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Zehn Uhr morgens. Kein Lüftchen regte sich. Es war im Juli und heißer denn je. In der engen Rue Jérusalem standen gegen hundert Bürger des Bezirks einer hinter dem andern vor einem Bäckerladen, beaufsichtigt von vier Nationalgardisten, die mit Gewehr bei Fuß ihre Pfeife rauchten.
Der Konvent hatte einen Höchstpreis bestimmt, und sofort waren Korn und Mehl verschwunden. Wie das Volk Israel in der Wüste, so standen die Pariser vor Tagesanbruch auf, wenn sie etwas essen wollten. Dichtgedrängt standen alle Männer, Weiber und Kinder in der versengenden Glut, die auf den Abfällen der Gossen brütete, und die Ausdünstungen von Schweiß und Schmutz widerlich erhöhte. Sie schubsten sich, riefen sich an und betrachteten sich mit allen Gefühlen, die Menschen füreinander hegen: Abneigung, Ekel, Eigennutz, Begierde und Gleichgültigkeit. Durch eine trübe Erfahrung hatte man gelernt, daß das Brot nicht für alle Erdenkinder ausreicht, und so suchten die letzten sich vorzudrängen; die Zurückgedrängten schimpften und pochten vergebens auf ihr mißachtetes Recht. Die Weiber arbeiteten wütend mit Hüften und Ellbogen, um ihren Platz zu behaupten oder einen bessern zu kriegen. Wurde das Gedränge zu arg, so erschollen Rufe: »Nicht drängen!« Ein jeder protestierte dann und behauptete, er würde gedrängt.
Um diese täglichen Auftritte abzustellen, waren die Kommissare des Bezirks auf den Einfall gekommen, vor der Tür des Bäckerladens eine Leine zu spannen, die jeden in Reih und Glied zwang. Aber die Hände, die sich an der Leine drängten, gerieten in Streit. Wer sie einmal verließ, erhaschte sie nicht wieder. Unzufriedene oder Spaßvögel schnitten sie durch, und so mußte man die Sache ganz aufgeben.
In dieser langen Reihe erstickte man, wollte sterben, riß Witze und Zoten und fluchte auf die Aristokraten und Föderalisten, die Urheber alles Unglücks. Kam ein Hund vorbei, so nannten die Spaßvögel ihn Pitt. Bisweilen klatschte die saftige Ohrfeige einer Bürgerin auf die Backe eines Unverschämten, während eine junge Dienstmagd, an die ihr Nachbar sich drängte, mit halbgeschlossenen Augen und offenem Munde wohlig seufzte. Bei jedem Wort, jeder Gebärde, die zu Schlüpfrigkeiten Anlaß gab, stimmte ein Schwarm junger liederlicher Burschen das »Ça ira« an, obgleich ein alter Jakobiner entrüstet dagegen protestierte, daß ein Lied des republikanischen Glaubens an eine gerechte und glückliche Zukunft durch schmutzige Zoten entweiht würde.
Ein Plakatankleber erschien mit seiner Leiter und schlug gegenüber vom Bäckerladen eine Preisbestimmung der Kommune für Schlächterwaren an. Passanten blieben stehen und lasen den noch klebrigen Zettel. Eine Kohlverkäuferin kam mit ihrer Kiepe auf dem Rücken vorbei und sagte mit ihrer groben, brüchigen Stimme:
»Das schöne Ochsenfleisch ist futsch! Wir müssen die Kaldaunen schlucken.«
Plötzlich stieg eine Wolke glühenden Gestanks aus einem Wasserablauf empor, so daß mehreren übel wurde. Eine Frau fiel in Ohnmacht und wurde von einigen Gardisten nach der nächsten Pumpe getragen. Man hielt sich die Nase zu; dumpfes Murren erscholl; Worte flogen hin und her, voller Angst und Schrecken. Man fragte sich, ob da unten irgendein Aas läge, ob jemand aus Bosheit Gift gestreut hätte, oder ob einer von den Septembermorden, ein Pfaff oder Junker, in einem Keller verfaulte.
