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Drittes Kapitel.
Das Waldheim und seine Bewohner

Im vorderen Karwendel. – Der Goldsucher und sein Laborant. – Eine besorgte Tochter. – Warum Lampadius den Gruftsee besuchen will. – Der Landstreicher. – Vorbereitungen zur Reise. – Vom Schneesturm überrascht. – Verirrt. – Unerwartete Hilfe. – Rettung aus größter Gefahr. – Die Heimkehr.

 

Mit einer unbeschreiblichen Pracht war die Sonne zur Rüste gegangen. Alle Wolken hatte sie angezündet, daß sie lichterloh aufflammten und man ihre Glut ordentlich knistern zu hören glaubte. Mit einem seltsamen purpurnen Violett war dann der ganze Himmel überzogen, daraus prachtvoll feurigrote Wolkensäume niederhingen, so nahe über den Bergesspitzen, daß manche, auf der auch noch ein hellerer roter Schein von Licht lag, in Gefahr schien anzubrennen vom himmlischen Feuer. Dann aber war es langsam verglommen, und Friede und kühler Hauch senkten sich in die stillen Waldtäler, in denen auf einmal die zahllosen Wässerlein viel hörbarer murmelten und rannen, die von den Hängen zur Weissach niedergehen, um später im grünen Tegernsee stille zu stehen.

Noch heute ist es ein einsames Land um jenes tiefe Tal, das von da über die Kaiserwacht hinableitet zur Senke des Tiroler Achensees. Wenn sonst überall das Jauchzen wandernder Bergfreunde von Berg und Tal schallt im bayrischen Hochland und fast an jeder Wegkreuzung die blau-weiße Fahne lustig flattert zur Sommerszeit als Zeichen, daß hier Einkehr sei und Raststatt für müde Wanderer, so ist's im vorderen Karwendel noch immer still, und der Wind geht nur durch seufzende Fichtenwipfel oder streicht klagend über fahle Felsengipfel, aus denen höchstens der Schrei eines Raubvogels widerhallt.

Im Jahre 1536 aber war hier eine verrufene Wildnis, der jeder Christenmensch ängstlich auswich, und nur Kohlenbrenner trieben da ihr rußig Handwerk, und verschlagene Gesellen irrten im Gebirge, nicht immer nur auf Diebstahl sinnend, so daß auch die Bauern von Lenggries und den einsamen Höfen an der oberen Isar die Lust verloren, auf den fetten Almen ihr Vieh weiden zu lassen. Zuweilen, wenn es eine Rotte marodierender Vaganten zu arg trieb, zogen die stämmigen Bauern aus mit Dreschflegeln, Sensen und Morgensternen und überfielen das ihnen verratene Lager der Landstörzer. Da fanden ganze Schlachten im friedlichen Land statt, und man traf dann noch nach Jahren im Walde manch eine Buche, an der die Gebeine der Gehenkten bleichten. Dann war für lange Schrecken und Ruhe, bis wieder den Landgängern der Mut wuchs und die Lust zu Übeltaten.

Nur eine Straße ging, so wie auch heute noch, durch das stillgrüne Land: die, so vom Tegernsee über den Achenpaß und den gleichnamigen See in das Inntal führte nach Tirol. Und seitdem die silbernen Berge von Schwaz so viel Volk zusammenströmen ließen, war oft auf ihr viel und nicht immer gern gesehenes Leben.

Nicht weit von den Glashütten, die mit düsterroten Augen in den nächtlichen Wald sahen, hatte sich seit mehreren Jahren ein gelehrter Sonderling angesiedelt, ein alter Mann, von dem sich die Holzhauer und Glasbrenner und auch die Stiftsherren von Tegernsee, die von ihm wußten, sagten, er müsse Vermögen und eine dunkle Vergangenheit haben, da er sich mit seiner jungen und lieblichen Tochter dort oben in den Wäldern verbarg. Er selbst ließ sich nichts merken davon, gab sich für einen privatisierenden Gelehrten von geringer Habe, der menschenscheu seinen Pfennig dort verzehrte, wo ihn keiner störte im Studium. Zahlreiche Bücher schienen sein einziger Reichtum zu sein im rohgezimmerten, schmucklosen Blockhaus, und in der darangebauten mächtigen steinernen Esse schien er der Glasbereitung nachzuhängen, denn er schmolz immer wieder Glasflüsse zurecht mit einem einäugigen, mürrischen und ganz wider die Gewohnheit seines Volkes einsilbigen Italiener, den man in der Gegend den Famulus nannte, obzwar niemand wußte, ob er nur Diener oder doch wirklich Studiengenosse des alten Scheiner war, der seinen Namen nach gelehrter Sitte der Zeit aber nicht deutsch, sondern latinisiert Lampadius schrieb.

Es gab mehrere solche gelehrte Einsiedler in der Gegend, und sie alle wurden für heimliche Goldmacher und Alchimisten gehalten und regten die Phantasie des Volkes auf mit der Mär von ihren heimlichen Schätzen. Einer davon, es war aber ein viel vornehmerer Mann, ein Graf von Hohenwaldeck, hatte sein Laboratorium beim Schliersee, in der wegen ihrer Wölfe verrufensten Gegend, und von dessen Ruinen zeugt noch heute manch ein Stein und unheimliche Sage. Ruinen dieses Hochofens, der noch um das Jahr 1712 von dem Alchimisten Grafen Josef zu Hohenwaldeck und Maxlrain betrieben wurde, befinden sich noch in Josefstal auf dem Wege vom Schliersee zum Spitzingsee. Sie kannten sich aber nicht, diese Alchimisten, mieden einander und liebten engherzigen und strengen Abschluß vor der Welt.

