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Am Morgen des 7. September begab sich die Bürgerin Rochemaure zu dem Geschworenen Gamelin, der sich eines Verdächtigen aus ihrer Bekanntschaft annehmen sollte. Auf dem Treppenflur begegnete sie dem früheren Brotteaux des Ilettes, den sie in den Tagen des Glückes geliebt hatte. Er wollte eben zwölf Dutzend selbstverfertigte Hampelmänner zu dem Spielwarenhändler in der Rue de la Loi bringen; um sie leichter zu transportieren, hatte er sie nach Art der Straßenhändler oben an einer Stange befestigt. Er benahm sich galant gegen alle Frauen, auch gegen solche, deren Reiz durch langen Verkehr für ihn abgestumpft war, wie dies bei der Bürgerin Rochemaure der Fall sein mußte, sofern nicht Verrat, Trennung, Untreue und ihre Rundlichkeit ihr in seinen Augen neue Reize verliehen. Jedenfalls begrüßte er sie auf dem schmutzigen Treppenflur mit den ausgetretenen Stiegen wie dereinst auf den Stufen der Freitreppe von Les Ilettes und bat sie um die Ehre ihres Besuches in seinem Bodengelaß. Ziemlich behende stieg sie die Leiter hinauf und befand sich unter einem Dachstuhl, dessen schräge Balken ein Ziegeldach trugen, in dem sich eine Luke befand. Man konnte kaum aufrecht stehen. Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl, der sich in diesem Loche befand, und ließ ihre Blicke über das klaffende Ziegeldach schweifen. Dann sagte sie überrascht und betrübt:
»Hier hausen Sie, Maurice? Belästigung haben Sie hier freilich nicht zu fürchten. Nur der Teufel oder die Katzen suchen Sie hier auf.«
»Der Raum ist allerdings klein«, antwortete der einstige Steuerpächter. »Und ich verhehle Ihnen nicht, daß es manchmal auf mein elendes Bett regnet. Das ist ein kleiner Nachteil. Aber in hellen Nächten sehe ich dafür den Mond scheinen, das Abbild und den Zeugen der menschlichen Liebschaften. Denn der Mond, Madame, wurde in allen Zeiten von den Liebenden zum Zeugen angerufen, und bei Vollmond gemahnt seine bleiche, runde Gestalt die Liebhaber an den Gegenstand ihres Verlangens.«
»Ich verstehe«, nickte die Bürgerin.
»Im Lenz«, fuhr Brotteaux fort, »machen die Katzen beträchtlichen Lärm in der Dachrinne. Doch man muß es der Verliebtheit nachsehen, daß sie auf den Dächern miaut und schwört, da sie ja das Leben der Menschen mit Qualen und Verbrechen erfüllt.«
Beide waren so klug gewesen, sich wie Freunde zu begegnen, die sich am Abend vorher getrennt hatten, um zur Ruhe zu gehen. Und so unterhielten sie sich denn freundlich und vertraulich, wiewohl sie sich fremd geworden.
Trotzdem war Frau von Rochemaure bekümmert. Die Revolution, die für sie so lange unterhaltsam und erfolgreich gewesen, bereitete ihr jetzt Sorgen und Befürchtungen. Ihre Soupers waren weniger glänzend und fröhlich als sonst. Ihr Harfenspiel heiterte die finstern Gesichter nicht mehr auf; und die reichsten Glücksspieler verließen ihre Spieltische. Mehrere ihrer Vertrauten verbargen sich als verdächtig; ihr Freund, der Bankier Morhardt, saß im Gefängnis, und seinetwegen wollte sie den Geschworenen Gamelin anrufen. Sie selbst war verdächtig, Nationalgardisten hatten bei ihr Haussuchung gehalten, in den Schubladen ihrer Kommoden gewühlt, die Dielen ihres Fußbodens aufgebrochen und ihre Matratzen mit Bajonettstichen durchbohrt. Sie hatten jedoch nichts gefunden, um Entschuldigung gebeten und ihren Wein getrunken. Doch um ein Haar hätten sie ihre Korrespondenz mit einem Emigranten, dem Herrn von Expilly, entdeckt. Einige Freunde, die sie unter den Jakobinern besaß, hatten ihr bedeutet, daß der schöne Henri, ihr Trabant, sich durch die Heftigkeit seiner Reden, die zu maßlos waren, um ehrlich zu sein, mißliebig machte.
