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Am Vorabend des Festes, einem stillen und klaren Abend, ging Elodie an Evarists Arm über den Föderationsplatz. Arbeiter legten hastig die letzte Hand an Säulen, Statuen, Tempel, einen Berg und einen Altar. Riesige Symbole, ein volkstümlicher Herkules, der seine Keule schwang, die Natur, welche die Welt an ihren unerschöpflichen Brüsten säugte, erhoben sich, der Teuerung und dem Schrecken zum Trotze, plötzlich inmitten der Hauptstadt, die beständig erwartete, auf der Straße nach Meaux den Geschützdonner der Österreicher zu hören. Die Aufständischen in der Vendée hatten ihre Schlappe vor Nantes durch kühne Siege wettgemacht. Ein Ring von Eisen, Flammen und Haß umschloß die revolutionäre Hauptstadt. Und doch empfing sie prunkvoll, wie die Herrscherin eines gewaltigen Reiches, die Deputierten, welche die Konstitution angenommen hatten. Die Föderalisten waren zerschmettert, die einige, unteilbare Republik blieb Siegerin über alle Feinde.
»Hier«, sagte Evarist, mit dem Arm über den weiten, volkreichen Platz weisend, »hier ließ der verruchte Bailly am 17. Juli 91 am Altar des Vaterlandes auf das Volk schießen. Der Grenadier Passavant, ein Zeuge dieses Blutbades, ging nach Hause, zerriß seinen Rock und rief: ›Ich schwor, mit der Freiheit zu sterben. Sie ist nicht mehr: ich sterbe.‹ Und er erschoß sich.«
Inzwischen schauten die Künstler und die friedlichen Bürger sich die Festvorbereitungen an; doch die Lebenslust, die sich auf ihren Gesichtern malte, war so trübe wie ihr Dasein. Die größten Ereignisse schrumpften in ihrem engen Geiste zusammen und wurden so dürftig wie sie. Jedes Elternpaar trug im Arme Kinder, führte sie an der Hand oder ließ sie vor sich herlaufen, und diese Kinder waren nicht schöner als sie und hatten keine größere Aussicht auf Glück. Auch deren Kinder würden einst so wenig Freude und Schönheit ererben wie sie. Hier und dort kam ein schönes, großgewachsenes Mädchen vorbei; die jungen Leute blickten sehnsüchtig hinterdrein, und die Greise dachten wehmutsvoll an das schöne Leben zurück.
Vor der Militärschule zeigte Evarist seiner Freundin ägyptische Statuen, die David nach römischen Vorbildern aus der ersten Kaiserzeit entworfen hatte. Ein alter gepuderter Pariser rief: »Man glaubt, am Nil zu sein!«
In den letzten drei Tagen, wo Elodie ihren Freund nicht gesehen, hatten sich im »Amor als Maler« große Dinge zugetragen. Der Bürger Blaise war beim allgemeinen Sicherheitsausschuß wegen Unterschleifs in den Armeelieferungen angezeigt worden. Zum Glück war der Kunsthändler in seinem Bezirk wohlbekannt; der Überwachungsausschuß des Pikenbezirks hatte beim allgemeinen Sicherheitsausschuß für seine Gesinnung gebürgt und ihn völlig gerechtfertigt.
Elodie erzählte dieses Geschehnis erregt; dann setzte sie hinzu:
»Jetzt sind wir beruhigt, aber das war ein schlimmer Schreckschuß! Mein Vater wäre beinah' ins Gefängnis gekommen. Hätte die Gefahr nur ein paar Stunden länger gewährt, Evarist, so wäre ich zu Ihnen gekommen und hätte Sie um Fürsprache für meinen Vater bei Ihren einflußreichen Freunden gebeten.«
Evarist gab keine Antwort. Elodie ermaß die Tiefe des Stillschweigens nicht.
Sie gingen Hand in Hand längs der Seineufer und gestanden sich ihre Zärtlichkeiten in der Sprache von Julie und Saint-Preux, Rousseaus »Neue Héloise« lieferte ihnen den Ausdruck und den Schmuck ihrer Liebe.