Besonders Lampadius übertrieb das und duldete außer seiner Tochter und dem Famulus niemand mehr um sich als eine steinalte und stocktaube Magd, die das Häusliche besorgte und alle paar Wochen den endlosen Weg nach Tegernsee auf einem Esel hin und zurück ritt, um die nötigen Einkäufe zu besorgen.

Nach dem heißen Tag hatte ihn die frische Nacht herausgelockt aus seiner düsteren Stube, und verborgen in der Geißblattlaube saß der alte Gelehrte auf dem Bänkchen hinter dem Haus und hatte ein kummervolles und trauriges Angesicht. Ganz im Gegensatz zu seinem Töchterlein Sibylle, die für ihre zwanzig Jahre und für ein Landkind schier zu zart und fein war. Wahrlich, ihr Vater tat ihr nichts Gutes damit, daß er sie, die so Heitere und Lebenslustige, hier in der Einsamkeit vergrub und fernhielt von allen Gespielinnen und allem, was eines jungen Mädchens Herz erfreut. Sie wußte es freilich nicht, was ihr abging, denn seit ihrem Gedenken hatte sie es nie anders gehabt, aber ihr Vater und noch besser die alte Urschel, die Magd, die wußten es wohl zu deuten, was es zu besagen habe, wenn »klein Bella«, wie sie von der Kinderzeit her noch gerufen wurde, oft ohne Ursach voll unbestimmter Sehnsucht war und auf die Berge steigen, mit den Wandervögeln fliegen, mit dem Föhn nach Norden eilen wollte und nach den großen Städten da drunten im flachen Lande fragte und sich wunderliche Dichtungen aus all dem zusammen machte, deren Heldin sie war in einem Strom abenteuerlicher Begebenheiten. Oder wenn ihr Gesang, mit dem sie oft des Vaters Herz erfreute, wobei er sie auf der Laute begleitete, so unnennbar rührend und sehnsuchtsvoll, aus ganzem Herzen heiß dahinströmend wurde, daß der Alte dann jäh alles unterbrach, da ihm in den armen, müden, sorgenvollen Augen helle Tränen standen.

Sie waren nicht glücklich in dem Alchimistenhause, und besonders heute, da die Natur auch so mit einer feierlichen und ernsten Pracht zur Ruhe gegangen war, schwebten traurige Geister über die schwarzen, nickenden Wipfel ringsum.

»Vater, geht nicht morgen auf den Berg,« bat beweglich klein Bella, »oder nehmt mich wenigstens mit. Ich könnte keinen Bissen essen aus Sorge um Euch! Ihr seid nicht jung, und die Urschel sagte, am Demeljoch hat sich schon mancher erfallen. Die Leute sagen, am Gruftsee haust ein erschrecklich Untier, das wirft Steine herunter, wenn einer hinauf will …«

»Aber Bella,« verwies ihr der Vater den Aberglauben, »das alte Weib macht dich noch ganz tumb. Steine fallen von allen Bergen. Die Sonne lockert sie und der Frost, und wenn man an schlaggefährlichen Stellen vorüber ist, bevor noch die Sonne recht heiß geworden, ist noch keinem was zugestoßen.« Das Wesen des Steinschlags beruht vornehmlich auf der Wirkung von felsbewohnenden Bakterien, des Regens und des Frostes. Die Bakterien und mit ihnen andere Kleinlebewesen setzen sich an der Oberfläche der glatten Felsen fest und wissen durch ihre Ausscheidungen winzige Ritzen hervorzubringen, in denen ein Regentropfen haften bleibt, der durch die in ihm enthaltene Kohlensäure den Kalk auflöst. Durch stete Wiederholung bildet sich im Laufe der Jahre ein Spalt, der manchmal ganz tief in den Fels eingefressen ist und ihm ein wunderliches Aussehen verleiht. Auf kalkigen Felsflächen kommen auf diese Weise die sog. Karrenfelder zustande. An mehr oder minder senkrechten Felswänden bilden sich diese Spalten namentlich an den Unebenheiten. Der Frost vergrößert sie, indem bekanntlich Eis ein größeres Volumen besitzt als das Quantum Wasser, aus dem es zustande kommt.
So lockern sich ununterbrochen kleinere und größere Felsenteile, die als Steinschlag zu Tale stürzen, wenn sie das Gleichgewicht verlieren. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn die zunehmende Tageswärme das Eis in den Spalten auftaut oder das Gestein ausdehnt. Daher setzt der Steinschlag gewöhnlich gegen 10 Uhr morgens stärker ein und vermindert sich des Abends.
Durch ihn werden die Felsenberge ununterbrochen abgetragen. Durch ihn kommen auch die Schuttumsäumungen aller Felswände, die »Reißen« zustande, von denen Quellbäche den Schutt zu Tale tragen.

Doch der besorgte Blondkopf rückte nun andere Gründe vor, um den Vater von einem Vorhaben abzubringen, das ganz ungewöhnlich war und sie mit vorahnender dumpfer Angst erfüllte. Das einzige, was ihr dabei klar vor Augen stand, war, daß es ihr unendliches Unbehagen bereitete, mit Peppo, dem Famulus, allein zu sein; doch das zu sagen, konnte sie nicht über das Herz bringen. Sie haßte ihn nicht, sie haßte überhaupt niemand auf der weiten Welt, aber wenn sie einen Menschen nicht mochte, so war es der Peppo. Sie schob es auf ihren ausgeprägten Schönheitssinn, daß ihr der häßliche, dickuntersetzte, einäugige Kerl so zuwider war. Er hatte so ein fatales Lachen, und gerade wenn er um sie war, kannte er sich vor Lachen und Reden nicht aus. Sonst war er mürrisch; ihr aber hatte er tausend Dinge zu erzählen. Und fortwährend kam er ihr über den Weg. Mit dem feinen Instinkt des reinen Mädchens erriet sie etwas, wovor ihr bangte. Und deshalb war es ihr besonders unlieb, morgen mit ihm allein zu sein.