»Hat man denn welche hineingeschmissen?«
»Überall hin!«
»Das muß einer vom Châtelet sein. Am zweiten sah ich einen Haufen von zweihundert auf dem Pont de Change.«
Die Pariser fürchteten die Rache dieser Ermordeten, deren Leichen sie vergifteten.
Evarist Gamelin trat als letzter in die Reihe. Er wollte es seiner alten Mutter ersparen, so lange zu stehen. Sein Hausgenosse Brotteaux begleitete ihn still lächelnd, seinen Lukrez in der weitoffenen Tasche seines flohbraunen Rockes. Der gute Alte rühmte diese Szene als ein groteskes Gemälde, des Pinsels eines modernen Teniers würdig.
»Diese Lastträger und Klatschweiber«, sagte er, »sind amüsanter als die Griechen und Römer, für die unsere Maler heute schwärmen. Ich für mein Teil mochte die flämische Schule stets gern.«
Aus Klugheit und gutem Geschmack verschwieg er, daß er selbst eine Galerie holländischer Bilder besessen hatte, die nur vom Kabinett Choiseuls an Zahl und Güte übertroffen wurde.
»Nur die Antike ist schön«, erwiderte der Maler, »und alles, was sich nach ihr richtet. Doch ich will Ihnen zugeben, daß die Grotesken von Teniers, Steen und Ostade noch immer mehr taugen als die Klecksereien von Watteau, Boucher oder Van Loo. Sie haben die Menschheit verhäßlicht, aber doch nicht erniedrigt, wie Baudoin oder Fragonard.«
Ein Ausrufer kam vorüber:
»Veröffentlichung des Revolutionstribunals! . . . Die Liste der Verurteilten!«
»Ein Revolutionstribunal reicht gar nicht aus«, bemerkte Gamelin. »In jeder Stadt, was sag' ich, in jeder Gemeinde, in jedem Kreise sollte eins sein. Alle Familienväter, alle Bürger müßten Richter werden. Wird die Nation von den Kanonen des Feindes, von den Dolchen der Verräter bedroht, so ist Nachsicht ein Verbrechen! Wie? Lyon, Marseille, Bordeaux in Aufruhr, Korsika in Empörung, die Vendée in Flammen, Mainz und Valenciennes in den Klauen der Koalition, Verrat in den Städten und Feldlagern, Verräter auf den Bänken des Konvents, Verräter mit der Karte in der Hand im Kriegsrat unsrer Generale! . . . Die Guillotine muß das Vaterland retten!«
»Ich habe eigentlich nichts gegen die Guillotine«, erwiderte der alte Brotteaux. »Die Natur, meine einzige Herrin und Lehrmeisterin, sagt nichts davon, daß das Menschenleben irgendwelchen Wert hätte. Sie lehrt im Gegenteil auf alle mögliche Weise, daß es wertlos ist. Der einzige Zweck der Lebewesen scheint der zu sein, daß sie die Nahrung der andern bilden, die ein gleiches Schicksal erwartet. Totschlag ist Naturrecht, folglich ist die Todesstrafe rechtmäßig, vorausgesetzt, daß sie nicht aus Tugend oder Gerechtigkeit, sondern aus Notwendigkeit oder Vorteil verhängt wird. Trotzdem muß ich verderbte Instinkte haben, denn es ekelt mich, Blut fließen zu sehen, und all meine Philosophie war noch nicht imstande, mich von dieser Entartung zu heilen.«
»Die Republikaner«, entgegnete Evarist, »sind menschlich und zartfühlend. Nur Despoten behaupten, die Todesstrafe sei ein notwendiges Hilfsmittel der Autorität. Das souveräne Volk wird sie eines Tages abschaffen. Robespierre hat sie bekämpft und mit ihm alle Patrioten; das Gesetz, das sie aufhebt, kann nicht früh genug erscheinen. Nur so lange muß sie in Anwendung bleiben, bis der letzte Feind der Republik unter dem Schwert des Gesetzes gefallen ist.«
Gamelin und Brotteaux waren jetzt nicht mehr die letzten. Nachzügler hatten sich angeschlossen, darunter Frauen aus dem Bezirk, insbesondere eine schöne, stattliche Trikoteuse in Kopftuch und Holzschuhen, die einen Säbel am Wehrgehenk trug, eine hübsche Blondine mit wirrem Haar und zerknülltem Brusttuch und eine junge, blasse, hagere Mutter, die ihr kränkliches Kind stillte.