Die Ellenbogen auf die Knie gestemmt und die Wangen in die Hände gelegt, fragte sie ihren alten Freund, der auf seinem Strohsack saß, sorgvoll:
»Was denken Sie von alledem?«
»Ich denke, daß diese Leute einem Philosophen und einem Zuschauer der Ereignisse reichlichen Stoff zum Nachdenken und zur Unterhaltung liefern. Aber für Sie, liebe Freundin, wäre es besser, Sie wären nicht in Frankreich.«
»Maurice, wohin führt uns das noch?«
»Die Frage, Louise, stellten Sie mir schon einmal, als wir am Ufer des Cher nach Les Ilettes fuhren und unser Pferd das Gebiß zwischen die Zähne nahm und in wildem Galopp durchging. O Neugier der Frauen! Auch heute wollen Sie wissen, wohin die Fahrt geht. Fragen Sie die Kartenlegerinnen. Ich bin kein Wahrsager, Verehrteste. Und die Philosophie, auch die gesündeste, hilft uns nur wenig die Zukunft entschleiern. Ein Ende wird auch dies nehmen, wie alle Dinge. Aber es gibt mehrere Auswege. Den Sieg der Koalition und den Einzug der Alliierten in Paris. Sie sind gar nicht weit, gleichwohl zweifle ich am Gelingen. Die Heere der Republik sind trotz aller Schläge von unermüdlicher Kampfeslust. Es kann auch sein, daß Robespierre die Königin heiraten und sich während der Minderjährigkeit Ludwigs XVII. zum Protektor des Königreichs machen läßt.«
»Glauben Sie?« rief die Bürgerin aus, voll Begier, sich an dieser schönen Intrige zu beteiligen.
»Schließlich«, fuhr Brotteaux fort, »kann auch die Vendée siegen, und die Priesterschaft erhebt sich von neuem auf Trümmerhaufen und Leichenhügeln. Sie ahnen ja nicht, teure Freundin, welche Macht der Klerus über die meisten Esel noch hat . . . Ich habe mich versprochen, ich meinte die meisten Seelen . . . Nach meiner Ansicht ist das Wahrscheinlichste, daß das Revolutionstribunal das Regime, von dem es eingesetzt ist, vernichtet; es bedroht zu viele Köpfe. Die von ihm Erschreckten sind zahllos; sie werden sich zusammentun, und um es zu vernichten, werden sie das ganze Regime stürzen. Ich glaube, auf Ihre Veranlassung ist der junge Gamelin in diesen Gerichtshof berufen worden. Er ist tugendhaft; er wird ein Wüterich werden. Je mehr ich darüber nachdenke, liebe Freundin, um so mehr glaube ich, daß dieses Tribunal, das die Republik retten soll, sie zerstören wird. Der Konvent wollte, ganz wie das Königtum, seine großen Strafgerichte, seine peinlichen Gerichtshöfe haben und sich durch Beamte sichern, die er ernennt, und die von ihm abhängen. Aber wie sehr stehen die großen Strafgerichte des Konvents denen der Monarchie nach, und wieviel unpolitischer ist sein peinlicher Gerichtshof als der Ludwigs XIV.! Im Revolutionstribunal herrscht ein Geist niedrer Justiz und blöder Gleichmacherei; der wird es bald verhaßt und lächerlich machen und jedermann Widerwillen einflößen. Wissen Sie, Louise, daß dieses Gericht, vor dem die Königin von Frankreich und einundzwanzig Gesetzgeber demnächst erscheinen sollen, gestern eine Dienstmagd verurteilt hat, weil sie in böser Absicht, um die Republik zu stürzen, gerufen hat: ›Vive le roi!‹ Unsre Richter mit ihren schwarzen Federhüten arbeiten im Stil William Shakespeares, den die Engländer so lieben, und der in die erschütterndsten Szenen seiner Stücke grobe Narrenpossen einflicht.«
»Sagen Sie mal, Maurice,« fragte die Bürgerin, »haben Sie noch immer Glück in der Liebe?«
»Ach!« seufzte Brotteaux, »die Tauben fliegen zum weißen Taubenschlag und setzen sich nicht auf Turmruinen.«
»Sie sind der alte geblieben . . . Auf Wiedersehen, mein Freund!«
Am selben Abend kam der Dragoner Henri unaufgefordert zu Frau von Rochemaure. Er traf sie beim Versiegeln eines Briefes, auf dem er die Adresse des Bürgers Rauline in Vernon las. Er wußte, daß der Brief für England bestimmt war. Durch einen Postillion der Paketpost erhielt Rauline die Korrespondenz der Frau von Rochemaure und ließ sie von einer Seefischhändlerin nach Dieppe befördern. In der Nacht brachte ein Fischerboot sie an Bord eines britischen Schiffes, das vor der Küste kreuzte. Ein Emigrant, Herr von Expilly, nahm sie in London in Empfang und teilte sie, wenn er es für angezeigt hielt, dem Kabinett von Saint-James mit.