Warum nahm ihn nur der Vater nicht mit auf die gefährliche Bergtour? Allerdings mochte sie ihn auch dabei nicht gern um ihn sehen. Immerhin wäre es doppelte Beruhigung gewesen, und sie stellte auch eine direkte Frage. Doch der Vater wollte davon nichts wissen. Erst schob er vor, er könne das Haus bei den vielen Landstreichern nicht zwei Frauen allein überlassen, dann, als sie dringlicher wurde, verriet er in der Not etwas, was sie, der das Leben so harmlos und einfach schien, in das höchste Erstaunen setzte.

»Mein Kind,« sagte er mit fast ungewohnter Wärme der Stimme, »ich wollte es dir erst später sagen, es bleibt sich aber gleich: wir müssen – – – ich will von hier verziehen. Was ich hier suche in diesen Bergen, ich kann's nicht finden. Ich brauche ein Berggewächs, sonst ist all meine Arbeit umsonst gewesen. Und hier ist's nicht. Deshalb gehe ich morgen unser Hab und Gut holen.« Sibylle sah ihn fassungslos an. »Ja,« nickte er, »ich habe einen Notpfennig versteckt in einer Höhle am Gruftsee, die nur ich weiß. Siehst du, darum muß ich selbst gehen und kann Peppo dabei nicht brauchen. Du hast mir schon selbst öfters gesagt, ich soll ihm nicht so viel trauen. Und es ist wahr, es ist besser, wenn er's nicht weiß.«

Jörg als Bettler bei Lampadius

Da raschelte es an der Laube, und der alte Gelehrte, mißtrauisch und scheu, wie er stets war, sprang sofort auf, halb mit drohender, halb mit ängstlicher Gebärde. Ein Mann stand vor dem Haus. Wer er war, konnte man in der eingebrochenen Dunkelheit nicht ausnehmen. Nur so viel sah man, daß es ein kräftiger, verwahrlost aussehender Mensch in der gewöhnlichen Lumpenkleidung der Vaganten war. Der mächtige Baumast, den er als Bergstock bei sich führte, gab ihm ein besonders bedrohliches Aussehen. »Ich wollte um Nachtlager bitten um Gottes Barmherzigkeit willen und eine Abendsupp',« sagte er das gewöhnliche Sprüchlein der fahrenden Gesellen her. Durch den geschäftsmäßigen Ton verriet er, daß er mit den Gebräuchen der Störzersippe wohlvertraut war.

»Und da überfällt Ihr heimlich des Nachts ein gutfrommes Haus!« sagte zornig ob des Spähers Lampadius. »Eure Sippschaft hat uns schon arm gefressen, wir haben nichts zu verteilen, und auf einem Mooslager schläft Ihr ebensogut!« Das hätte noch gefehlt, einen von diesem Gelichter zu beherbergen, damit er des Morgens den Ausmarsch erspäht und sein Volk auf das Haus hetzt.

Der Abgewiesene schien die harten Worte gewohnt. »Vergelt's Gott,« sagte er bitter und wollte gehen. Dabei trat er aus dem Schatten des Hauses, und das Sternenlicht beleuchtete sein hübsches, wenn auch verwildertes und abgezehrtes Gesicht. Sibylle blickte voll Mitleid auf ihn; sie hätte gerne für ihn gebeten, aber das abweisende, strenge Gesicht des Vaters schüchterte sie ein.

Dem Vater schien der Lauscher die Lust zu weiterem Reden verdorben zu haben, er trat kurz ins Haus und begann sein Bündel für morgen zu packen. Das benützte Sibylle. Mit der Harmlosigkeit ihres guten Herzens eilte sie in ein paar Sprüngen dem müde und schwer dahinschreitenden Wandersmann nach. »Nachtlager können wir Euch nicht geben, Vater leidet's nicht, aber eine Supp' sollt Ihr haben,« sagte sie zu ihm. »Geht hinters Haus, die Urschel wird sie Euch bringen.« Und ehe der Fremde noch danken konnte, war sie enteilt wie ein schnellfüßiges Reh. Mit Behagen blickte sie dann heimlich vom Kammerfenster herab, wie er hungrig den Topf voll Brei verzehrte, den ihm die gutmütige Magd gereicht. »Urschel,« sagte sie später zu ihr in der Küche, »wie konntet Ihr denn so unsinnig ihm den Weg weisen nach Schwaz! Er soll doch auf der Straße bleiben; auf dem Waldweg verirrt er sich und fällt noch in die Gräben.«

Doch die Magd glotzte verständnislos und konnte nicht begreifen, daß nicht jeder, auch im Dunkeln, Weg und Steg so gut kenne wie sie.

Sibylle half dem Vater beim Bündelschnüren. Der war wortkarg und schien mit einem Entschluß zu kämpfen. »Bella,« sagte er auf einmal kurz angebunden, »mach' auch für dich was zurecht, du gehst doch mit morgen. Es wird aber für dich fast zu viel sein, das Demeljoch ist hoch.« Mit hellem Jauchzen flog sie ihm an den Hals, und wie ein Singvöglein rumorte sie und hüpfte sie durch die Kammern, denn außer der Befreiung von aller Sorge freute sie auch die prächtige Bergwanderung.

