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Zweites Capitel.
Die neue Herrschaft.

Das war der Tag, an welchem in unserer Gegend das erste Rittergut in bäuerliche Hände kam; und wahrhaftig, in keine geschickteren konnte es kommen, um sich von seinen hundertjährigen Schäden und Verwahrlosungen zu erholen. Der Strich, welchen die kurze, eigne Verwaltung von Margaretens Gatten durch die arge Haushaltung eigennütziger, gewissenloser Pächter gezogen, war bald unter den Hufen des Kriegstrosses verlöscht worden; Simson Oberweg mußte ganz von Vorn anfangen und zwar blos mit dem Kapital seiner beiden kräftigen Arme und seines alten, anschlägischen Kopfes, denn sein Beutel war leer. Ja, so niedrig auch nach heutigen Begriffen die erlegte Kaufsumme erscheinen muß, so wollen wir es doch gern glauben, daß der Inhalt des eisernen Topfes, welchen er in der Heimlichkeit der letzten Nacht vor dem Tode seiner Margarete aus einem Winkel seines Schafstalles hervorgrub, wie der des sorgfältig unter dem Bettstroh verborgenen, blankgefüllten wollenen Strumpfes, im Verein mit dem Kaufschilling für Haus und Aecker in Mittwerben bei weitem nicht hinreichten, um den Sohn des Großknechtes von Saldeck zu dessen unbeschränkten Herrn zu machen, und daß dem Kriegsrath, Herrn Justus Gall, noch ein erkleckliches Kapital in erster Hypothek auf dem Gute haften blieb. Nun, in langsam sicheren Bauerntrott trabte der neue Ritter seine bedenkliche Bahn und übersprang nicht, aber überwand mit Fleiß und Geduld die mannigfaltigen Hindernisse auf derselben. Um die Ehre, ein Ritter zu sein, schien er sich leider nicht allzuviel zu kümmern. Keiner seiner Standesgenossen hat ihn jemals die glänzende Landstandsuniform, mit dicken goldenen Epauletten tragen, oder seinem König vorreiten sehen, wenn er unsere Provinz besuchte. Auch der Vorzug oder Vortheil leuchtete ihm nicht hinlänglich ein, den Landrath seines Kreises und die Abgeordneten der Ritterschaft zu den Provinziallandtagen wählen zu helfen, eventualiter diese Würden in eigner Person zu bekleiden, auf dem Kreistage eine Stimme zu haben, einem höheren Gerichtsstande anzugehören als die Nachbarn und Einwohner von Mittwerben und Saldeck selber Gerichtsherr zu sein und seinen Justitiarius zu ernennen so gut wie den Schulzen und Schulmeister, den Nachtwächter und Pfarrer von Saldeck. Ja, sogar das Patronatsrecht über die Kirche seiner Gemeinde schätzte er im Grunde nur um der Gruft willen, in welcher er eines Tages an Seiten seiner Grete zu ruhen und bei seinem Abscheiden nicht völlig spurlos von der Erde zu verschwinden gedachte; denn in dieser Beziehung war Herr Oberweg so wenig Philosoph als das Volk überhaupt. Keine Stelle ist diesem so wichtig als eine Begräbnißstelle, keine Feier macht ihm den Eindruck einer Leichenfeier und eine ehrenvolle Bestattung mit gesticktem Bahrtuch, glänzenden Handhaben am Sarge und einer salbungsvollen Gedächtnißrede ist das Ziel des Strebens eines städtischen, wie eines ländlichen Familienvaters. Darum sind auch keine Kassen so gesucht wie Sterbekassen; der arme Tagelöhner trägt seinen sauererworbenen Sechser und Groschen weit lieber in diesen wie in jeden anderen den Lebenden zu Gute kommenden Sparverein; denn wenn er gelebt und sich geplagt hat wie ein Hund, will er zum Schlusse doch nicht von den Nachtwächtern zum Thore hinaus getragen sein. Und lächeln wir nicht über diese letzte Eitelkeit: der mühselig Beladene feiert ja seinen Eintritt in ein besseres Leben. Kurz und gut: von allen seinen Standeswürden und Ehrenrechten hielt Ritter Hans Simson Oberweg nur auf den Besitz der herrschaftlichen Gruft; denn die Oberherrlichkeit über seine Lehnsleute und Fröhner hatte einen zu reellen Hintergrund, als daß er sie aus einem anderen Gesichtspunkte als diesem hätte betrachten sollen. Nicht eine Stunde durften sie in seinem Dienste »verlaatschen,« wie er es nannte. Sie thun es gern die Herrn Fröhner, oder richtiger: sie thaten es gern, denn mit dem sich verbreitenden Ablösungsrecht wird auch dieses Institut ja mit nächstem verschwunden und aus einem unfreien ein freies ländliches Proletariat geschaffen sein. Aber zu Zeiten von Simson Oberwegs neuer Herrlichkeit zeigten sie sich noch als sprichwörtliche Freunde langsamer Bewegungen. Sie glaubten ein Recht dazu zu besitzen, weil keinen Vortheil vom Gegentheil. Es war ihnen ein weniges zu lange her, um sich jeden Augenblick darauf zu besinnen, daß vor so und so viel Jahrhunderten der Ritter von So und So ihren Frohnvorderen Schutz und Obdach gewährte, unter gleichen Bedingungen ungefähr wie seinen Ochsen und Eseln auch. Nun, wie gesagt, ihr neuer Herr saß ihnen gehörig auf dem Dache; er arbeitete an ihrer Spitze, ackerte und karrte, fuhr seinen Dünger selber aus und seine Garben selber ein; vor Sonnenaufgang war er schon draußen in Stall und Feld und nach Sonnenuntergang noch; kein Stein war ihm zu gering, um sich danach zu bücken und seinen Acker von ihm zu befreien, keine Scholle zu klein, um sie nicht zu besäen und zu bestellen. Wenn im Winter die Arbeit flau war, fuhr er seine Korn- und Kartoffelsäcke eigenhändig zum Markte in der Stadt, auf demselben Wagen oder einem ähnlichen, wie der, auf welchem er seine Tochter zu ihrem Ehrenplatze gefahren hatte. Aber den Weg besserte er, auf dem er sie mit Lebensgefahr in die Höhe gebracht; die Heuwagen aus der Aue ersparten nach und nach reichlich an Zeit, was die Anlage an Kapital erforderte; und sie erforderte im Grunde nicht allzuviel; denn wenn er seine Fröhner und Tagelöhner im Sommer tüchtig anspannen wollte, mußte er ihnen im Winter Brod geben, damit sie nicht Hunger litten und bei Kräften blieben. So calculirte Vater Oberweg, und, wie uns dünkt, richtig genug. Er besserte also nicht nur den Weg in das Thal, er unternahm auch noch Größeres. So ließ er mit der Zeit die ganze vordere Front des Schlosses abtragen, daß nur drei Flügel stehen blieben und die Seite, welche früher den Blick in den dunkeln, inneren Hof gehabt, nun frei hinausschaute in die frische, freundliche Gotteswelt. Nicht zu leugnen: es war eine archäologische Sünde, die er beging, aber die alten Steinmauern müssen es, denke ich, gefühlt und sich behaglich gedehnt haben, wie so zum ersten Male seit fast einem Jahrtausend die liebe Sonne auf sie niederbrannte, das schlammige Moos an ihrer Oberfläche vertrocknete, allmälig grüne Rebengelände an ihnen in die Höhe kletterten, Spatzen und Finken in den Ritzen ihre Nester bauten, Dohlen und Fledermäuse aber sich ein schattigeres Plätzchen suchten.