Das Kind, das keine Milch mehr fand, fing an zu schreien, aber sein schwaches Geschrei erstickte in Schluchzen. Es war erbarmungswürdig klein, bleich und schwammig; seine Augen brannten, und die Mutter blickte es mit schmerzlicher Sorge an.
»Es ist noch sehr klein«, sagte Gamelin, sich zu dem armen Säugling umdrehend, der in seinem Rücken greinte, denn die letzten in der Reihe drängten so heftig nach, daß man schier erstickte.
»Sechs Monate alt, das arme Liebchen! . . . Sein Vater ist im Felde bei dem Heere, das die Österreicher nach Condé zurücktrieb. Er heißt Michel Dumonteil und ist von Beruf Tuchmachergehilfe. Auf einer Bühne vor dem Rathause wurde er als Rekrut angeworben. Der Ärmste wollte sein Vaterland verteidigen und die Welt sehen. Er schreibt, ich sollte Geduld haben. Aber wie soll ich Paul ernähren (so heißt der Junge), wo ich mich selbst nicht ernähren kann?«
»Ha!« stieß die Blondine hervor, »das dauert noch eine Stunde, und heute abend gibt es wieder die gleichen Faxen vor der Kolonialwarenhandlung. Für drei Eier und ein Achtel Butter kommt man fast um!«
»Butter«, seufzte die Bürgerin Dumonteil, »die hab' ich seit drei Monaten nicht mehr gesehen!«
Und die Frauen fielen im Chor ein und klagten über die teuren Lebensmittel, fluchten auf die Emigranten und wünschten die Kommissäre aufs Schafott, die liederlichen Weibern Poularden und Vierpfundbrote zusteckten – als Preis ihrer Schande. Man verbreitete aufregende Gerüchte über Schlachtvieh, das in der Seine ersäuft, Mehlsäcke, die in Kloaken geschüttet, Brote, die in die Latrinen geworfen sein sollten . . . Das taten die Royalisten, Brissotisten, Rolandisten und andere Hungerstifter, die das Volk von Paris zugrunde richten wollten.
Plötzlich kreischte die junge Blondine mit dem zerknitterten Brusttuch laut auf, als ob ihre Röcke brannten. Sie schüttelte sich heftig, drehte die Taschen nach außen und behauptete, man hätte ihr die Börse gestohlen.
Als man von dem Diebstahl erfuhr, entstand große Entrüstung unter diesem armen Volke, das die Adelspaläste im Faubourg Saint-Germain gestürmt und die Tuilerien überschwemmt hatte, ohne das Geringste mitzunehmen. Diese Handwerker und armen Weiber hätten mit gutem Gewissen das Schloß von Versailles in Brand gesteckt, sich aber für entehrt gehalten, wenn sie eine Nadel gestohlen hätten. Die jungen, liederlichen Burschen rissen über das Mißgeschick des hübschen Mädchens ein paar schlechte Witze, die aber in dem allgemeinen Murren erstickten. Man drohte bereits, den Dieb an der nächsten Laterne aufzuknüpfen. Eine lärmende, parteiische Untersuchung fand statt. Die große Trikoteuse wies mit dem Finger auf einen alten Mann, den man für einen früheren Mönch hielt, und schwor, daß der »Kapuziner« der Taschendieb sei. Die Menge glaubte es unbesehen und stieß Todesdrohungen aus.