Lange dauerte es noch, bis endlich Stille im kleinen Häuschen einkehrte und Sibylles Kerze, der einzige Goldpunkt in dem Meer von Silber der Waldnacht, erlosch. Der Mond war aufgegangen, aber er stand hinter Schäfchenwolken, die leise über den Himmel gingen. Nur manchmal sprühten tausend Funken auf im Bach, der geschwätzig dahinlief unter den alten Fichten, und ein silberner Rauch hing dann über Berg und Tal. Nicht lange aber, da ward es düster; schwere, graue Wolkenmassen schoben sich übereinander, und pechschwarz starrten die zackigen Wipfel, unheimlich klang des Käuzchens Ruf durch die schwermütig seufzenden Wälder.

In der Kammer neben der Esse aber saß einer noch im Dunkeln wach. Er hatte die kleine Szene zwischen Sibylle und dem Landstreicher belauscht, und unmutig starrte er hinaus auf den schweigenden Wald und ein blasses, schimmerndes Felsenhaupt darüber. Das war das Demeljoch. Dort zog sie morgen hin und – er blieb da.


Noch war die Nacht nicht gewichen, da standen schon die Bergsteiger auf. Der Weg war weit, und sie wollten noch vor Abend zurück sein; da mußte man frühmorgens weg.

Als die Morgensonne die Gipfel der Berge vergoldete, hatten Vater und Tochter schon den Achenpaß überschritten und blickten in die tiefen Felsengen, in die sich die Ache mit ihrem schön grünen Wasser verlor auf ihrem Wege vom See zur Isar. Aber nur für einen Augenblick brach die Sonne durch, und seltsam brennend und gleißend fielen ihre Strahlen auf die Felszacken, die sich scharf, wie mit der Schere ausgeschnitten, abhoben vom dunkelgrauen Himmel im Süden. Dann tauchte sie wieder zwischen neidisches Gewölk, das langsam den ganzen Himmel gleichmäßig überspannte mit fahlem Grau. Als sie um einen Bühel bogen und einen freieren Blick auf die Berge hatten, da sahen sie auch das mißlichste Vorzeichen des schlechten Wetters in den Bergen: tief unten hockten Gänse, weiße Wolkenballen, die zwischen die Fichten eintauchten. Weißliches Gewölk strömte aus den Schluchten, und die ferneren Berghäupter verloren sich in der grauen, wogenden Decke.

»Es wird heute schlecht Wetter,« sagte besorgt der Vater. Es wäre schier besser, wir kehrten um.« Er hatte ohnedies eine unerklärliche Bangigkeit im Herzen seit dem Abend; sie war es, die ihn veranlaßte, seinen ursprünglichen Plan zu ändern und die Tochter mitzunehmen. Das Mädchen bestürmte ihn, da die erste Unlust, das liebgewohnte Heim zu ändern, geschwunden, mit tausend Fragen, wohin sie denn nun ziehen würden, und ob Nürnberg, das er ihr als die Stadt seiner Wahl nannte, viel größer als Kreuth und Tegernsee sei, ob die Urschel mitkommen könne und die Haushunde, woher sie dort für ihre Käfigvögel Futter erlangen könne, wenn der Ort nicht so mitten im Walde liege wie jetzt ihr Haus, und was derlei wichtige Fragen noch mehr waren. Energisch verneinte das Blondköpfchen seine Zumutung, nach so weiter Wanderung umzukehren »wegen ein paar nächstbester Wolken«; rastlos spähte sie an den Himmel und wußte fortwährend hundert kleine Anzeichen zur Besserung des Wetters zu entdecken, – bis auf einmal sachte die ersten Tropfen fielen. Da waren sie aber schon tief im Tal des Hühnerbaches und über manchen steilen Waldhang wacker hinaufgeklommen, sogar schon über manchen Felsenabsatz, der sich hemmend und das Tal zur Schlucht verengend vor sie stellte. Reizend sah sie aus, wie nun das Plaudern und Klimmen ihr Antlitz rötete, daraus die klugen, leuchtend blauen Augen voll Lebensfreude und Unschuld blitzten. Ihr feines Profil und die edle Kopfform paßten sehr gut zu dem schlanken und feinen Wuchs des Körpers, der jetzt durch den groben Wettermantel verhüllt war, den sie nun schon umnehmen mußte, da der Regen gar nicht aufhören wollte und sachte, aber stetig aus den tiefstehenden Wolken kam.