Henri war jung und schön. Achill besaß nicht so viel Anmut, mit Kraft vereint, als er die Waffen anlegte, die Odysseus ihm brachte. Doch die Bürgerin Rochemaure, die bisher für die Reize des jungen Revolutionshelden empfänglich gewesen, wandte ihr Denken und ihre Blicke jetzt von ihm ab, seit man ihr bedeutet hatte, daß er den Jakobinern als Radikaler verdächtig war. Dieser junge Soldat konnte sie bloßstellen und ins Verderben stürzen. Henri fühlte sich vielleicht nicht außerstande, der Liebe zu der Bürgerin Rochemaure zu entsagen; aber es verdroß ihn, daß sie ihn nicht mehr liebte. Auf sie rechnete er bei gewissen Ausgaben, zu denen der Dienst der Republik ihn verpflichtete. Schließlich dachte er auch an die verzweifelten Mittel, zu denen die Frauen bisweilen griffen, und wie rasch sie von der glühenden Zärtlichkeit zur kältesten Fühllosigkeit übergehen, wie leicht es ihnen fällt, das, was sie geliebt haben, zu opfern und das, was sie angebetet haben, zu vernichten. Und so kam ihm der Argwohn, die holde Louise könnte ihn eines Tages ins Gefängnis werfen lassen, um ihn loszuwerden. Seine Klugheit riet ihm, diese verlorene Schönheit wiederzuerobern. Deshalb erschien er, mit all seinen Reizen gewappnet. Er näherte sich ihr, entfernte sich, kam wieder näher, streifte sie und floh sie nach allen Ballettregeln der Verführung. Dann warf er sich in einen Fauteuil, und mit seiner bezwingenden Stimme, der kein Frauenherz standhielt, pries er die Natur und die Einsamkeit und schlug ihr seufzend einen Spaziergang nach Ermenonville vor.
Jedoch sie klimperte auf ihrer Harfe und warf ungeduldige, gelangweilte Blicke umher. Plötzlich stand Henri mit finsterer Entschlossenheit auf und erklärte, daß er zur Armee ginge und in einigen Tagen vor Maubeuge stände.
Sie nickte ihm billigend zu, ohne Zweifel oder Überraschung zu zeigen.
»Sie wünschen mir Glück zu diesem Entschluß?«
»Ich tue es.«
Sie wartete auf einen neuen Freund, der ihr ausnehmend gefiel, und von dem sie sich große Vorteile versprach.
Das war ein ganz andrer Mann als dieser: ein auferstandener Mirabeau, ein gereinigter und zum Armeelieferanten beförderter Danton, ein Löwe, der alle Patrioten in die Seine werfen wollte. Jeden Augenblick glaubte sie die Klingel zu hören und fuhr auf.
Um Henri loszuwerden, schwieg sie, gähnte, blätterte in einem Notenheft und gähnte wieder. Da er keine Anstalten traf, sie zu verlassen, so erklärte sie, daß sie ausgehen müßte, und verschwand in ihrem Toilettenzimmer.
Mit bewegter Stimme rief er hinter ihr her:
»Adieu, Louise! . . . Werd' ich Sie je wiedersehen?«
Und seine Hände wühlten in dem offenen Schreibtisch . . .
Auf der Straße öffnete er den Brief an den Bürger Rauline und las ihn gespannt. Er enthielt in der Tat eine eigenartige Schilderung der öffentlichen Zustände in Frankreich. Von der Königin war die Rede, von der Thévenin, ja selbst von dem biederen Brotteaux des Ilettes.
Nachdem er den Brief gelesen, steckte er ihn in seine Tasche und blieb einen Augenblick unschlüssig stehen. Dann ging er, wie einer, der einen Entschluß gefaßt hatte, und der sich sagt: »Je früher, desto besser«, nach den Tuilerien und trat in das Vorzimmer vom allgemeinen Sicherheitsausschuß.