Leider müssen wir indessen berichten, daß unser alter Freund nicht denselben Sinn hatte für die Schönheit wie für die Nützlichkeit der Natur. Zwar, er ebnete den Platz, wo der alte Schloßflügel gestanden hatte, befuhr ihn mit Dünger und Erde und brachte auf diese Weise in Verbindung mit dem ehemaligen inneren Schloßhofe eine Plattform, ein Schloßgärtchen zu Wege, das mit seinen ehrwürdigen architektonischen Umgebungen, mit seiner lieblichen Aussicht der Bijou eines neuromantischen Ritterfräuleins gewesen sein würde, wenn sie zwischen Rosen und Rankengewächsen, bei einem pikanten Buche, oder im geistreichen Theekreise, nach der Erschöpfung winterlicher Bälle und Routs die Ruhe des Landlebens gekostet hätte. Vater Oberweg aber ruhte niemals auf der Terrasse seines mittelalterlichen Schlosses; er pflanzte Kohl und Kartoffeln auch auf diesem erbeuteten Fleckchen Erde und war so stolz wie ein alter Ritter nach einem sieghaften Turnier, als er nach wenigen Jahren die ersten Trauben von den Geländen längs der Mauer schneiden und sich sagen durfte, daß Gutedel und Schönfeiler in der ganzen Gegend nirgend besser gediehen als in dem einstigen Burghofe von Saldeck. Die Steine und Ziegel des abgebrochenen Schloßflügels verwendete er zur Herstellung und Neuerrichtung nothwendiger Wirthschaftsbauten. Mit der Zeit umschlossen dieselben in musterhafter Ordnung und Solidität den großen, weitläufigen Hof; auch die Säle und Zimmer des Schlosses wurden soweit gebessert, daß sie, seit sie dem Sonnenlichte offen standen, vortreffliche Getreidelager abgeben konnten. Das Gerichtshaus mit seinem Garten blieb natürlich unbenutzt, denn Simson Oberweg hatte kein Recht an dieselben; er selber wohnte im Pächterhause und nahm mit seiner Muhme und Wirthschafterin Jungfer Marchristine, die in Milchkeller, Küche und Rauchkammer mit gleicher Unumschränktheit regierte wie er in Feld und Stall, nicht mehr Raum in seinem großen Schlosse in Anspruch als vordem in dem kleinen Häuschen von Mittwerben.

