden wir nicht, daß unsre Gerichtskosten so außerordentlich groß sind.« Seine Briefe enthalten auch dann und wann Proben von dem, was er seine conversationellen Triumphe nannte. »Ich habe mich,« schrieb er am 28. April 1861, »vor Kurzem in zwei Beziehungen ausgezeichnet. Ich führte eine mir unbekannte junge Dame zum Dîner hinunter und fand, als ich mit ihr von dem Nepotismus des Bischofs von Durham in der Angelegenheit des Mr. Cheese sprach, daß sie Mrs. Cheese war. Und ich ließ mich gegen den Parlamentsabgeordneten für Marylebone, Lord Fermoy, in der Meinung, er sei ein irisches Parlamentsmitglied, über den verächtlichen Charakter des Wahlbezirks von Marylebone und der Vertretung von Marylebone aus.«
Unter seinen gelungenen Sachen muß seine Erzählung einer Gespenstergeschichte nicht vergessen werden. Er hatte, wie die Leser seiner kleineren Schriften wissen werden, ein gewisses Gelüsten nach Gespenstergeschichten, und sein Interesse für übernatürliche Dinge im Allgemeinen war so groß, daß er in die Thorheiten des Spiritualismus hätte verfallen können, hätte nicht die Macht seines gesunden Menschenverstandes ihn davon zurückgehalten. Thatsache ist, daß die phantasievolle Seite seiner Natur bei dem verzeihlichen Aberglauben an Träume und glückliche Tage, oder andre Wunder eines natürlichen Zusammentreffens von Umständen, stehen blieb und Niemand war bereiter, eine Gespenstergeschichte oder ein Haus, in dem es spukte, einer schärferen Prüfung zu unterwerfen als er, obgleich seine Neigung an solche »gut verbürgte« Geschichten zu glauben, grade hinreichte, um die Art, wie er sie erzählte, vollkommen zu machen. Eine solche Geschichte wird erzählt in der 125. Nummer von All the Year Round, die Layard und ich schon vor ihrer Veröffentlichung in Gadshill sahen und als eine von Lord Lytton erzählte Geschichte wiedererkannten. Sie wurde veröffentlicht im December 1861 und veranlaßte einige Tage später was Dickens hier erzählen wird. »Der Künstler selbst, welcher der Held der Erzählung ist,« schrieb er 15. September 1861 an Lord Lytton, »hat mir Schwarz auf Weiß seinen eignen Bericht über das ganze Erlebniß geschickt, einen so sehr originellen, so sehr außerordentlichen, so weit über die von mir veröffentlichte Version hinausgehenden Bericht, daß alle andern ähnlichen Geschichten davor erblassen.« Das so bekräftigte Gespenst erschien in der Nummer vom 5. October und der Leser, der sich die Mühe geben will, es aufzusuchen und mit dem zu vergleichen, was Dickens in der Zwischenzeit (17. September) an mich schrieb, wird daran einen Maaßstab finden für seine Bereitwilligkeit, an solche Dinge zu glauben. »Durch die Veröffentlichung der Gespenstergeschichte ist der Porträtsmaler zum Vorschein gekommen, der die Phantome gesehen hat. Die von ihm selbst geschriebene Geschichte ist über allen Vergleich hinaus die außerordentlichste, die je geschrieben wurde, und steht so hoch über meiner und Bulwer's Version, wie Scott über James. Alles, was damit zusammenhängt, ist staunenswerth; aber stelle Dir dies vor, daß der Porträtsmaler beschäftigt gewesen war, die Geschichte für ein andres Blatt für nächsten Weihnachten zu schreiben, und als er sie in All the Year Round anticipirt sah, natürlich meinte, es habe eine Verrätherei bei seinem Drucker stattgefunden. ›Besonders,‹ sagt er, ›wie war es möglich, daß das Datum, der 13. September, bekannt geworden ist? Denn ehe ich die Geschichte schrieb, hatte ich das Datum nie erwähnt.‹ Nun hatte meine Geschichte kein Datum; aber da ich beim Durchsehen der Correcturen erkannte, wie wichtig es sei, ein Datum zu haben, schrieb ich, Charles Dickens, ohne es zu wissen, das richtige Datum an den Rand des Correcturbogens.« Der Leser wird sich der Geschichte bei dem Wettrennen in Doncaster erinnern, Vgl. oben S. 147. und andern ähnlichen Erläuterungen dieses Gegenstandes mag noch der folgende Traum hinzugefügt werden. »Hier ist ein seltsamer Fall aus erster Hand« (30. Mai 1863). »Als ich am Donnerstag in der vorigen Woche hier auf meinem Büreau war, träumte mir, ich sähe eine Dame in einem rothen Shawl, die mir den Rücken zukehrte und die ich für E. hielt. Als sie sich umwandte, fand ich, daß ich sie nicht kannte und sie sagte: ›Ich bin Miß Napier‹. Die ganze Zeit, während ich mich am nächsten Morgen anzog, dachte ich: Wie sonderbar, daß ich einen so deutlichen Traum hatte über nichts! und warum Miß Napier? Denn ich hatte nie von einer Miß Napier gehört. An jenem selben Freitag Abend hielt ich eine Vorlesung. Nach der Vorlesung kamen in mein Privatzimmer Mary Boyle und ihr Bruder und die Dame in dem rothen Shawl, die sie als › Miß Napier‹ vorstellten. Das sind sämmtliche Umstände, wahrheitsgemäß erzählt.«