Am selben Tage, um drei Uhr nachmittags setzte sich Evarist Gamelin auf die Geschworenenbank neben seine vierzehn Kollegen, die er größtenteils kannte, ehrliche und patriotische kleine Leute, Gelehrte, Künstler und Handwerker: ein Maler, wie er, ein Zeichner, beide sehr talentvoll, ein Wundarzt, ein Schuhmacher, ein früherer Marquis, der große Proben eines Bürgersinnes abgelegt hatte, ein Buchdrucker, kleine Kaufleute, kurz, ein Auszug des Pariser Volkes. Sie saßen in ihrem Arbeitskittel oder in bürgerlicher Kleidung, mit langen Haaren oder bezopft; sie hatten den Zweispitz ins Gesicht gedrückt, die runde Kappe auf den Hinterkopf geschoben oder die rote Mütze über die Ohren gezogen. Die einen trugen Rock, Weste und Kniehose wie in der alten Zeit, die andern Karmagnole und gestreifte Beinkleider nach Art der Sansculotten. Sie hatten Stiefel, Schnallenschuhe oder Holzschuhe an und zeigten in ihrem Anzug alle Verschiedenheiten der damaligen Männertracht. Da sie alle schon mehrmals getagt hatten, so saßen sie gemächlich auf ihrer Bank, und Gamelin beneidete sie um ihre Seelenruhe. Sein Herz pochte, seine Ohren summten, seine Augen umflorten sich, und alles, was er sah, hatte einen fahlen Schein.
Als der Gerichtsdiener den Gerichtshof meldete, erschienen drei Richter auf einer kleinen Estrade und nahmen vor einem grünen Tische Platz. Sie trugen Hüte mit Kokarden und großen schwarzen Federn und die Amtsrobe mit einem Band in den Nationalfarben, von dem eine schwere silberne Medaille auf ihre Brust herabhing. Vor ihnen, zu Füßen der Estrade, saß der Vertreter der Anklage in der gleichen Tracht. Der Gerichtsschreiber nahm zwischen dem Richtertisch und dem leeren Stuhl für den Angeklagten Platz. Die drei Richter erschienen Gamelin heute anders als sonst, schöner, würdiger, furchtgebietender, obwohl sie sich zwanglos benahmen, in Schriftstücken blätterten, einen Gerichtsdiener riefen oder sich zurückneigten, um eine Mitteilung von einem Geschworenen oder einem Beamten entgegenzunehmen.
Über den Richtern hing die Tafel mit der Verkündigung der Menschenrechte; rechts und links von ihnen, an den mittelalterlichen Mauern, waren die Büsten von Marat und Le Peltier angebracht. Gegenüber der Geschworenenbank, im Hintergrunde des Saales, erhob sich die Tribüne für das Publikum. Frauen hatten die erste Reihe inne, blond, brünett oder grau, mit hoher Spitzenhaube, deren Bänder ihre Wangen beschatteten. Auf ihrem Busen, der nach der Tagesmode üppig hervortrat, kreuzte sich ein weißer Schal oder spannte sich der Latz einer blauen Schürze. Sie verschränkten die Arme auf der Brüstung der Tribüne. Hinter ihnen sah man auf den dünn besetzten Stufen die Bürger in ihrer mannigfaltigen Tracht, die den damaligen Versammlungen ein phantastisches, malerisches Aussehen gab. Rechts an der Eingangstür lief eine Holzschranke, hinter der die Stehplätze für die Zuschauer waren. Heute kamen nicht viele. Der Fall, den diese Sektion des Gerichtshofes zu entscheiden hatte, interessierte nur wenige; bei den andern Sektionen, die zu gleicher Zeit Sitzung hatten, mußten sich wohl aufregendere Dinge zutragen.
Das beruhigte Gamelin etwas, denn sein Herz, das fast zu schlagen aufhörte, hätte den glühenden Dunstkreis einer großen Sitzung nicht ertragen. Sein Blick haftete an den geringsten Kleinigkeiten; er bemerkte die Watte im Ohr des Gerichtsschreibers, einen Tintenklex auf den Akten des Vertreters der Anklage. Wie durch eine Lupe erkannte er die gemeißelte Bettkapitelle der gotischen Säulen, die aus einer Zeit stammten, wo jeder Begriff der antiken Baukunst verloren war und die Säulenknäufe mit Verzierungen von Nesseln und Stechblatt geschmückt wurden. Aber immer wieder schweiften seine Blicke zu dem altmodischen Lehnstuhl des Angeklagten mit seinem roten, abgenutzten Utrechter Samt und seinen vom Alter geschwärzten Armlehnen. Bewaffnete Nationalgarden hielten alle Ausgänge besetzt.