Der alte Mann, der so jählings der öffentlidien Vergeltung ausgeliefert war, stand höchst bescheidentlich vor dem Bürger Brotteaux und sah tatsächlich ganz so aus wie ein früherer Mönch. Er machte einen würdevollen Eindruck, trotz der Bestürzung, die den Ärmsten beim Anblick dieser tobenden Menge und der noch frischen Erinnerung an die Septembermorde befiel. Der Schreck, der sich in seinen Zügen malte, machte ihn dem Pöbel verdächtig, denn dieser glaubt gern, daß allein die Schuldigen seine Urteilssprüche fürchten, als ob die besinnungslose Hast, womit er sie fällt, nicht auch den Schuldlosen erschrecken müßte.
Brotteaux hatte es sich zur Regel gemacht, dem Volksempfinden nie zu widersprechen, besonders wenn es sich wild und wahnsinnig gebärdete. Denn dann, sagte er, ist Volkes Stimme Gottes Stimme. Aber er war inkonsequent und erklärte laut, dieser Mann, ob Kapuziner oder nicht, hätte der Bürgerin nichts stehlen können, da er ihr keinen Moment nahegekommen sei. Die Volksmenge folgerte daraus, daß der, welcher den Dieb verteidigte, sein Mitschuldiger war, und schon forderten Stimmen die strenge Bestrafung der beiden Missetäter. Gamelin trat für Brotteaux ein, und die Klügsten schlugen vor, alle drei nach dem Bezirkshause zu schicken.
Da plötzlich rief das hübsche Mädchen frohlockend, sie hätte ihre Börse wieder. Nun wurde sie mit Hohngelächter überschüttet, und man drohte ihr, sie wie eine Nonne öffentlich durchzuprügeln.
Der Mönch sagte zu Herrn Brotteaux: »Ich danke Ihnen für Ihren Beistand. Mein Name hat wenig zu bedeuten, doch ich will ihn Ihnen nennen. Ich heiße Louis de Longuemare. Ich bin allerdings Ordensbruder, aber kein Kapuziner, wie die Weiber da sagten. Weit gefehlt: Ich bin Ordensgeistlicher der Barnabiten, aus denen mancher Kirchenlehrer und Heilige hervorging. Der Ursprung dieses Ordens reicht weit über den heiligen Karl Borromäus hinaus; als sein wahrer Gründer ist der Apostel Paulus anzusehen, dessen Namenszug unser Wappen ziert. Ich mußte mein Kloster verlassen, das jetzt Sitz des Bezirks vom Pont-Neuf ist, und weltliche Kleidung anlegen.«
»Mein Vater«, erwiderte Brotteaux mit einem Blick auf den langen groben Leinenrock des Ordensgeistlichen, »Ihr Anzug bezeugt zur Genüge, daß Sie Ihren Stand nicht verleugnet haben. Man glaubt eher, daß Sie Ihren Orden reformiert als verlassen haben. Und in diesem klösterlichen Aufzuge setzen Sie sich ganz unnütz den Schmähungen des gottlosen Pöbels aus.«
»Ich kann doch nicht«, erwiderte der Mönch, »einen blauen Rock tragen wie ein Tänzer.«
»Mein Vater, was ich von Ihrem Anzug sage, geschieht, um Ihren Charakter zu ehren und Sie vor den Gefahren, die Sie laufen, zu warnen.«
»Im Gegenteil, mein Herr, Sie müßten mich zur Bekenntnis meines Glaubens anfeuern. Denn ich fürchte mich nur zu leicht vor Gefahr. Daß ich meine Kutte abgelegt habe, ist ein Akt der Abtrünnigkeit. Ich wollte wenigstens das Haus nicht verlassen, in dem ich, dank Gottes Gnade, so viele Jahre lang ein stilles, verborgenes Dasein geführt habe. Man erlaubte mir, da zu bleiben. Ich behielt meine Zelle, während Kloster und Kirche in eine Art Rathaus im kleinen, das sogenannte Bezirkshaus, verwandelt wurden. Ich sah, mein Herr, ich sah die Symbole der heiligen Wahrheit ausmeißeln, sah den Namen des Apostels Paulus durch eine Sträflingsmütze ersetzt. Manchmal wohnte ich sogar den Beratungen des Bezirks bei und hörte erstaunliche Verirrungen aussprechen. Schließlich verließ ich die entweihte Stätte und lebe seitdem von der Pension von hundert Pistolen, die mir die Nationalversammlung gewährt. Ich hause in einem Stall, dessen Pferde für das Heer requiriert worden sind. Dort lese ich die Messe vor den wenigen Frommen, welche die Ewigkeit der Kirche Jesu Christi bezeugen.«
