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So war denn der Tag herangekommen, welcher dem der Testamentseröffnung und dem zwanzigsten Geburtsfeste der ungleichen Zwillingsschwestern voranging. Herr von Kettenburg befand sich in fieberhafter Unruhe. Unablässig schritt er in seinem Zimmer auf und nieder, aß nicht und weilte bei keiner Beschäftigung, bei keinem Gespräch. Auch Sybillens Wesen drückte eine erwartungsvolle Erregung aus; die Freunde, selbst die Diener des Hauses, theilten die nur allzugerechtfertigte Spannung.
Nur Laurentia war völlig unbekümmert. Es fiel ihr nicht ein, daß der morgende Act von Einfluß auf ihr eigenes Schicksal werden könnte, und da Keiner der Ihrigen gewohnt war, andere als die alltäglichsten Dinge mit ihr zu besprechen, wurde sie nicht daran erinnert. Ihre Gedanken waren auf einer weit anderen Fährte. Sie hatte niemals daran gezweifelt, daß ihr Vater der wohlhabende Mann sei, für den er sich gab, aber sie hatte auch niemals danach gefragt. Nichts war ihr gleichgültiger, als Fragen des Erwerbs und Besitzes; bei ihren wirthschaftlichen Bemühungen dachte sie niemals an Nutzen und Vortheil; sie übte dieselben mit angelernter Gewissenhaftigkeit, aber ohne alle Berechnung. Wohl würde es ihr schwerer geworden sein als vielen Anderen, sich von herkömmlichen Bedürfnissen loszureißen, unmöglich, für dieselben selbständig einzutreten, aber sie fühlte auch kein Verlangen, diese mäßigen Bedürfnisse zu erweitern. Sie lebte, wie die Vögel unter dem Himmel, ohne Sorge um den folgenden Tag und hatte keine Ahnung von den Hindernissen, welche ihre innere Natur noch mehr als die äußere mit einem Dasein in Armuth und Abhängigkeit durchaus unverträglich machten.
Am Nachmittage dieses spannungsvollen zwölften Junius kehrte der alte Herr von Hohenheim aus Hochberg ein, und die Stimmung seiner Freunde inne werdend, brachte er zu ihrer Zerstreuung einen gemeinschaftlichen Theaterbesuch in der Stadt in Vorschlag. Herrn von Kettenburg war der Zeitvertreib erwünscht und auch Sybille stimmte ihm bei, vorausgesetzt, daß die Schwester von der Gesellschaft sein dürfe. Ungern zwar und stirnrunzelnd willigte der Vater in ihre Bitte, und von Herzen erfreut, endlich einmal dem armen Mädchen eine frohe Stunde verkünden zu können, eilte Sybille in Laurentia's Zimmer.
Wie war sie aber erstaunt, auf ein unwilliges Widerstreben zu stoßen. »Ich mag nicht,« stieß Laurentia hervor, »ich mag nicht – über die Brücke!«
Durch Sophiens und Levins Mittheilungen von jenem fatalen Auftritt unterrichtet und seither unruhig vor des Vaters Kenntnißnahme bangend, verstand Sybille diese Weigerung gar wohl; sie vermied aber eine nähere Berührung und freute sich, als ihre Ermunterungen, verbunden mit einem neugierigen Verlangen endlich über Laurentia's Bedenklichkeiten siegten. So fuhren sie denn mit dem Vater und dessen alten Freunde nach der Stadt.
In der Allee vor dem Theatergebäude promenirte Levin mit einigen Kameraden. Er schloß sich ihnen an und sie betraten den ziemlich gefüllten Saal, in welchem sie nicht mehr alle ihre Plätze neben einander finden konnten. Laurentia saß, wie gewöhnlich in ihrem Hause, zwischen Schwester und Freund, die beiden Väter fanden noch Raum auf einer der hinteren erhöhten Reihen.