Endlich erschien der Angeklagte, von Grenadieren geführt, aber ungefesselt, wie das Gesetz es vorschrieb. Es war ein Mann in den Fünfzigern, hager, braun, kahlköpfig, mit hohlen Wangen und dünnen, bläulichen Lippen. Er trug einen rotbraunen Rock aus der alten Zeit und hatte offenbar Fieber, denn seine Augen leuchteten wie Karfunkel, und seine Backen glänzten wie gefirnißt. Er nahm Platz, kreuzte die Beine, die auffällig mager waren, und umspannte die Knie mit seinen großen knochigen Händen. Er hieß Marie Adolphe Guillergues und war wegen Unterschleife bei den öffentlichen Lieferungen angeschuldigt. Die Anklage legte ihm zahlreiche und schwere Vergehen zur Last, von denen aber keines klar bewiesen war. Beim Verhör leugnete Guillergues die meisten Straftaten und legte die übrigen zu seinen Gunsten aus. Er sprach deutlich, kalt und merkwürdig geschickt und erweckte den Eindruck von einem, mit dem man nicht gern Geschäfte macht. Auf alles hatte er eine Entgegnung. Stellte der Richter ihm eine peinliche Frage, so blieb sein Gesicht kalt und seine Worte bestimmt; nur seine beiden auf dem Knie gefalteten Hände krampften sich angstvoll zusammen. Gamelin merkte es und flüsterte seinem Nachbar, einem Maler, ins Ohr: »Sehen Sie nur seine Daumen!«
Der erste Zeuge, der vernommen wurde, belastete ihn schwer. Auf ihn stützte sich die ganze Anklage. Die nach ihm aufgerufenen Zeugen hingegen sagten zu seinen Gunsten aus. Der Vertreter der Anklage wurde heftig, erging sich aber nur in unbestimmten Worten. Die Rede des Verteidigers klang treuherzig und gewann dem Beklagten die Sympathie, die er sich selbst nicht zu erringen vermochte. Das Verhör wurde abgebrochen, und die Geschworenen zogen sich ins Beratungszimmer zurück. Dort schieden sich die Meinungen nach einer wirren und dunklen Debatte in zwei fast gleich starke Gruppen. Auf der einen Seite die Gleichgültigen, die Lauen, die Klugredner, die keine Leidenschaft beseelte, und andererseits die, welche sich vom Gefühl leiten ließen, die für Vernunftgründe kaum zugänglich waren und nur mit dem Herzen richteten. Die verurteilten stets; das waren die Guten und Lauteren. Sie dachten nur an die Rettung der Republik und sorgten sich nicht um das übrige. Ihr Benehmen machte einen tiefen Eindruck auf Gamelin, der sich mit ihnen eins fühlte.
»Dieser Guillergues«, dachte er, »ist ein geschickter Spitzbube, ein Verbrecher, der auf die Furage unserer Kavallerie spekuliert hat. Ihn freisprechen, heißt einen Verräter entwischen lassen, heißt das Vaterland verraten und das Heer dem Untergang weihen.« Und Gamelin sah bereits die Husaren der Republik auf ihren stolpernden Gäulen vor den feindlichen Säbeln niedergehauen . . . Doch wenn Guillergues unschuldig war? . . .
Plötzlich dachte er an Jean Blaise, der auch wegen Unterschleifs bei den Armeelieferungen angeklagt war. Und wie ihn und Guillergues gab es gewiß manchen, der die Niederlagen herbeiführte und die Republik dem Untergang weihte! Man mußte ein Exempel statuieren! . . . Doch wenn Guillergues unschuldig war? . . .
»Wir haben keine Beweise«, sagte Gamelin laut.
»Man hat nie Beweise«, entgegnete achselzuckend der Obmann der Geschworenen, einer von den Gesinnungsvollen. Die Abstimmung ergab sieben Schuldsprüche und acht Freisprüche. Die Geschworenen kehrten in den Gerichtssal zurück, und die Verhandlung nahm ihren Fortgang. Die Geschworenen mußten jeder ihr Urteil begründen, und so sprach denn ein jeder vor dem leeren Lehnstuhl des Angeklagten, die einen weitschweifig, die andern einsilbig; manche redeten unverständliches Zeug.