Ueber eine andere Art von Traum, dem kein Aberglauben zu Grunde lag, als die liebende Hingabe an eine zarte Erinnerung, wurde schon früher berichtet. Vgl. Bd. I. S. 94, 379, Bd. II. S. 124–126. In längeren oder kürzeren Zwischenräumen begleitete ihn derselbe durch sein ganzes Leben. Nie war die Erinnerung von seinen wachen Gedanken ganz abwesend, und wenn der Traum ihn auch eine Zeitlang verließ, kehrte er doch unfehlbar wieder. Es war dasjenige Gefühl seines Lebens, welches immer eine Herrschaft über ihn ausübte. Was er an dem sechsten Jahrestage des Todes seiner Schwägerin, jener Freundin seiner Jugend, die er zu seinem Ideal aller moralischen Vortrefflichkeit gemacht hatte, sagte, hätte er mit ebenso viel Wahrheit noch sechsundzwanzig Jahre später sagen können. Noch in dem Jahre als er starb, war ihr Einfluß ihm mächtig fühlbar. »Sie ist zu allen Zeiten so viel in meinen Gedanken, besonders wenn ich glücklich bin und in irgend etwas große Erfolge errungen habe, daß die Erinnerung an sie einen wesentlichen Bestandtheil meines Lebens ausmacht, und ebenso unzertrennlich ist von meinem Dasein, als das Schlagen meines Herzens.« Während späterer unruhiger Jahre fand Alles, was am würdigsten in ihm war, hier einen sichern Zufluchtsort, und es war der edlere Theil seiner Natur, der so auch ihr wesentlicher Theil geworden war. Er verlieh dem Erfolg, was der Erfolg als solcher zu verleihen keine Macht hatte, und nichts konnte auf die Dauer daneben bestehen, was nicht gut und rein war. Was könnte ich noch mehr sagen, das nicht besser gesagt wurde von der Kanzel der Abtei, in welcher er ruht? Der hier mitgetheilte Auszug ist aus einer bald nach Dickens' Tode gehaltenen Predigt Dr. Jowett's in der Westminster-Abtei. – D. Uebers.
»Der, um welchen wir trauern, war der Freund der Menschheit, ein Philanthrop im wahren Sinne des Worts, der Freund der Jugend, der Freund der Armen, der Feind jeder Form von Gemeinheit und Unterdrückung. Ich will nicht versuchen, ein Bild von ihm zu zeichnen. Männer von Genie sind anders als das, wofür man sie hält. Sie haben größere Freuden und größere Schmerzen, größere Leidenschaften und größere Versuchungen als die gewöhnlichen Menschen und können von ihren Mitmenschen nie ganz verstanden werden. Aber wir fühlen, daß ein Licht erloschen ist, daß die Welt dunkler für uns wird, wenn sie scheiden. Es sind ihrer so wenige, daß wir nicht vermögen, einen nach dem andern zu verlieren, und umsonst blicken wir uns um nach denen, die ihre Stelle auszufüllen vermöchten. Der, dessen Verlust wir jetzt beklagen, nahm einen größeren Raum in den Gedanken des englischen Volkes ein als irgend ein andrer Schriftsteller während der letzten dreiunddreißig Jahre. Wir lasen ihn, redeten über ihn, spielten ihn; wir lachten mit ihm; wir wurden durch ihn zu einem Bewußtsein fremden Elends und zu einem pathetischen Interesse am Menschenleben aufgeregt. Romane sind mittelbar große Lehrer dieser Welt und es ist schwer, die Schuld der Dankbarkeit zu übertreiben, welche einem Schriftsteller gebührt, der uns veranlaßt hat, mit diesen guten, wahren, aufrichtigen, ehrenhaften englischen Charakteren des gewöhnlichen Lebens zu sympathisiren und über die Selbstsucht, die Heuchelei, die falsche Respektabilität religiöser und sonstiger Bekenner zu lachen! Auf einen andern großen Humoristen, welcher in dieser Kirche ruht, hat man die Worte angewandt, daß sein Tod die Heiterkeit der Völker verdunkelt habe. Aber von dem, welcher uns vor Kurzem genommen wurde, möchte ich lieber in bescheidenerer Sprache sagen, daß Niemand je so sehr geliebt oder so sehr betrauert wurde.«
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