Man gab eines jener bürgerlich sentimentalen Liebesstücke, die schon damals so ziemlich aus der Mode gekommen waren. Unsere Heldin aber sah zum ersten Male eine Theatervorstellung und es war vielleicht der lebhafteste Eindruck ihres bisherigen äußeren Lebens, welchen sie an diesem Abend empfing. Ihr Auge hing glühend und unverwendet an der Scene; sie schien ihre Umgebungen vergessen zu haben, indem sie, entrüstet über die Schurkerei eines vornehmen Intriguanten, die ersten Auftritte mit heftigen Gesticulationen und einzelnen, kurzen Ausrufungen begleitete. Die Schwester mußte wiederholt, beruhigend und warnend, die Hand auf die ihre legen, um ihre Aufregung zu mäßigen. Als nun aber das verfolgte Liebespaar auftrat, und sich in zärtliche Betheuerungen und schmachtende Klagen ergoß, da schien diese Aufregung sich in die unbehaglichste Unruhe zu verwandeln. Ihr Gesicht färbte sich purpurn, sie blickte nicht auf die Bühne sondern starr an den Boden, sie rückte beklommen auf ihrem Platze hin und her und endlich, als sie da oben ganz unverblümt von Küssen und Umarmungen reden hörte, sprang sie in die Höhe und rief: »Wir wollen fort!«
Die Blicke der Zuschauer richteten sich von der Scene auf das kleine Zwischenspiel im Parquet; man zischelte, man zeigte mit Fingern auf die Aufgeregte, manch spöttisches Lächeln wurde, wenn auch nicht ihr, so doch den Ihren bemerklich. Man sah nun endlich das Phänomen närrischer Häßlichkeit vor sich, dessen neuliches Brückenabenteuer in der kleinen Stadt sich rasch verbreitet hatte. Die Mehrzahl mochte sich enttäuscht fühlen: es fehlte das Barett, der Pompadour, das chinesische Wetterdach. Im einfach gescheitelten Haar und schlichten Sommerkleide würde unsere Heldin wenig oder nicht bemerkt worden sein, sobald sie sich ruhig verhalten und nicht durch ihre Erregung die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte.
Sybille saß wie aus Kohlen. Wie leicht konnte eine oder die andere Bemerkung zu den Ohren des reizbaren Vaters dringen. Sie gab sich alle Mühe, die Schwester zum ruhigen Ausharren zu bewegen, Levin stellte ihr vor, daß ihr Wagen noch nicht vorgefahren sei und daß sie ohne Aufsehen den Saal nicht verlassen könnten. Laurentia war unüberlegt wie immer; so oft das zärtliche Paar seine Heimlichkeiten ins Publikum schleuderte, wurde sie unruhig und wollte fort. Endlich, endlich fiel der Vorhang zum letzten Male und die arme Sybille athmete auf wie erlöst. Im Corridor trafen sie den Vater, welcher mit finsterem Blick und mühsam bewältigtem Unwillen ihrer wartete und ihnen befahl, allein nach Hause zu fahren, während er selber zu Fuße folgen wolle.
Schweigend rollten die Schwestern durch die mondhelle Juniusnacht, Laurentia noch mit allen Gedanken bei der Aufführung, deren letzter Act sie wieder auf das Tiefste erschüttert hatte, Sybille voller Sorgen, einen unfreundlichen Zusammenstoß voraussehend.
Der Vater hatte ihnen geboten, ihn zum Nachtessen zu erwarten, sie setzten sich daher in den Gartensaal und Sybille vermochte die Frage nicht zurückzuhalten:
»Warum wurdest Du eigentlich so unruhig, liebe Laura, und wolltest das Stück nicht zu Ende sehen, das doch einen so tiefen Eindruck auf Dich gemacht zu haben schien?«
Laurentia blickte sie verwundert an, so, als ob sie diese Frage nicht begreifen könne, da aber die Schwester dieselbe wiederholte, antwortete sie erröthend: »Schämtest Du Dich denn nicht, Sybille!«
»Schämen, liebe Schwester, vor wem, warum?«
»Vor allen Leuten, vor – Levin so von Liebe sprechen zu hören!«
»Es war ja nur Spiel, nur Schein,« entgegnen Sybille lächelnd.
»Aber es klang wie aus dem Herzen, sie müssen doch gefühlt haben was sie sagten.«
»Vielleicht im Augenblick, in der nächsten Viertelstunde empfinden sie das Entgegengesetzte.«
»Ich begreife das nicht Sybille,« sagte Laurentia kopfschüttelnd.
Sybille lächelte; »das glaube ich gern,« versetzte sie, »Du wärest auch zur Komödiantin verdorben, gute Laura.«
»Meinst Du!« rief Laurentia fast empfindlich. »Du kennst mich nur nicht, Sybille. O, ich vermöchte auch wohl eine Rolle zu spielen, eine Heldin wie die Jungfrau, oder Zryni's Weib. Aber ganz laut und öffentlich von dem zu sprechen was man heimlich in seinem Herzen empfindet, vor so Vielen zu bekennen –«
»Das Publikum in diesem Sinne ist für die Schauspielerin nicht da, liebe Laura.«
»Aber es ist doch da, Sybille, und die Schauspielerin ist doch auch nur ein Mädchen wie Du und ich, und wie kann ein Mädchen, auch wenn es niemand hört, einem Manne so etwas sagen, Sybille?«
»Sie wird es just nicht mit den überschwänglichen Worten unserer heutigen Liebhaberin thun,« versetzte Sybille herzlich lachend, »aber warum sollte ein Mädchen nicht einem Manne ihre Neigung gestehen können?«
Laurentia starrte sie erschrocken an. »Könntest Du es, Sybille?« fragte sie hastig.