Als die Reihe an Gamelin kam, stand er auf und sagte: »Entzieht man den Verteidigern des Vaterlandes die Mittel zum Siege, so ist das ein großes Verbrechen, das bündige Beweise erheischt. Die aber haben wir nicht.«
Der Angeklagte wurde mit Stimmenmehrheit freigesprochen. Guillergues wurde wieder vorgeführt, von dem wohlwollenden Murmeln der Zuschauer begleitet, das ihm seine Freisprechung verkündete. Er war wie verwandelt. Die Härte seiner Züge war gewichen, seine Lippen hatten ihre Spannung verloren. Er sah ehrwürdig aus; seine Mienen kündeten Unschuld. Der Präsident las mit bewegter Stimme das freisprechende Urteil; die Zuschauer brachen in Beifall aus. Der Gendarm, der Guillergues vorgeführt hatte, schloß ihn in seine Arme. Der Präsident rief ihn heran und gab ihm den Bruderkuß. Auch die Geschworenen umarmten ihn. Gamelin weinte heiße Tränen . . .
Im Hofe des Justizpalastes, von den letzten Sonnenstrahlen beleuchtet, wogte eine lärmende Menge. Die vier Sektionen des Revolutionstribunals hatten am letzten Tage dreißig Todesurteile verhängt, und auf den Stufen hockten Trikoteusen und warteten auf die Abfahrt der Henkerkarren. Als Gamelin mit dem Schwarm der Geschworenen und Zuschauer die Stufen hinabstieg, sah und hörte er nichts als sein gerechtes und menschliches Urteil, und er beglückwünschte sich selbst, daß er die Unschuld erkannt hatte. Auf dem Hofe warf sich Elodie, weiß gekleidet, unter Tränen lächelnd in seine Arme und blieb ohnmächtig darin liegen. Als sie wieder zu sprechen vermochte, sagte sie zu ihm:
»Evarist, du bist schön, du bist gut, du bist edelmütig! Droben im Saale ging mir der Klang deiner Stimme, so männlich und sanft, durch und durch wie magnetische Wellen. Ich war wie elektrisiert. Immerfort blickte ich nach eurer Bank. Ich sah nur dich allein. Aber du, Geliebter, du ahntest nichts von meiner Gegenwart? Sagte dir denn gar nichts, daß ich da war? Ich saß auf der Tribüne, rechts in der zweiten Reihe. O Gott! Wie schön ist es, Gutes zu tun!. Du hast einen Unglücklichen gerettet. Ohne dich war's um ihn geschehen, er wurde geköpft. Du hast ihm das Leben gerettet, ihn den Seinen wiedergegeben. Jetzt muß er dich segnen. Evarist, ich bin glücklich und stolz auf deine Liebe!«
Arm in Arm und eng aneinandergeschmiegt schritten sie durch die Straßen. Sie fühlten sich so leicht, als ob sie flögen. Sie gingen zum »Amor als Maler«. Am Oratorium angelangt, sagte Elodie:
»Wir wollen nicht durch den Laden gehen.«
Sie führte ihn durch die Hofeinfahrt ins Haus. Als sie auf dem Treppenflur vor der Wohnung standen, zog sie aus ihrem Strickbeutel einen großen eisernen Schlüssel.
»Der reine Gefängnisschlüssel«, sagte sie. »Evarist, du sollst mein Gefangener sein.«
Sie durchschritten das Eßzimmer und traten in das Schlafzimmer des jungen Mädchens.
Evarist fühlte die frische Glut ihrer Lippen auf den seinen. Er schloß sie fest in seine Arme. Ihr Kopf sank zurück, ihre Augen brachen, die Haare lösten sich, und die Hüften gaben nach. Halb ohnmächtig entwand sie sich ihm, eilte zur Tür und schob den Riegel vor . . .
Es war schon tief in der Nacht, als die Bürgerin Blaise ihrem Geliebten die Wohnungstür aufschloß und im Dunkel flüsterte: »Leb' wohl, Geliebter! Um diese Zeit pflegt mein Vater heimzukehren. Hörst du Geräusch auf der Treppe, so steige rasch in den zweiten Stock hinauf und gehe erst wieder herunter, wenn keine Gefahr mehr ist, daß er dich sieht. Klopfe dreimal ans Fenster der Portiersfrau, damit dir die Haustür geöffnet wird. Leb' wohl, mein Leben, meine Seele!«
Als er auf der Straße war, sah er, wie das Fenster von Elodies Zimmer aufging und eine kleine Hand eine rote Nelke brach, die wie ein Blutstropfen zu seinen Füßen fiel.