»Und ich, mein Vater«, antwortete der andere, »ich heiße, wenn Sie es wissen wollen, Brotteaux, und war ehemals Zollwächter.«
»Mein Herr«, entgegnete der Pater Longuemare, »ich weiß durch das Beispiel des heiligen Matthäus, daß auch ein Zöllner ein gutes Wort reden kann.«
»Bürger Brotteaux«, sprach Gamelin dazwischen, »bewundern Sie doch dieses Volk, das mehr nach Gerechtigkeit als nach Brot hungert. Ein jeder war hier bereit, seinen Platz aufzugeben, um den Dieb zu züchtigen. Diese armen Männer und Frauen, die so darben müssen, sind von strengster Ehrlichkeit und dulden kein Unrecht.«
»Allerdings«, schränkte Brotteaux ein, »hätten diese Leute in ihrem wilden Verlangen, den Dieb aufzuknüpfen, auf ein Haar dem guten Ordensbruder, seinem Verteidiger und dessen Verteidiger übel mitgespielt. Ihr eigener Geiz und das selbstsüchtige Hängen an ihrem Besitz trieb sie dazu an. Der Dieb, der sich an einem vergriff, bedrohte alle; durch seine Bestrafung schützen sie sich vor ihm . . . Übrigens mögen die meisten dieser Handwerker und Hausfrauen wohl ehrlich sein und Hab und Gut des Nächsten achten. Diese Gefühle sind ihnen von Vater und Mutter von klein auf tüchtig eingebläut worden . . .«
Gamelin verhehlte dem alten Brotteaux nicht, daß er diese Sprache eines Philosophen für unwürdig hielte.
»Die Tugend«, sagte er, »ist dem Menschen angeboren. Gott hat ihren Keim in die Menschenherzen gelegt.«
Der alte Brotteaux war Atheist und sog sich aus seinem Unglauben eine Fülle von Genüssen.
»Ich merke, Bürger Gamelin«, sagte er, »daß Sie auf Erden revolutionär, in Dingen des Himmels jedoch konservativ, ja reaktionär sind. Mit Robespierre und Marat steht es ebenso. Und ich finde es seltsam, daß die Franzosen, die keinen sterblichen König mehr dulden, durchaus den unsterblichen behalten wollen, der viel wilder und tyrannischer ist. Denn was ist die Bastille, ja selbst das hochnotpeinliche Gericht gegen die Hölle? Die Menschheit schafft sich ihre Götter nach dem Bilde ihrer Tyrannen, und Sie verwerfen das Original, behalten aber den Abklatsch!«
»Oh, Bürger«, rief Gamelin aus, »schämen Sie sich nicht, so was zu sagen? Wie können Sie die finsteren Gottheiten, die Angst und Unwissenheit schufen, mit dem Schöpfer der Natur verwechseln? Der Glaube an einen guten Gott ist nötig für die Moral. Das höchste Wesen ist der Urquell aller Tugenden, und wer nicht an Gott glaubt, ist kein guter Republikaner. Das wußte Robespierre wohl, als er aus dem Konvent die Büste jenes Philosophen Helvetius verbannte, der die Franzosen zur Sklaverei anleitete, indem er sie die Gottlosigkeit lehrte . . . Wenigstens hoffe ich, Bürger Brotteaux, daß Sie, wenn die Republik den Kult der Vernunft erst eingeführt hat, dieser philosophischen Religion beitreten werden.«
»Ich liebe die Vernunft, aber ich bin nicht ihr Fanatiker«,, erwiderte Brotteaux. »Die Vernunft leitet und erleuchtet uns. Wenn Sie sie zur Gottheit erheben, wird sie Sie blenden und zu Verbrechen verleiten.«
So dozierte Brotteaux weiter, mit den Füßen im Rinnstein, wie er es vormals in den vergoldeten Lehnstühlen beim Baron Holbach getan, die, wie er zu sagen pflegte, die Grundlage der Naturphilosophie bildeten.