»Einem Manne, der mir sein Herz entgegenbringt, ein erwiedertes Gefühl bekennen, gewiß könnte ich das, liebe Schwester.«
»Sybille,« rief Laurentia in die Höhe springend und mit loderndem Blick, »Sybille, Du hast es gethan!«
Sybille schwieg eine Weile im zweifelhaften Kampfe mit sich selbst, dann sagte sie ruhig entschlossen, indem sie Laurentia's Hand faßte: »Ja, meine Schwester, ich liebe Levin und ich habe es ihm gestanden.«
Ein durchdringender Schrei entrang sich Laurentia's Brust. Sie stand einen Moment wie in den Boden gewurzelt, dann stürzte sie nach der Thür, um den Saal zu verlassen. Aber der Vater, der in diesem Augenblicke eintrat, hielt sie fest.
»Bleibe!« rief er mit finsterem Gesicht und in heftiger Aufregung.
Sie machte gewaltsam einen Versuch sich loszureißen, er zog sie zurück, seine Nägel gruben sich blutig in ihren Arm.
»Renzel,« sagte er, mit vor Zorn bebender Stimme, »Renzel, Du bist vor einigen Wochen heimlich in comödiantenhaftem Aufputz in die Stadt gelaufen, hast Dich vor aller Augen en scandale gegeben. Man hat Dich öffentlich verlacht, verhöhnt, man hat auch heute Abend wieder mit Fingern auf Dich gewiesen – –«
»Vater, Vater!« unterbrach ihn Sybille weinend, indem sie seine Hand zu fassen suchte.
»Laß mich, Sybille!« rief er außer sich. »Die Närrin prostituirt Dich und mich, wie sich selbst. Ist es nicht widerwärtig genug, in einer Familie, welche seit Generationen um ihrer schönen Frauen gerühmt worden ist, solch einen Wechselbalg –«
»Fluch!« schrie Laurentia mit dem Fuße stampfend, und indem sie durch eine jähe Bewegung sich losriß, stürzte sie in den Garten.
Der Vater wollte ihr folgen, Sybille vertrat ihm den Weg.
»Grausamer Mann!« rief sie in tiefster Erschütterung, und eilte der Schwester nach.
Der Vater überholte sie; sie suchte ihn von neuem zurückzuhalten, er machte sich noch einmal von ihr frei. Eine unaussprechliche Angst und Qual hat sich nach dem leidenschaftlichen Ausbruche seiner bemächtigt. Sein tödtlich beleidigtes Kind flieht vor ihm her. Ihr Athem keucht, wilde Töne entringen sich ihrer Brust, die Verzweiflung giebt der unglücklichen Laurentia zum ersten Male Flügel. Sie rennt durch die Gänge des Gartens ohne Plan, hinter sich hört sie die Tritte ihres Verfolgers, die körperliche Bewegung erhöht den Sturm in ihrer Brust. Da steht sie an dem Rande des Weihers, des Vaters Arm ist ausgestreckt hinter ihr, er faßt ihr flatterndes Kleid, noch einmal reißt sie sich von ihm los und stürzt hinunter in die Tiefe.
Aber im nächsten Augenblicke hat der Vater sie ergriffen, er zieht sie aus dem Wasser und trägt sie an das Ufer, Sybille empfängt sie in ihren Armen.
Der jähe Sturz, die Kühle des Wassers hatten dem rüstigen Körper seine Kraft nicht geraubt. Laurentia war nur geistig betäubt, und ließ sich willenlos von Vater und Schwester nach dem Hause zurückführen. Keiner sprach ein Wort auf dem Wege. Sybille folgte ihr in ihr Zimmer, half sie entkleiden und bot ihr beruhigende Mittel, Laurentia wehrte sie mit hastiger Handbewegung ab. »Laß mich,« stöhnte sie, »laß mich allein!«
»Ich kann Dich nicht verlassen, arme, liebe Schwester,« entgegnete Sybille unter strömenden Thränen, »ich bleibe bei Dir.«
»Nein, nein!« rief Laurentia heftig.
»Lege Dich nieder,« bat Sybille von neuem, »suche zur Ruhe zu kommen, und laß mich bei Dir wachen.«
»Nein, nein – geh!« herrschte die Unglückliche und drängte sie nach der Thür.
Sybille rang die Hände. »Aber ich kann Dich in diesem Zustande nicht allein lassen!« rief sie schluchzend.