Lampadius und Sibylle am Achenpaß

Wenn sie jetzt umgekehrt wären, so wäre fast die Hälfte des Weges umsonst gewesen. Nach längstens einer Stunde Steigen mußten sie die Sennen von Hochrotwand erreicht haben, und wenn auch längst kein Vieh mehr da oben weidete, so standen doch noch die Hütten. Man konnte etwas rasten, sich vor dem Wetter schützen, vielleicht auch besseres abwarten. Von dort aus kam freilich noch der schwerste Teil des Weges: man mußte den eigentlichen Kamm des Berges ersteigen, dann am Grat entlang vordringen bis zum Kar, Als Kar bezeichnet der Erdkundige ein kleineres oder größeres trogförmiges Hochtal, das sich an die Seite eines Berges anlegt und durch die ausschleifende Wirkung von Gletschereis zustande kam. Alle Kare der Alpen und des Riesengebirges bildeten sich in den Eiszeiten, wo aus noch nicht sicher festgestellten Ursachen die Eismassen der nördlichen Meere bis zum Thüringerwald vordrangen und ungeheuere Alpengletscher ihre Zungen weit bis in die Ebenen (die Gegend von München, den Bodensee usw.) vorstreckten.
Da das Gletschereis sich nach abwärts bewegt, wirkt es durch seine kaum vorstellbare Wucht auf das Felsgerüst der Berge wie ein Hobel, der in die Flanke große Vertiefungen eingräbt und das durch Steinfall von der Felsumrahmung des Gletschers herabgelangte Trümmerwerk als Stirnmoräne vor sich herschiebt.
Als nach dem Aufhören der die Eiszeit bedingenden Ursachen die Gletscher abschmolzen, blieben nur die Vertiefungen, in denen sie lagen, als Kare übrig, ebenso der sie gegen das Tal zu abdämmende Steindamm der Moräne. Wenn nun in einem solchen Kar an der hinteren Wand Quellen entspringen, findet der Bach oft keinen Ausweg und bildet einen Karsee. Ein solcher ist der Gruftsee auf dem Demeljoch.
in dessen Senke der so unheimlich benannte See lag. Dort hatte Lampadius an sicherer, nur ihm bekannter Stelle sein Versteck, Edelsteine, einiges Gold und Pergamente, wie er sagte, und sie waren dort wohl sicher in treuer Hut, denn der Berg war verrufen weit und breit als Hexenberg, der Gruftsee als Tanzplatz der Unholde, und sogar die Landstreicher bekreuzigten sich, wenn sie von den grauenhaften Sagen erfuhren, die da oben spielten, vom weinenden Bergkind, dessen klägliches Geschrei man ganz deutlich bis zu den Galthütten und hinab bis zu den Wiesen beim Fall hören konnte. Und das Grauenhafte daran war, daß jede Mutter es hörte als das Wehklagen des eigenen Kindes. Aber wenn dann eine vordrang und das weinende Kind suchen wollte, da äffte es sie, seine Stimme klang bald nahe, bald fern und lockte sie hinauf ins Gamsgeröll, und wenn sie dann oben war an der schwindligsten Stelle, dann warfen die Bergmänner, die oben hausten, Solche Sagen von Unholden und Bergmännern, die als »wilde Männer« auch in das Wappen des deutschen Reiches übergingen, sind in den Alpen, namentlich in Tirol, weitverbreitet. Es scheint ihnen die Tatsache zu Grunde zu liegen, daß die Alpen vor den romanischen (keltisch-ladinischen) und deutschen Einwanderern von einer andern Rasse bewohnt waren. Besonders deutlich sprechen hierüber die Überlieferungen im Tiroler Fassatal und am Latemar. Angeblich hausten dort in den Felsen noch vor hundert Jahren die »Waldmenschen« oder »Salwans«, auch Gletschmänner oder Jocherer genannt, als menschenfeindliche Unholde. Daß diesen Sagen etwas zu Grunde liegt, geht daraus hervor, daß man im Durontal bis vor kurzem »zur Abwehr gegen diese Menschenfeinde« eigens abgerichtete Hunde gehalten und die Fenster besonders vergittert hat. Sie werden als sehr behaart und in Tierfelle gehüllt geschildert. Nach der Meinung der Holzknechte in der Rosengartengruppe suchen die Jocherer in den steilen Klüften und Wäldern rastlos nach den letzten Resten ihres Volkes. Vgl. K. F. Wolff, Die Dolomitenstraße. Bozen 1908. mit Steinen nach ihr, bis sie hinabstürzte zum Gruftsee. Der sei voll Totengebein, darum spüle der Gruftbach, der von ihm herabkommt, immer und immer Knöchlein in die Walchen, die Finger der toten, erstürzten Mütter, und manchmal noch ein Ringlein dran. Da war des Alten Gold wohl aufgehoben, wo solche Sagen als Wächter am Eingang standen.

Mit heimlichem Gruseln dachte Sibylle an sie, als sie am Fuß des unheimlichen Berges standen und er so grau, so totenfahl mit seinen Kalkwänden auf sie herabsah.

Bisher hatte sie ein kleiner Pfad geleitet, der einst von den Hirten der Hochrotwand ausgetreten war. Aber in den Jahren, seitdem die von oben abgezogen waren, war er wieder verwildert und wurde ganz unkenntlich, als sie nun auf die ersten Wiesen kamen auf einer kleinen Schulter des Berges, die er bildete, bevor er sich aufschwang zu seiner eigentlichen Höhe. Dazu hatte sich das Wetter verschlechtert und es regnete in Strömen. Auch der Wind hatte sich aufgemacht und fuhr pfeifend um die starre Felsenwüste über ihnen. In der Taltiefe wurde es lebendig. Flüchtige Nebelgestalten waren da losgebrochen und gaukelten herauf zu der kleinen Wiese, auf der sie, erschreckt durch den plötzlichen Ausbruch so schlechten Wetters, standen. Der Berg selbst vor ihnen war auf einmal wie weggewaschen; ein Stück stieg er noch mit felsigen Schrofen, von denen es ununterbrochen tropfte und rieselte, hinan, dann aber verlor sich alles in brodelndes Grau, das mit phantastischen Gestalten vorüberwallte, als ob da eine Schar böser Luftgeister tanzen würde. Die Wolke hatte sich über sie gesenkt; es wurde plötzlich kalt, und fröstelnd in der Nässe und doch wieder erhitzt vom heftigen Steigen, drangen sie weiter. Die Almhütten konnten nicht mehr weit sein, in ihnen wollte man das Ende des Unwetters abwarten.