»Jean Jacques Rousseau«, fuhr er fort, »besaß zwar einige Talente, namentlich das für Musik; aber er war ein Hanswurst, der seine Moral angeblich aus der Natur ableitete, in Wahrheit aber aus Calvins Lehren. Die Natur lehrt uns, einander aufzufressen; sie gibt uns das Vorbild aller Laster und Verbrechen, welche die Gesittung beseitigt oder verhüllt. Man soll die Tugend lieben, aber es ist gut, zu wissen, daß dies ein bloßes Mittel ist, damit die Menschen bequem miteinander auskommen. Was wir Moral nennen, das ist nur ein verzweifeltes Unternehmen von unsersgleichen gegen die Weltordnung, welche auf Kampf, Schlächterei und dem blinden Spiel feindlicher Kräfte beruht. Sie zerstört sich selbst, und je mehr ich darüber nachsinne, um so mehr glaube ich, daß das Weltall wahnsinnig ist. Die Theologen und Philosophen, die Gott zum Schöpfer der Natur und zum Begründer des Weltalls machen, stellen ihn als absurd und bösartig hin. Sie nennen ihn gut, weil sie ihn fürchten, aber sie müssen doch zugeben, daß er in entsetzlicher Weise verfährt. Sie schreiben ihm eine Schlechtigkeit zu, die selbst beim Menschen selten ist. Und dadurch machen sie ihn zum Gegenstand unserer Anbetung. Denn gerechte und wohlwollende Götter, von denen unser elendes Geschlecht nichts zu fürchten hat, würde es nicht verehren. Es würde ihnen für ihre Wohltaten nicht unnütz danken. Ohne Hölle und Fegefeuer wäre der liebe Gott nur ein armer Teufel.«
»Mein Herr«, sagte der Pater Longuemare, »reden Sie nicht von der Natur. Sie kennen sie nicht.«
»Potztausend, mein Vater, so gut wie Sie!«
»Sie können sie nicht kennen, da Sie keinen Glauben haben. Der Glaube allein lehrt uns, was die Natur ist, inwiefern sie gut ist und wie sie verderbt wurde. Übrigens glauben Sie nicht, daß ich Ihnen antworte und Ihre Irtümer widerlege. Gott gab mir dazu weder die Glut der Sprache noch die Kraft des Geistes, und ich würde nur besorgen, daß ich Ihnen durch meine Unzulänglichkeit Anlaß zu Lästerungen und zu Verstocktheit gäbe; und wenn ich lebhaft wünschte, Ihnen dienlich zu sein, so könnte ich Ihnen in meiner unbescheidenen Nächstenliebe nichts bieten als . . .«
Seine Worte unterbrach ein lautes Geschrei an der Spitze der Reihe, das Signal für all diese Hungrigen, daß die Bäckerei geöffnet wurde. Langsam, ganz langsam rückte man weiter. Ein diensttuender Gardist ließ die Käufer einzeln hinein. Zwei Zivilkommissare, eine Trikolore am linken Arm, halfen dem Bäcker, seiner Frau und seinem Gehilfen beim Brotverkauf und paßten auf, ob die Käufer auch zum Bezirk gehörten, und ob jeder nur so viel bekam, als er Münder zu versorgen hatte.