»Du mußt!« schrie Laurentia außer sich, »Du mußt.«
»Was hast Du vor, Laura?« fragte Sybille in tödtlicher Angst, indem sie ihre beiden Hände ergriff und an ihr Herz preßte. »Laura, denke an Gott, an unsere Mutter im Himmel, versprich mir – –«
»An meine Mutter im Himmel!« lallte Laurentia plötzlich beruhigt, aber mit dem Ausdruck des tiefsten Weh's. »Geh, Sybille. Ich wollte nichts Böses, ich will nichts Böses. – Wenn ich todt bin, will ich bei meiner Mutter im Himmel sein, bei meiner Mutter, die mich lieb gehabt.«
Im Innersten bewegt wollte die Schwester sie in ihre Arme schließen, aber sie wehrte sie von sich und sagte diesmal mit angstvoll flehendem Ton: »Laß mich, laß mich, Sybille!«
Sybille ging. Eine kaum geringere Unruhe als die um die Schwester trieb sie hinunter zu dem Vater. Auch er hatte sich nicht niedergelegt. Leichenbleich, voll Fieberschauern geschüttelt, kalten Schweiß auf der Stirn, schwankte er im Zimmer auf und ab.
Das Verhältniß zu seinem Kinde, dessen versäumtes Schicksal, seine schutzlose Zukunft, standen plötzlich nackt und kahl vor seinem Sinne. Sein hochmüthiger Zorn, die Härte verletzter Eitelkeit hatten die Unglückliche an den Rand der Vernichtung getrieben. Ein Augenblick, einer Spanne Raum und er war ein Mörder, seines Kindes Mörder.
Sybille las diese Vorstellungen in seinen rollenden Augen; sie suchte ihn zu beschwichtigen; sie sah, daß er krank war, elender, trostbedürftiger als das elende trostlose Kind, das sie eben verlassen. Sie bat ihn, sich niederzulegen und ihr zu erlauben, an seinem Bette zu wachen. Aber auch er verlangte allein zu sein, und hieß ihr die Schwester in Obacht zu haben.
So verbrachte denn die friedliche Sybille eine Nacht voll Todesangst, zwischen zwei verriegelten Thüren auf und nieder schleichend, lauschend und lugend, Zeugin und Trägerin unaussprechlicher Qual.
Der grauende Morgen fand das gute Mädchen bemüht, die Schwester in ihren täglichen Geschäften zu vertreten. Sie war aber kaum im Milchkeller angekommen, als sie Laurentia im sauberen Morgenanzuge eintreten und sich zu ihrem mechanisch vertrauten Tagewerke rüsten sah.
»Was willst Du hier?« fragte sie, die dichten Brauen in einander ziehend.
»Ich glaubte Dich ruhebedürftig, Liebe,« antwortete Sybille, indem sie sich entfernte, betrübt über den mißtrauischen Vorwurf, der mehr in den Blicken als in den Worten gelegen hatte, und der so deutlich zu sagen schien: »Willst Du mich denn verdrängen von jeder Stelle, die mir lieb geworden ist?«
Sie ging in den Garten, einen Strauß zu Laurentia's Angebinde zu pflücken. Welch ein jammervolles Fest, und welche unberechenbare Entscheidungen konnte es noch bringen!
Der Morgen war klar und golden, die Blumen dufteten in frischem Thau. Kein Hauch, kein Laut in der blühenden Natur, und wenige Schritte hinter den Mauern dieses Hauses, wie viel Kampf und Qual in den Menschenherzen!
»Gieb uns Frieden, Vater im Himmel!« betete Sybille leise, mit gefalteten Händen, ehe sie in das Haus zurückging, um das Geburtstagstischchen der Schwester in deren Zimmer zu ordnen. Sie legte den Strauß zu dem weißen Kleide mit blauen Schleifen, das sie mit heimlicher Freude nach dem Muster des ihrigen gefertigt hatte und sagte sich mit Seufzen, daß die Unglückliche, welche vor einigen Wochen eine so kindliche Freude bei ihrem Versprechen gezeigt, heute keinen frohen Blick für ihre Gabe haben werde.
Im Laufe des Vormittags kam der Richter aus der Stadt, welchen: die Testamentseröffnung oblag, kam auch Sophie mit ihrem Mann, der nebst dem älteren Herrn von Hohenheim und Levin als Zeuge bei dem Acte fungiren sollte. Wenige Worte genügten, um die vertraute Freundin von dem gewaltsam veränderten Zustande der Familie seit dem gestrigen Abend in Kenntniß zu setzen.