Nur der Jürgen besaß sein eignes Stübchen im Giebelstock. So lange seine Mutter lebte, hatte er mit dieser zusammen gewohnt und der alte Großvater wußte es nicht anders, als daß der Junge, so lange er nicht zum heiligen Nachtmahl gegangen war, sich oben nach seiner Weise beschäftigte und Lesen und Schreiben studirte, Fertigkeiten, welche dem Alten als gar nichts Kleines erschienen, denn er selber hatte sich niemals in einer von ihnen versucht. Zwar als etwas Unentbehrliches im Leben schätzte er nach eigener Erfahrung diese Kunststückchen nicht, aber doch als eine Annehmlichkeit und Erleichterung, die er seinem Enkelsohne gönnen wollte. Er selbst, wie gesagt, behalf sich ohne dieselben: aber das Rechnen verstand er aus dem ff. Freilich nur als Autodidact, aber mit desto größerem Behagen; natürlich auch ohne allen Aufwand von Griffel und Kreide, von Ziffern und Zeichen, sondern ganz in als Denker, als Spiritualist. In der That, er rechnete immer: wenn er seine Ochsen lenkte und seine Reben beschnitt, wenn er seinen Hof pflasterte und seine Schafe schor, auf Schritt und Tritt, bei jedem Unternehmen berechnete er Aussaat und Ernte, Anlage und Ertrag, Gewinn und Verlust, Regen und Wind, Zeit und Stunde. Er war ein arithmetisches Genie, Meister Oberweg, und ein recht glückliches obendrein, denn von seinen Spekulationen ist selten eine fehlgeschlagen, weil er keine unternahm, ohne vorher in Gedanken so lange die Probe hin und hergemacht zu haben, bis das Facit endlich richtig traf.