Sibylle war eigentlich nicht ängstlich, war ja doch der Vater da. Und innerlich freute sie sich sogar in der Abenteuerlust der Jugend, heute etwas Rechtes erlebt zu haben. Was würde dazu die Urschel sagen, wenn sie ihr vom Unwetter auf dem Hexenberg erzählte, bei dessen Nennung sie sich ohnedies immer bekreuzigte! Sie hatte es ja prophezeit, daß sie die Unholde nicht hinauflassen werden.

Aber was war jetzt das? In den wogenden Nebeln gab es einen Riß, und man sah tief hinunter in die Schlucht, an deren Abhang sie gingen. Da unten qualmte es wie aus Schloten, verschwommen tauchten aus dem Wolkenmeer ganz andere Felsen und Bäume, als sie im Aufstieg gesehen, weil sie nun, losgelöst vom gewohnten Nacheinander, scharf ausgeschnitten dastanden. Im Tale rauschte und brauste es so sonderbar … war das der Bach? Nein, es kam näher mit seltsamem Pfeifen … huiii heulte es über sie hinweg, und plötzliche Dämmerung hüllte sie ein. »Vater, es schneit!« rief klein Bella mit kindlich freudigem Erschrecken. Und wirklich, ein Flockenwirbel umraste sie, der Sturm warf ihnen mit vollen Händen nassen Schnee ins Gesicht, und in wenigen Augenblicken war die Wiese, das ganze Gehänge weiß belegt … unbestimmt ging es in das Nebelgrau, rechts und links grau, als gähne da das Nichts, zehn Schritte vor ihnen und hinter ihnen grau und sonst nichts, als stünden sie auf einer Insel.

Die erste Freude war bald dem Schreck gewichen über diesen Schneesturm mitten im Sommer. Eng an den Vater geschmiegt, stand sie ratlos, und es war ihr keine Beruhigung, daß der Vater erzählte, in solcher Höhe könne es jederzeit schneien. Das gehöre eben zur Bergnatur, ein solcher Wettersturz, aber gerade weil er so rasch gekommen, werde er auch rasch wieder vorübergehen.

Doch das Schneien wollte nicht enden. Immer neue Schneewirbel brachte der Wind heran und schüttete sie aus. »Wir können nicht hinauf,« sagte endlich der Vater, »ich sagte es gleich. Wir hätten schon früher umkehren sollen. Wir müssen zurück.« Und das Mädchen widersprach nicht, als sie jetzt den Abstieg antraten.

Rasch schritten sie über die verschneite Wiese abwärts. An einem großen Felsblock vorbei waren sie zu ihr gelangt, und der alte Gelehrte spähte nach ihm aus, soweit der Himmel eine Rundsicht gestattete. Er war jedoch nirgends zu sehen. Dafür wurde der Boden weich, und bald erkannten sie, daß sie in eine sumpfige Mulde geraten waren. Die war nicht da, als sie kamen. Lampadius war in jüngeren Jahren ein trefflicher Bergsteiger gewesen, er wußte sich auch jetzt zu helfen. Er ging zurück entlang ihren Fußspuren, die ja im frischen Schnee leicht zu sehen waren. Er brauchte sie nur zu verfolgen, bis er zu einem Punkt kam, an den er sich vom Hinaufsteigen her erinnerte, dann war die Orientierung wieder gewonnen. Wenn er nur Ausblick gehabt hätte, sofort hätte er den Weg des Abstieges klar erkannt!

Sie stiegen wieder aufwärts. Ihre Spur führte sie in eine unbekannte Gegend. Auch wurde sie undeutlicher, da sie der Wind verweht, der Schnee verschüttet hatte. Dann kam ein Felsblock, dessen er sich entsann. Der aber hatte doch dagelegen, nachdem sie schon umgekehrt waren. Ein banger Gedanke befiel ihn: wie so viele verirrte Bergwanderer gingen auch sie im Kreise.

Es mußte also der Entwirrungsplan geändert werden. Das Schneien war jetzt minder heftig, schon mischten sich wieder Regentropfen darein, aber die Aussicht war nach wie vor verschleiert. Felskulissen ragten im Nebel rechts und links, und eine dunkle Masse über ihnen schien der Absturz des Gamsgerölls zu sein. Auch senkte sich der Boden gegen die freie Richtung, also war der Weg dort zu suchen. Freilich schien die Wiese früher mehr eben, aber vielleicht hatte er sich getäuscht. Beim Hinaufsteigen merkt man den steilen Weg nicht so wie bergab.

Sie gingen einige hundert Schritte. Die Wiese wurde steinig, mit Vorsicht mußte man einige Felsstufen hinabsteigen. Dann auf einmal – sah der Blick ins Nichts. Hier war wohl Tiefe, und eine glatte Platte schoß jäh in das dämmernde Grau. Der Anblick ließ ihn jäh erzittern. Zurück! Das Mädchen an seiner Seite war immer ängstlicher geworden, seitdem sie erkannt hatte, daß sie verirrt waren. Sie sagte nichts, denn das Weinen war ihr näher als das Sprechen. Auch war sie müde von dem vielen Bergauf-Bergabsteigen.

»Sibylle,« meinte der Vater beklommen, »wir wollen ein wenig ruhen. Ich muß nachdenken. Wir kommen schon heraus,« setzte er möglichst begütigend hinzu, als er in das angsterfüllte Gesicht seines Kindes blickte.