»Deine Mutter hat ihr Werk nur halb vollendet, Sybille,« sagte Sophie. »Suchte sie mit Recht ihren Sinn zu brechen, und ihre innere Anlage mit der äußeren in Einklang zu bringen, so mußte sie sie auch darüber aufklären, warum sie das that, mußte sie mit Bewußtsein ihrem Schicksale entgegen führen.«
»Willst Du sie tadeln, daß sie den Frieden der Kindheit schonte,« entgegnete Sybille, »daß sie sich scheute, einen unglücklichen Zustand zu verfrühen!«
»Und gerade dadurch würde sie jenen gewahrt, diesen abgewendet haben,« beharrte Sophie, »würde durch allmäliges Vertrautwerdenlassen mit der Wahrheit einer erschütternden Blendung vorgebeugt haben. »Du hast heißes Blut, mein Kind und ein begehrliches Herz,« hätte sie sagen sollen. »Du wirst Mühe haben, den Menschen zu gefallen. Aber lerne Dich beobachten und bezwingen, so wird es Dir gelingen.«
Damit ging sie in Laurentia's Zimmer. Auch ihre Zusprache blieb ohne Wirkung auf die Verstörte. Sie widersprach nicht mit einem Wort, aber ihr düsterer Blick sagte deutlich: »Was wißt Ihr von dem Elend eines Herzens, das Keiner liebt?«
Um die Mittagsstunde erschien Sybille mit der Bitte, ihr in den Gerichtssaal zu folgen, in welchem Richter und Zeugen schon versammelt waren.
»Was soll ich dort?« fragte Laurentia finster.
»Der Wille der Tante bestimmt es so, liebe Schwester.«
»Ich gehe nicht,« erklärte sie kurz und trotzig.
»Sei nicht unverständig Laura, komm!« mahnte Sophie ungeduldig, und suchte sie aus dem Zimmer zu ziehen.
»Nein, nein!« rief Laurentia sich sträubend. » Ihn sehen, ihn! Niemals, niemals!«
»Er ist Dein Vater, Laura!« sagte Sophie streng. »Und er ist so unglücklich, liebe Schwester,« bat Sybille, »seine zornige Uebereilung thut ihm so weh.«
»Weh! Der Vater!« murmelte Laurentia in sich hinein. »Der Vater! Nein, nein, Er!«
Die Freundinnen blickten sich kopfschüttelnd an. Die Zeit drängte und wie sollten sie diesem Starrsinne begegnen? Sie mochten auf diese Weise einige Minuten rathlos gestanden haben, als ihnen eine unerwartete Hülfe erschien. Der gute Felix war es, der nach leisem Klopfen in das Zimmer trat, lächelnd und ahnungslos, was die Gemüther seiner Freunde so unheimlich bewegte. Er hielt, sorgfältig verdeckt, einen Gegenstand in seinem Arme fest und trat mit ehrerbietiger Verbeugung auf seine Gönnerin zu, deren Hand er mit inniger Zuneigung au seine Lippen zog.
»Fräulein Laurentia,« sagte er mit seiner weichen, kindlichen Stimme, »Fräulein Laurentia, ich habe zum lieben Gott gebetet, daß er Sie glücklich macht, ganz glücklich, weil Sie so gut sind, Fräulein Laurentia. Und dann,« setzte er plötzlich hell auflachend hinzu, »und dann bringe ich Ihnen zum Geburtstage meinen Amor, der Ihnen neulich so hübsch gefallen hat, Fräulein Laurentia.«
Sophie und Sybille lächelten, die Letztere zwischen ihren Thränen. Auch Laurentia's Augen wurden feucht, sie hielt des Knaben Hand in der ihren und blickte mit einem Ausdruck dankbaren Erlöstseins in sein schönes, glückliches Gesicht.
»Ein Pudel ist ein treues Thier, Fräulein Laurentia,« fuhr Felix wieder ernsthaft fort, »man kann sich auf ihn verlassen, wie auf einen Freund. Und mein Amor ist sehr klug, er wird Ihnen Spaß machen, Fräulein Laurentia!«
Während dieser Anrede hatte er seinen Zögling enthüllt, zu Boden gelassen und in aller Eile seine vornehmsten Kunststücke producirt. Auf einmal aber hielt er, wie sich besinnend, inne und sagte, ihre Hand ergreifend: »Aber jetzt kommen Sie, Fräulein Laurentia, die Herren warten unten auf Sie.«
Ohne Widerstreben ließ sich das bekümmerte Mädchen von dem freundlichen Jünglinge aus dem Zimmer führen. Die Freundinnen folgten ihr. Auf der Treppe überfiel Sybillen ein so heftiges Zittern, daß sie sich an das Geländer klammern mußte. »Ach, Sophie,« flüsterte sie, »was wird die nächste Stunde entscheiden?«
»Dein Glück, will's Gott!« antwortete die junge Frau, »wenngleich mir Unerwartetes ahnet.«
Im Vorzimmer blieben Felix und Sophie zurück, ersterer völlig unbekümmert, letztere in unsäglicher Spannung. Laurentia, gesenkten Auges, betrat an der Schwester Hand den Gerichtssaal. Der Richter stand harrend hinter dem grün verhangenen Tische, ihm gegenüber der Prediger Zeise mit den beiden Herren von Hohenheim, welche das Zeugenamt übernommen hatten. Herr von Kettenburg hatte sich niedersetzen müssen, weil seine Knie schwankten. Sein Gesicht, die Begegnung Laurentia's scheu vermeidend, haftete in angstvoller Spannung auf dem entscheidenden Blatte in des Richters Hand. Die Augen aller Gegenwärtigen folgten, mehr oder minder begierig, derselben Richtung, nur die der armen Laurentia wurzelten trübe und finster am Boden, ohne jegliche Theilnahme für die bevorstehende, wichtige Eröffnung. Sie nahm den letzten Platz in der Reihe, an der Seite der Schwester, neben dieser der Vater, dann die Zeugen.