Der Gemeinderat hatte wie durch ein Wunder für einen Tag Überfluß in der hungernden Stadt geschaffen. Auf dem Invalidenplatz am Seineufer hatte sich ein Jahrmarkt aufgetan. In den Buden bot man Bratwürstchen, Leber- und Zervelatwürste, lorbeergeschmückte Schinken, Butterkuchen, Pfefferkuchen, Krapfen, Vierpfundbrote, Limonade und Wein feil. In den andern Buden wurden patriotische Lieder, Kokarden, Trikoloren, Börsen, Messingketten und allerhand kleine Schmucksachen verkauft. Evarist blieb vor der Auslage eines kleinen Juweliers stehen und suchte ein silbernes Ringchen aus, auf dem Marats Kopf, mit einem Tuche umwunden, in erhabener Arbeit prangte. Er steckte es Elodie an den Finger. Am Abend ging Gamelin nach der Rue de L'Arbre-Sec zur Bürgerin Rochemaure, die ihn in einer eiligen Sache zu sich bestellt hatte. Er fand sie in ihrem Schlafzimmer in galantem Negligé, auf einer Chaiselongue hingegossen; und wie diese Stellung der Bürgerin etwas Schmachtendes, Wollüstiges verriet, so deutete alles ringsum auf ihre Anmut, ihre Talente und Künste. Neben dem aufgeschlagenen Klavier lehnte eine Harfe; in einem Lehnstuhl ruhte ihre Gitarre; in einem Stickrahmen spannte sich ein Stück Atlas; auf dem Tisch lag eine angefangene Miniatur neben Papieren und Büchern; der Bücherschrank war in Unordnung und schien von einer schönen Hand durchstöbert, die ebenso wißbegierig wie gefühlvoll war.
Sie reichte ihm die Hand zum Kuß und sagte: »Guten Tag, Herr Geschworener! . . . Heute hat mir Robespierre einen Empfehlungsbrief für den Präsidenten Hermann gegeben, ein sehr geschicktes Schreiben, worin es ungefähr hieß: Ich empfehle Ihnen den Bürger Gamelin wegen seiner Talente und seiner patriotischen Gesinnung. Ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen einen Patrioten namhaft zu machen, der sich durch Grundsätze und mannhaftes Verhalten in den republikanischen Reihen auszeichnet. Versäumen Sie die Gelegenheit nicht, einem Republikaner hilfreich zu sein . . . Dieses Schreiben brachte ich unverzüglich zum Präsidenten Hermann, der mich mit ausgesuchter Höflichkeit empfing und sofort Ihre Ernennung unterzeichnete. Die Sache, ist also gemacht.«
Nach kurzem Stillschweigen sagte Gamelin: »Bürgerin! Ich habe zwar kein Stück Brot für meine Mutter, aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich nehme das Amt als Geschworener nur an, um der Republik zu dienen und sie an allen ihren Feinden zu rächen.«
Die Bürgerin fand den Dank kalt und das Kompliment hart. Sie hielt Gamelin für ungeschliffen. Aber sie liebte die Jugend zu sehr, um ihm nicht etwas Rauheit nachzusehen. Gamelin war schön, sie fand Gefallen an ihm. Ich werde ihn erziehen, dachte sie. Und sie lud ihn zu ihren Soupers ein: allabendlich nach dem Theater hatte sie Empfang.
»Bei mir treffen Sie Leute von Talent und von Geist. Elleviou, Talma und den Bürger Vigée, der Gedichte mit gegebenen Endreimen unglaublich geschickt macht. Der Bürger François hat uns seine ›Paméla‹ vorgelesen, die jetzt im Nationaltheater einstudiert wird. Der Stil ist rein und elegant, wie alles, was der Bürger François schreibt.. Das Stück ist rührend; es hat uns Tränen entlockt. Die junge Lange wird die Pamela spielen.«
»Ich verlasse mich ganz auf Ihr Urteil, Bürgerin«, erwiderte Gamelin. »Aber das Nationaltheater ist wenig national. Und für den Bürger François ist es schlimm, daß seine Stücke über die Bretter gehen, die Laya mit seinen elenden Versen entweiht hat. Der Skandal des ›Ami des Lois‹ ist noch unvergessen . . .«
»Bürger Gamelin, den Laya schenke ich Ihnen; er gehört nicht zu meinen Freunden.«
Nicht bloß aus Herzensgüte hatte die Bürgerin ihren ganzen Kredit aufgewandt, um Gamelin ein vielbegehrtes Amt zu verschaffen. Durch das, was sie für ihn getan hatte und vielleicht noch tun würde, hoffte sie ihn an sich zu fesseln und sich einen Freund bei der Justiz zu schaffen, mit der sie selbst eines Tages in Konflikt kommen konnte; denn schließlich schickte sie viele Briefe nach Frankreich und ins Ausland, und derartige Korrespondenzen erregten damals Verdacht. »Gehen Sie oft ins Theater, Bürger?«
In diesem Augenblick trat der Reitersmann Henri, reizender als der Knabe Bathyll, ins Zimmer. In seinem Gürtel steckten zwei, riesige Pistolen. Er küßte der schönen Bürgerin die Hand, und diese sagte:
»Hier ist der Bürger Evarist Gamelin, dessentwegen ich heute den ganzen Tag beim Sicherheitsausschuß verbrachte, und der mir nicht mal dafür dankte. Schelten Sie ihn aus!«
»Ach, Bürgerin,« seufzte der Soldat, »Sie sahen unsre Gesetzgeber in den Tuilerien! Welch betrübender Anblick! Die Vertreter eines freien Volkes in den Prunkgemächern eines Despoten! Dieselben Kronleuchter, die vormals die Verschwörungen Capets und die Orgien Marie Antoinettes beleuchteten, brennen jetzt bei den Nachtsitzungen unsrer Gesetzgeber! Die Natur schaudert!«
»Mein Lieber,« antwortete sie, »gratulieren Sie dem Bürger Gamelin. Er ist Geschworener beim Revolutionsgericht geworden!«
»Wünsche viel Glück, Bürger Gamelin!« sagte Henri. »Es freut mich, einen Mann von Ihrem Charakter in dieser Stellung zu sehen. Aber offen gesagt, hab' ich wenig Zutrauen zu dieser methodischen Justiz, die von den Gemäßigten im Konvent geschaffen wurde, zu dieser gutmütigen Nemesis, die die Verschwörer schont und die Verräter freispricht. Man wagt ja kaum gegen die Föderalisten vorzugehen und fürchtet sich, die Österreicherin vor Gericht zu ziehen. Nein, das Revolutionsgericht wird die Republik nicht retten! In der verzweifelten Lage, in der wir sind, war es ein Verbrechen, den Schwung der Volksjustiz zu brechen.«
»Henri«, sagte die Bürgerin Rochemaure, »geben Sie mir doch das Riechfläschchen her . . .«
Als er heimkehrte, fand Gamelin bei seiner Mutter den alten Brotteaux. Sie spielten Pikett beim Schein einer qualmenden Talgkerze. Die Bürgerin sagte eben ungeniert »Terz für den König« an.
Als sie hörte; daß ihr Sohn zum Geschworenen ernannt sei, umarmte sie ihn überschwänglich. Sie meinte, daß dies für sie beide eine große Ehre sei, und daß sie nun beide satt zu essen haben würden.
»Ich bin stolz und glücklich«, sagte sie, »die Mutter eines Geschworenen zu sein. Die Justiz ist etwas Schönes und das Allernotwendigste; ohne Justiz würden die Schwachen immerfort geplagt. Und du wirst sicher ein guter Richter sein, mein Evarist, denn von klein auf kenne ich dich als gerecht und wohlwollend in allen Dingen. Du littest nie Unrecht und widerstandest der Gewalt mit allen Kräften. Du hattest Mitleid mit den Unglücklichen, und das ist die schönste Zier eines Richters . . . Aber sag' mal, Evarist, welche Kleidung tragt ihr denn in diesem großen Gericht?«
Gamelin antwortete, die Richter trügen einen schwarzen Federhut, aber die Geschworenen hätten kein Amtskleid, sondern erschienen in Zivil.
»Es wäre besser«, entgegnete die Bürgerin, »sie trügen Talar und Perücke, das machte sie würdiger. Du ziehst dich zwar fast nie sorgfältig an, aber du bist hübsch und verschönst deinen Anzug. Die meisten Männer jedoch brauchen irgendeinen Schmuck, um nach etwas auszusehen; und darum wäre es besser, die Geschworenen trügen Talar und Perücke.«
Die Bürgerin wußte vom Hörensagen, daß das Amt eines Geschworenen etwas einbrachte. Sie konnte die Frage nicht unterdrücken, ob es so viel wäre, daß man auskömmlich leben könnte; denn, wie sie sagte, »ein Geschworener muß ein Auftreten haben«. Zu ihrer Befriedigung erfuhr sie, daß die Geschworenen für jede Sitzung achtzehn Franken Vergütung bekämen, und daß die große Zahl von Verbrechen gegen das Staatswohl zu häufigen Sitzungen Anlaß gäbe.
Der alte Brotteaux legte die Karten zusammen, erhob sich und sagte zu Evarist:
»Bürger Gamelin, man hat Sie mit einem hehren und furchtbaren Amte betraut. Ich gratuliere Ihnen, daß Sie Ihre Einsicht in den Dienst eines Gerichtes stellen, das vielleicht zuverlässiger und unfehlbarer ist als jedes andere, weil es gut und böse nicht an sich und nach seinem Wesen ergründet, sondern nur im Hinblick auf greifbare Interessen und offenbare Gefühle. Sie brauchen nur zwischen Haß und Liebe zu entscheiden, und das geht von selbst, anstatt zwischen Wahrheit und Irrtum, die unser schwacher Menschengeist nicht zu unterscheiden vermag. Urteilen Sie nach den Regungen Ihres Herzens, so kommen Sie nicht in Gefahr, sich zu irren, denn das Urteil ist gut, wenn es nur die Leidenschaften befriedigt, die Ihr heiliges Gesetz sind. Aber wie dem auch sei, wäre ich Ihr Präsident, ich ließe die Würfel entscheiden. In der Justiz ist das noch das Sicherste.«