Was war zu tun? Vor allem mußte er, der Naturkundige, klar erkennen, wo das Grufttal war. Genau im Norden vom Demeljoch. Wo lag nun Norden? An der Sonne Stand konnte man das nicht ermessen, wohl aber an den Pflanzen. Die Seite der Felsen und Bäume, die am meisten mit Flechten bewachsen ist, entspricht dem Nord und Nordwest. Mit diesem Wink stimmte auch die Neigung des Berges. Man mußte nur vermeiden, nach links abzukommen, denn dort waren die jähen Abfälle nach dem Grufttal. Wenn man also in dieser Richtung abstieg und bei jedem Hindernis nach rechts auswich, mußte man in den Wald hinabkommen, und einmal dort war keine eigentliche Gefahr mehr.

Also handelten sie auch. Es ging jäh hinab. Über eine wahre Felstreppe. Und im nassen, schlüpfrigen Grase, auf den überronnenen Steinen fand man kaum Halt. Ein dutzendmal glitten sie aus und konnten sich knapp noch immer erhalten, und noch öfter waren sie in Gefahr auszugleiten. Sibylle hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Sie hatte schon geweint, sie war der Verzweiflung nahe, ihre Füße schmerzten sie. Und noch immer sahen sie keinen Ausweg. Nach links war der Weg immer verwehrt durch Abstürze, sie kamen stets mehr nach rechts. Da leitete der Boden aufwärts, auf einmal erhob er sich als Felswand, und sie standen auf schmalem Grasband, links eine gähnende Tiefe, rechts ganz glatter, jäher Stein, wohl in zehnfacher Manneshöhe.

Ihr Gesims war so schmal, daß sie keinen Schritt mehr vorwärts wagen durften. Also zurück! Aber wie kam das? Auch da wurde das Grasband schmäler und so abschüssig, daß das Weiterdringen lebensgefährlich wurde. Wie waren sie denn nur hergekommen? Sie wußten es nicht mehr. Mit zitternden Knieen und glühendem Kopf, übermüdet, zu Tode erschrocken, so standen sie da, verstiegen im Gewände, ratlos, was zu tun sei, mit dem Gefühl, daß sie langsam rutschten, daß sie auf dem abschüssigen Boden nicht lange mehr stehen bleiben könnten. Sibylle begann in ihrer Herzensangst mit lauter Stimme zu beten. Aber ihre Stimme war klanglos, als sie in den grauen Nebeln verflatterte. Ein Stein löste sich unter ihrem Schuh, und es dauerte einen, zwei, vier, sechs, sieben Augenblicke, bis er auffiel, und dann polterte er wieder und wieder … es war also eine unermeßliche Tiefe da unten.

Nachdem sie sich etwas gefaßt, versuchten sie Auswege. Es mußte einen geben, denn sie waren doch auch hergekommen. Die Angst schnürte Sibyllen die Kehle zu, ihre Pulse flogen, als sie, eng an die Wand gedrückt, Schritt für Schritt am Gesimse hinging, das Gesicht gegen den Berg gewendet, damit sie nicht in die grauenhafte, magisch lockende Tiefe zu sehen brauchte, die ihr wie mit einer unhörbaren Stimme zurief: Komm, komm herab! Spring herab, dann ist die ganze Angst aus.

Lampadius' Absturz

»Bella,« ließ sich da der Vater vernehmen, »wir sind draußen, ich seh' es deutlich. Dort geht es ja ganz gut. Man muß nur zu dem Block kommen.« Und mit einer Gewandtheit, die man dem alten Mann gar nicht zugetraut hätte, schwang er sich ein Stück höher und griff nach dem vorstehenden Block, um sich hinaufzuziehen. Da setzte sich dieser langsam in Bewegung wie ein lebendiges Wesen, zwei Schreie, und der Vater verschwand in der Tiefe … Man hörte den Block dumpf aufschlagen, dann prasselten wieder Steine nach, dann war alles totenstill. Nur der Regen ging eintönig nieder und erfüllte mit sanftem Rauschen die Luft.

War sie besinnungslos gewesen? Wie kam es, daß sie nicht auch hinabstürzte bei dem entsetzlichen Anblick? Sibylle wußte es nicht. Sie stand auf ihrem Gesims allein und starrte hilflos in die Wolken. Es kam ihr gar nicht recht zum Bewußtsein, wie schrecklich ihre Lage sei; der Instinkt der Erhaltung überwog das bewußte Leben, das unter dem Schmerz und durch die Angst wie erstorben war.

Sie rief den Vater und beugte sich vor, um zu sehen, wo er lag. Aber sie sah nichts, und niemand antwortete. Sie schrie verzweiflungsvoll um Hilfe. Stille ringsum im weiten Raum. Sie weinte fassungslos, dann schrie sie wieder, bis die Stimme versagte. Auf einmal hörte sie das weinende Bergkind. Das Entsetzen durchschütterte sie. Was kam nun? …

Aber dann siegte doch die Vernunft. Nein, das war kein Weinen, das war ein Antwortsrufen, nur verhallt und vertragen vom Wind und vom Echo der Wände. War das der Vater? Lebte er doch? Sie schrie von neuem. Und die Antwort wurde deutlicher. Aber es war nicht des Vaters Stimme.

Klarer schlug es an ihr Ohr. Der Rufer kam offenbar näher. »Wo seid Ihr?« rief er. – »Auf einem Felsen, ich kann nicht weiter,« schrie sie zurück. Und durch Rufe lenkte sie den Nahenden, den sie nicht sehen konnte, so sehr sie sich auch anstrengte. Auf einmal erblickte sie einen Kopf hoch über sich. Es war ein Mann, der in die Tiefe spähte.