Von seinen Gaben und Eigenschaften schien indessen nur ein geringer Theil, und dieser vielfältig gemischt mit fremdartigen Elementen, auf seinen einzigen Enkel und Erben übergegangen, und diesem, besonders seit er ein junger Herr geworden, alle Lust an der Bauernarbeit vergällt zu sein. Seine Mutter hatte es in Mittwerben einzuleiten gewußt, daß er den Unterricht theilte, mit welchem der dasige Prediger seinen Sohn zum Gymnasium vorbereitete. Frau Margarete verstand es, ihrem alten Herrn begreiflich zu machen, wie nützlich es sei, daß einer aus der Familie die fremdartigen Ausdrücke in den Verordnungen des Amtes und der Regierung, im Kreisblättchen und Kalender, die sie ihm vorlas, auslegen lerne. Aus diesem Grunde, und weil überhaupt Lernen den Kopf aufräume, sollte Georg Lateinisch und Griechisch studiren, sagte die gute Grete, dachte im Grunde ihres Herzens aber dabei wohl mehr an ihren seligen Gemahl, zu dessen Gleichen sie seinen Sohn zu erziehen wünschte. Vater Oberweg hätte es freilich natürlicher gefunden, daß die curiosen Redensarten in einer Sprache ausgedrückt würden, die Christenmenschen verstünden; indessen stand es einmal wie es stand, er konnte es nicht ändern und da der Jürgen noch zu jung und zu schwach war, um viel an nützlicher Arbeit zu versäumen, und da der Alte überhaupt von allen Menschen nur den Beweisführungen seiner Grete selten widerstand, so ließ er sich den heidnischen Unterricht vor der Hand gefallen. Kam nun Georg des Abends aus der Pfarre nach Hause zurück, so tummelte er sich wohl lustig im Hofe, half die Pferde in die Schwemme reiten, Kühe und Schafe in die Ställe treiben, kletterte im Herbst, das Obst zu pflücken, auf die Bäume, schnitzte im Winter Pfähle und Räder, schlug Reifen um Fässer und trieb es mit einem Worte in seinen Freistunden wie er es die Anderen treiben sah. Aber das war, als seine Mutter noch lebte. Mit ihren Augen erlosch der Reiz, der ihn zu dieser Thätigkeit anlockte; aus eigner Lust arbeitete er nicht mit den Händen. Das vermehrte Wirthschaftstreiben in Saldeck mahnte ihn auf Schritt und Tritt an die Geschiedene und ließ zugleich sie ihm mit Schmerzen vermissen; ihre Liebe hatte alle Umgebungen für ihn geadelt. Seine einzige Beruhigung fand er in der Nähe des Predigers, der an die Stelle des früheren Lehrers getreten war, dessen Unterricht fortsetzte und bald einen väterlichen Einfluß auf ihn übte.

Dieser gütige Mann sah bald genug ein, daß der Knabe einen anderen Bildungsgang durchzumachen habe, als sein Großvater für ihn im Sinne trug, daß eine lebhafte Neigung zum Lernen in ihm befriedigt werden und daß, wenn er dereinst das Erbe seiner Familie antreten, behaupten, wohl gar erweitern solle, dies auf einem Umwege durch andere Lebensgebiete geschehen müsse; und der praktische Seelsorger hatte den Magister noch nicht so weit abgestreift, daß er sich dieser Erkenntniß nicht innerlich freuen sollte; denn, sagte er zu sich selbst, wenn eine Schöpfung abgestorben ist, muß wohl eine rohe Kraft den Grund zu neuen Anlagen bearbeiten, aber nur eine vielseitige Bildung wird die Blüthen der Zukunft aus ihr hervortreiben lassen.

Freilich war es kein Kleines, den Vater Oberweg zu einer ähnlichen Auffassung umzustimmen und es gehörte viele Geduld und viele Klugheit des geistlichen Freundes dazu, um in seinem Vorhaben nicht irre zu werden. Georg sollte ein Bauer sein und bleiben und mit dem Schreiben und Lesen, christlich oder heidnisch, das Maximum alles Wissenswerthen für einen Bauer erreicht haben. Das Argument der Naturforschung und deren Wichtigkeit für den Landwirth, wollte bei dem alten Praktikus nicht ziehen.

»Keinen Pfifferling geb' ich,« dabei blieb er, »für diese Quacksalbereien. Wenn sich unser Herrgott von Unsereinem also ins Handwerk pfuschen ließe, hol' mich Dieser und Jener! Der alte Oberweg könnte wenig Respect mehr vor ihm haben!«

»Sie werden aber doch zugeben, Herr Oberweg,« wendete der Prediger ein, »daß der Mensch durch Nachdenken und Studium auch in der Bebauung des Bodens, der Fütterung des Viehes, in der Anwendung seiner Werkzeuge große Fortschritte machen kann und daß aus diesem Grunde die Oekonomie mit der Zeit immer mehr ein Geschäft werden wird, das nicht blos mit den Armen, sondern auch mit dem Kopfe betrieben werden muß.«