Der Richter begann seinen Vortrag mit einer amtlichen Erklärung, welche die Anderen, weil ihnen hinlänglich bekannt, mit Ungeduld, Laurentia, die Uneingeweihte, deren Gedanken anderwärts schweiften, gleichgültig überhörten. Er verlas einen gerichtlichen mit der Uebergabe des Testamentes gleichzeitigen Act, nach welchem die Verwaltung des gräflich Hochberg'schen Allodialgutes Hochberg vom Sterbetage der Erblasserin an, bis zu dem der anberaumten Testamentseröffnung, dem 13. Junius 184*, dem Curatorium des Oberlandesgerichtes zu R. übertragen wurde, unter speciellen Bestimmungen, welche für den Verlauf unserer Erzählung unwesentlich sind, und unter denen wir als wichtig nur diejenige hervorheben wollen, nach welcher sämmtliche Einkünfte des genannten Gutes von obigem Curatorium eingezogen, aufgespart und lediglich zum Ankauf von dem Gute einzuverleibenden Grundbesitz verwendet werden sollten.
Nach dieser Einleitung, welche den Zuhörern, außer Einer, eine Ewigkeit dünkte, erhob er das Testament zum Zeichen der Unverletztheit der Siegel und las mit langsamer Stimme die Ueberschrift: »Letztwilliges Vermächtniß der Frau Sybille Laurentia verwittweten Gräfin von Hochberg, gebornen Freiin von Kettenburg, Amtlich zu eröffnen am 13. Junius 184* in dem Gerichtssaale des Schlosses von Hochberg in Gegenwart dreier Zeugen und in Anwesenheit, oder beglaubigter Stellvertretung des Freiherrn Moritz von Kettenburg und seiner beiden Töchter, der Freifräulein Sybille und Laurentia von Kettenburg.«
Laurentia, welche von dieser einleitenden Formalität schwerlich ein Wort verstanden, oder auch nur vernommen hatte, blickte noch immer unverwendet zu Boden, die Augen aller Uebrigen hingen mit gesteigerter Erwartung an den Bewegungen des Richters. Manches Herz klopfte sichtbar in der Brust, manche Wange erbleichte, man hörte keinen Athemzug durch den weiten Saal, nur das Knistern der erbrochenen Siegel, das Rauschen des entfalteten Papiers. Der Richter warf einen raschen Blick auf das Blatt, dann einen überraschten, schier erschrockenen über die Versammlung, den er zum Schlusse einen Moment auf der achtlosen Laurentia ruhen ließ. Darauf verlas er mit erhobener Stimme das nachfolgende Document:
»Ich, Sybilla Laurentia, Freiin von Kettenburg, verwittwete Gräfin von Hochberg, im Angesichte des Todes, aus freiem Willen, nach strengem Rathschlusse mit meinem Gewissen und in völligem Gebrauche meiner Geisteskräfte verordne in Betreff meiner zeitlichen Hinterlassenschaft wie folgt:
»Nachdem ich unter dem heutigen Datum über mein gesammtes bewegliches Eigenthum, welches Namens es sei, durch freiwillige Schenkung verfügt habe, verbleibt mir lediglich die Disposition über mein Immobiliarvermögen, das ritterschaftliche Allodialgut Hochberg mit allen Accidentien, wie auch sämmtlichen Annexionen und Incorporationen, welche bis zum Tage der Eröffnung dieses meines letzten Willens, den 13. Junius 184* dasselbe erweitert haben werden, mit Einschluß des vollständigen Inventariums, so wie es am Tage meines Hinscheidens vorgefunden werden wird.