Der Bürger Brotteaux sah in dem Streben nach Lust den einzigen Lebenszweck. Verstand und Sinne, die einzigen Richter, wenn es keine Götter gab, konnten nach seiner Meinung kein anderes Ziel erfassen. In den Reden des Malers lag ihm zu viel Fanatismus und in denen des Mönchs zu viel Einfalt, als daß er viel Vergnügen daran gefunden hätte, und so zog dieser Weltweise denn, um unter den obwaltenden Umständen nach seiner Lehre zu handeln und sich das lange Warten zu versüßen, aus der weitoffenen Tasche seines flohbraunen Rocks den Lukrez hervor, der sein liebstes Vergnügen und seine wahre Befriedigung bildete. Der rote Maroquineinband war abgestoßen, und das Wappen darauf hatte der Bürger Brotteaux klüglich ausgekratzt: die drei goldenen Rauten, die sein Vater, der Zollpächter, sich einst mit klingender Münze erstanden hatte. Er schlug das Buch an der Stelle auf, wo der Dichterphilosoph, um die Menschen von den eitlen Qualen der Liebe zu heilen, eine Frau in der Obhut ihrer Mägde und in einem Zustande belauscht, der alle Sinne eines Liebhabers verletzen würde. Der Bürger Brotteaux las diese Verse, blickte dabei aber auf das goldene Nackenhaar des hübschen Mädchens, das vor ihm stand, und sog wollüstig den feuchten Duft ihrer Haut ein. Der Dichter Lukrez besaß nur eine Weisheit, der Bürger Brotteaux aber mehrere.
Im Lesen rückte er alle Viertelstunden zwei Schritte vor. Sein Ohr, von den ernsten, wechselnden Rhythmen der lateinischen Muse entzückt, hörte nichts mehr von dem Gejammer der Weiber über die Verteuerung von Brot, Zucker, Kaffee, Kerzen und Seife. So gelangte er heiteren Sinnes bis an die Schwelle des Bäckerladens. Evarist Gamelin sah über seinen Kopf weg den vergoldeten Strauß auf dem Eisengitter der Treppe.
Endlich gelangte er in den Laden. Körbe und Kasten waren leer; der Bäcker gab ihm das einzige, noch übriggebliebene Brot. Evarist zahlte, und das Gitter ward hinter ihm geschlossen, damit das Volk den Laden nicht stürmte. Aber das war nicht zu befürchten, denn all diese armen Leute, denen ihre alten Bedrücker und neuen Befreier Gehorsam beigebracht hatten, gingen kopfhängerisch und mit schleppenden Schritten von dannen.
An der nächsten Straßenecke sah Gamelin auf einem Prellstein die Bürgerin Dumonteil sitzen, ihren Säugling im Arme. Sie starrte regungslos, bleich und tränenlos vor sich hin. Das Kind sog gierig an ihrem Finger. Einen Moment blieb Gamelin unschlüssig und schüchtern vor ihr stehen. Sie schien ihn nicht zu sehen.
Er stammelte ein paar Worte; dann zog er sein Messer aus der Tasche, einen Hirschfänger mit Horngriff, schnitt sein Brot mitten durch und legte die Hälfte in den Schoß der jungen Mutter, die erstaunt dankte. Doch er war schon um die Ecke gebogen.
Als er heimkehrte, fand er seine Mutter am Fenster sitzend und Strümpfe stopfend. Er legte ihr fröhlich sein halbes Brot in die Hand.
»Sei nicht böse, Mutter«, sagte er. »Bei dem langen Herumstreifen und der drückenden Hitze da draußen habe ich auf dem Heimweg mein halbes Brot Stück für Stück aufgegessen. Es ist kaum die Hälfte für dich übrig.«
Und er tat, als klopfte er sich die Brotkrumen von der Weste.