Sie erwachte wie aus einem bösen Traum, als sie nach zwei Stunden neben ihrem Retter saß, vielmehr lag, da sie vor Aufregung und Schwäche gar nicht sitzen konnte. Und neben ihr lag weich gebettet, so gut es eben ging, ihr Vater, zwar am Kopfe blutüberströmt, zerschunden und gequetscht, aber doch lebend und lebensfähig, bis auf das gebrochene Bein, mit dem ihn die Bergunholde bestraft hatten dafür, daß er ihre Ruhe stören wollte. Und dabei saß ihr Retter, und es war ihr unsäglich peinlich, daß es niemand anders war als der zerlumpte Landstreicher, den ihr Vater gestern abend so hart abgewiesen.

Die alte Urschel hatte ihn richtig auf den falschen Weg gelockt mit ihrem Rat, den näheren Fußpfad zu gehen, und so war er statt über den Achenpaß ins Walchental geraten und hatte von dem Sennen im Ascherloch gehört, man könne auch über die Hochrotwand hinüber ins Tirol, wo er hin wollte, um Arbeit zu suchen, denn er sei kein Vagant, sondern ein ehrlicher Bergmann, der nur zum Wanderstab greifen mußte und auf sein Glück nun hoffe in den silbernen Bergen von Schwaz. Das alles hatte er ihr erzählt, um ihr den glücklichen Zufall zu erklären, der ihn auf dem gleichen Weg der Hochrotwand zustreben ließ wie sie selbst, nur daß er auf dem richtigen Pfad geblieben und nicht ins Gewänd gestiegen war wie sie, deren Rufen er schon lange gehört, ohne es sich erklären zu können.

Daß er gar nicht so ungern vom verborgenen Pfad über die Grenze vernommen, da ihm etwas bangte vor der Streifrotte, die der Bergrichter von Schwaz ins Achental gelegt, und vor der ein Waldgänger den andern warnte, das sagte er freilich nicht.

Jetzt im Tageslicht sah er übrigens auch gar nicht so verkommen und unheimlich aus wie gestern, als er plötzlich vor der Laube auftauchte; ja Sibylle mußte sich sagen, wenn sie so manchmal verstohlen, da er gerade um den Vater beschäftigt war, auf ihn hinblickte, daß hinter diesem zarten und intelligenten Antlitz doch unmöglich der Geist eines der verwegenen Landstreicher stecken könne, die vor nichts zurückschreckten in Gewalttat und Greueln. Der da, der sich Jost der Waldgänger nannte, war heute ihnen gegenüber vor einer guten Tat nicht zurückgeschreckt, so schwierig sie auch war. Mit Lebensverachtung war er hinabgeklettert über die nassen Felsen und hatte zuerst sie hinausgeleitet aus den Wänden auf einen sicheren Wiesenplatz, und dann war er zur nahe gelegenen Hütte des Sennen vom Ascherloch, der ihm den Weg gewiesen, hinabgeeilt und hatte mit ihm die Wand abgesucht, über die der alte Mann hinabgestürzt war. Und sie hatten ihn wirklich bald entdeckt; kaum zwanzig Meter unter dem Unglücksplatz war er auf ein anderes Gesims aufgefallen und im Krummholz hängen geblieben. Mit unbeschreiblicher Qual und auch Gefahr hatten sie den aus seiner Ohnmacht Erwachten und bei jeder Bewegung vor Schmerzen Jammernden hinaufgebracht mit Seilen und auf einer Tragbahre aus Zweigen, und da der Senn zu seiner Herde zurückkehren mußte, waren sie jetzt zu dritt allein in dem unermeßlichen Schweigen der Wälder und dem Starren der Steinwände. Und so seltsam spielt das Leben: voll Sicherheit und Frohmut sah nun Sibylle auf zu demselben verwilderten und abgerissenen Mann, dem sie gestern sicher noch mit Schreck ausgewichen, wenn er ihnen allein im Walde begegnet wäre.

Es war eine mühsame und schmerzvolle Wanderung, bis das kleine Blockhaus vor den Glashütten sie wiedersah. Es war nichts anderes übrig geblieben: auf seinem Rücken hatte der starke Mann den laut jammernden Alten heimgetragen. Wie erschrak da die alte Magd, als ihr Herr in diesem Zustand wiederkam. »Hab's ja g'wußt, man versucht die Bergschreck' net, der Teifiberg,« so schalt sie laut im Hause herum. Und den so plötzlich ins Haus geschneiten neuen Gast betrachtete sie mit gar nicht freundlichen, sondern mit unheimlichen Blicken, als ob er eher ein Waldschrat wäre, womit er allerdings jetzt auch mehr Ähnlichkeit hatte als mit einem guten Christenmenschen. Noch unwilliger aber empfing Peppo, der Famulus, den Retter. Er ließ ihn im Vorraum sitzen und hieß ihn durch sein absichtliches Über-ihn-hinwegsehen seiner Wege gehen, so daß der arme Bursche ganz verdutzt und eingeschüchtert schon im Begriffe war, der stillschweigenden freundlichen Aufforderung Folge zu leisten.

Sibylle war viel zu sehr mit dem verletzten Vater beschäftigt, der aus einer Ohnmacht in die andere fiel, als daß sie in den ersten Stunden Zeit gehabt hätte, sich um ihren Lebensretter zu kümmern, von dem sie annahm, daß ihn Urschel versorgte. Sie war daher äußerst erstaunt, als gegen Abend Peppo in die Stube des Kranken eintrat, der sich nun doch etwas erholt hatte, und die Frage tat, mit was er den Waldgänger ablohnen solle, da er nun wieder fortwolle …

Da erhob der Alte im Bette den Kopf und sagte ächzend: »Nein, der bleibt bei uns für immer, wenn er mag.«

Sibylle

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