»Zur Universalerbin« – –
Herr von Kettenburg zuckte bei der letzten Sylbe krampfhaft zusammen; der Richter machte eine Pause, um noch einmal einen Blick auf Laurentia zu werfen, die auch jetzt noch antheillos und in sich versunken zu Boden starrte; man spürte ihm an, daß es ihm einen Anlauf kostete, um in seinem Vortrage folgendermaßen fortzufahren:
»Zur Universalerbin dieses meines Immobiliarvermögens ernenne und berufe ich meine Nichte, das Freifräulein Laurentia – –«
Ein leiser Schrei entrang sich Herrn von Kettenburgs Brust, seine Hand zuckte nach dem Herzen, das Gesicht wurde aschfarben, die Augen drängten sich aus ihren Höhlen. Die Blicke aller Uebrigen richteten sich blitzesschnell auf die Berufene, welche bei Nennung ihres Namens das Auge zwar zu dem Sprecher erhoben hatte, das Gehörte aber nicht verstanden zu haben schien. Der Richter hatte sich nicht unterbrechen lassen.
»Meine Nichte,« wiederholte er, »das Freifräulein Laurentia von Kettenburg unter der Bedingung, daß sie während ihrer Lebenszeit sich dieses Besitzthums weder durch Verkauf, noch durch Schenkung, in Summa in keiner Weise entäußere, ingleichen dasselbe nicht zerstückele, oder mit Schulden belaste; dahingegen soll ihr für den Fall ihres Ablebens das vollständig freie Verfügungsrecht über benanntes Besitzthum unbenommen sein, wie auch von dem Tage der Testamentspublication an, dem Tage, an welchem sie in ihr zwanzigstes Lebensjahr treten wird, das unbeschränkte Verwaltungs- und Nutznießungsrecht ohne Einspruch von irgend welcher Seite zu Gebote stehen. Und beharre ich auf der gewissenhaften Durchführung sämmtlicher dieser Bedingungen ausdrücklich, als auf einer clausula sine qua non«.
Laurentia's Auge war noch immer auf den Sprecher gerichtet, aber ohne jeglichen Ausdruck der Ueberraschung oder der Freude. Sie schien den glänzenden Wechsel ihres Schicksals, der ihr in diesen Worten verkündet worden war, so wenig begriffen zu haben als die Kränkung für ihren Vater, welche alle Anderen aus denselben herausfühlten. Sybille blickte bleich und in seine Seele beschämt zu Boden und bemerkte auf diese Weise nicht, daß der getäuschte, gedemüthigte Mann auf seinem Stuhle zurückgesunken war und nur noch wie im Traume den erläuternden Nachsatz zu hören schien, welchen jetzt der Richter, nicht ohne eigene Befangenheit, folgen lassen mußte.
»Ich hoffe und wünsche,« so lautete er, »daß meine nächst- und gleichberechtigten Anverwandten, mein einziger Bruder, der Freiherr Moritz von Kettenburg und meine vielgeliebte Nichte und Pflegetochter, das Fräulein Sybilla von Kettenburg, den Grundsatz der Billigkeit nicht verkennen werden, welcher mich bei dieser Verfügung geleitet hat. Ist mein Bruder noch der begüterte Mann, welcher er bei dem Ableben seines und meines Vaters gewesen ist, und als welcher er noch heute gilt und sich giebt, so wird er diesen Ueberschuß an Wohlhabenheit leichtlich verschmerzen können. Hat er durch Fahrlässigkeit, oder Schuld jenes elterliche Erbtheil geschmälert, so möge er als Sühne für diese hausväterliche Versäumniß die Wohlthat kindlicher Pflichterfüllung ertragen und würdigen lernen. Meine Nichte Sybille von Kettenburg aber verspricht an Leib und Seele sich zu so schöner Vollendung zu entfalten, daß ich ihr die Genugthuung nicht verkümmern will, von einem braven Manne lediglich um ihrer persönlichen Vorzüge willen gewählt zu werden.«
Ein warmer Blick Levins begegnete bei diesen Worten dem Auge der leise erröthenden Schönen, ein Blick, welcher mehr geahnt als wahrgenommen, die Brust der unvermuteten Erbin gleich einem Dolchstiche durchzuckte. Jetzt auf einmal war sie erregt und aufmerksam, voll unheimlicher Ahnung starrte sie nach dem Munde des Richters, der, nachdem er einen Augenblick verlegen gestockt, mit rascher, leiser Stimme die peinliche Publication zu Ende brachte.
»Dahingegen ist meine Nichte Laurentia von Kettenburg nach dem allzufrühen Tode ihrer vortrefflichen Mutter, durch Temperament und Weltunkenntniß im Zusammenhange mit einer – außergewöhnlichen – Häßlichkeit – –«
Ein gellender Schrei aus Laurentia's Munde drang bei diesen letzten Worten durch den Saal. Mit flammenden Wangen war sie aufgesprungen und aus der Thür gestürzt, ohne den Schlußsatz zu Ende zu hören.
»Durch Temperament und Weltunkenntniß im Zusammenhange mit einer außergewöhnlichen Häßlichkeit, ohne ihre Schuld in einen so harten Kampf mit dem Leben gestellt, daß ich es für meine Pflicht erachtet habe, so weit es weltlicher Besitz vermag, durch äußere Unabhängigkeit und Selbständigkeit ihr in diesem Kampfe zu Hülfe zu kommen.«
Der Richter schwieg, und legte das Blatt auf den Tisch; die ganze Versammlung saß eine Minute lang regungslos. Dann wagte Sybille den ersten schüchternen Blick auf den Vater. Die Augen aller Uebrigen folgten dieser Richtung, Herr von Kettenburg lag besinnungslos in seinem Stuhl.
Während dessen war die neubestellte Eigenthümerin von Hochberg in das Nebenzimmer geflohen, in welchem Sophie in athemloser Spannung, und Felix harmlos ruhig wie immer die wichtige Entscheidung erwarteten. Sie ließ die Thür mit heftigem Stoß in das Schloß fallen und warf sich in wilder Verzweiflung zu Boden.
»Fluch diesem Brandmal!« schrie sie mit wahnsinnigem Ausdruck, »Fluch diesem Kainszeichen!«
»Heiland der Welt, was ist Dir?« fragte Sophie, bemüht sie in die Höhe zu richten.
»Fort mit dieser Erbschaft!« rief die Unglückliche. »Ich will – ich will kein Almosen von dieser Frau!«
»Du – ihre Erbin, Laura?« sagte Sophie, »o, meine Ahnung!«
»Aber ich mag nichts, ich will nichts!« stöhnte Laurentia, mit gen Himmel geballter Hand. »Hohn und Schmach noch aus dem Grabe heraus! O diese Frau!«
»Ist das der Dank für ihre Liebe?« fragte Sophie entrüstet.
»Liebe? Heißt das Liebe? Das ist Hohn! Bin ich ein Krüppel, oder eine Mißgeburt, der man ein Almosen hinwirft mit abgewendetem Gesicht? Ich will kein Mitleiden, ich will geliebt sein wie Sybille! Ich brauche kein Geld, ich brauche ein Herz! Nehme diese Schätze wer will, ich nehme sie nicht!«
In dieser Weise, taub für jede Zurede, raste die Unglückliche noch wild durch einander, als der alte Herr von Hohenheim, sichtlich von einer Hoffnung belebt, in das Zimmer trat und sie bat, noch auf einen Augenblick in den Saal zurückzukehren, da der Gerichtsrath ein Codicill von späterem Datum in ihrem Beisein zu verkündigen habe.
»Ich will nichts mehr hören, ich will nicht erben!« rief Laurentia, die dargebotene Hand des alten Herrn ungestüm von sich wehrend.
»Sie müssen es hören, Fräulein!« beharrte Herr von Hohenheim. »Wer kann wissen, was dieser Nachtrag enthält!« Laurentia schüttelte den Kopf.
»Sei vernünftig, Laura, geh!« mahnte Sophie.
»Nein, nein!«
»Seien Sie gut, Fräulein Laurentia, folgen Sie dem Vater,« bat Felix sanft, der diesem bangen Auftritte, ohne ihn verstanden zu haben, mit Thränen kindlichen Mitleids gelauscht hatte.
Sie ließ sich in den Saal zurückführen. Die Thür nach dem Vorzimmer blieb geöffnet, so daß Sophie einen rasch beobachtenden Blick über die Versammlung gleiten lassen konnte. Laurentia ging nicht nach ihrem Platze zurück, sondern blieb wie gebannt in der Nähe der Thür. Sie war im Begriffe gewesen, ihre zornige Weigerung vor Aller Ohren zu wiederholen, jetzt machte der Anblick ihres unglücklichen Vaters das erste Wort in ihrem Munde stocken.
Herr von Kettenburg hatte seine Besinnung wiedergewonnen, bei Erwähnung des noch vorliegenden Codicills eine jähe, brennende Röthe seine fahlen Wangen überflammt. Aber todesmatt lehnte sein Kopf an Sybillens Brust, und nur das Auge hing mit fieberhaftem Glanze an dem Blatte, dessen Inhalt der Richter, die beklemmende Scene, abzukürzen mit hastigen Worten zur Kenntniß brachte.
»Sollte,« so lautete der kurze Nachtrag, vom Todestage der Erblasserin datirt, »sollte aus irgend welchem Grunde meine Nichte und berufene Erbin, Laurentia von Kettenburg den Antritt dieser meiner Hinterlassenschaft verweigern, so soll nicht, wie in dem Falle ihres Ablebens ohne letztwillige Verfügung, die Intestaterbfolge eintreten, sondern dem von mir gegründeten Asyl für verwahrloste Kinder weiblichen Geschlechts in N. der ausschließliche Genuß meiner Besitzung von Hochberg zu Gute kommen.«
*