»Jedes Ding muß zuerst mit dem Kopfe betrieben werden,« erwiederte der Gegner der Gelehrsamkeit, »jeder Schuh, der zugeschnitten, jedes Fuder Heu, das geladen wird, muß gehörig überlegt und berechnet werden, wenns gerathen soll. Aber daß ich derhalben meine Zeit und mein Geld in dicken Büchern verstudiren sollte, mit Verlaub, Herr Pastor, das ist eine Thorheit. Drauf losgehen muß ich, zupacken, wo's Noth thut, meine Augen offen haben für das, was am Tage liegt und damit Basta. Was der da oben in seiner Vorrathskammer geheim hält, werd' ich ihm doch nicht abluchsen, und kann mir auch nimmermehr Nutzen stiften; sieht's doch jetzunder aus, als ob der hohe Herr gezwungen werden sollte, alle seine Heimlichkeiten vor uns Gewürme auszukramen!«

»Sie sind ein Philosoph Herr Oberweg!« sagte der Gerichtshalter lachend, der dieser Unterredung zugehört hatte, ohne sich an ihr zu betheiligen, und der Prediger fügte hinzu: »In der That, Herr Oberweg, Sie haben es in einem langen Leben voll Arbeit und Gottesfurcht zu einem hohen Grade philosophischer Ergebung gebracht und da nicht Jeder so sicher auf seinen Füßen steht wie Sie, sollten Sie es Ihrem Enkel gestatten, auf dem näheren Wege der Wissenschaft zu einem ähnlichen Resultate zu gelangen.«

»Nichts für ungut, Herr Pastor,« versetzte eisenfest der Alte, »aber Ihr näherer Weg scheint mir ein gewaltiger Umweg. Mit Vetter Jürgen ums Thor 'rum sagen wir auf Deutsch. Nehmen Sie mir's nicht übel, aber wenn ich zum Voraus weiß, daß ich nichts erfahren kann von dem was ich am liebsten erfahren möchte, da müßte ich doch ein Esel sein, erst noch die dicken Bücher zu studiren und meinen Acker drüber in der Brache liegen zu lassen. – Aber mit Verlaub, meine Herren, Sie alle Beide haben da einen Ausdruck gebraucht von dem, was ich sein sollte, ich nämlich, der alte Oberweg. Der Ausdruck scheint alleweile Mode unter den Leuten. Ein Bruderskind von meiner Muhme, der Marchristine, für den sie sich abäschert und plagt den lieben geschlagenen Tag, der ist auch in die Stadt gegangen, hat seinen letzten Thaler verstudirt und ist am Ende ein Doctor geworden. Aber nicht so ein Doctor mit Pflastern und Pillen, nein, einer mit künstlichen Reimen und curiosen Redensarten. Er schreibt sich einen Doctor der Philosophie. Nun setzen Sie mir einmal auseinander, Herr Pastor, was ist denn das eigentlich für ein Geschäft, so ein Philosoph?«

»Ein Philosoph,« antwortete der Prediger lächelnd, nach kurzem Besinnen, »ein Philosoph ist ein Mann, der sich bestrebt, das Wesen der Gottheit und ihres edelsten Geschöpfes, des Menschen, zu ergründen.«

»Weiter nichts?« fragte Herr Oberweg gedehnt, »aber dazu seid Ihr ja da, Ihr Pastores.«

»Nicht ganz dazu, lieber Herr,« entgegnete der Prediger, »wir geistlichen beschränken uns darauf, die Offenbarung in uns aufzunehmen und in Andere zu übertragen, welche uns der Herr in der heiligen Schrift über weltliche und himmlische Dinge gegeben hat.«

»Und das ist mehr als zuviel, um daß sich die Leute ihr Lebenlang damit zufrieden stellen können,« versetzte der Alte, unwillig mit seiner Faust auf den Tisch schlagend. »Herr Pastor, wenn Ihre Philosophen nichts Besseres sind, als was Sie sagen, so sind sie, weiß Gott, nicht Fisch und nicht Vogel. Und so ein Larifari, meinten Sie vorhin, wäre ich, ich Simson Oberweg? Da sind Sie in dickem Irrthum, meine Herrn. Ich sollte nach Spatzen ausgehen, wenn ich die Taube im Schlage habe? Umgekehrt ist mein Spruch, Herr Pastor: Hab' ich, ist besser, als hätt' ich. Und ein erbärmliches Brod muß es sein, obendrein, so ein Philosoph. Wahrlichen Gott, noch schlimmer als ein Maler! Denn zum Exempel: wenn mir geschwant hätte, daß meine Margarete so bei Zeiten eingehen sollte, ich hätte sie mir gern bei einem Maler bestellt und über mein Bette aufgehängt, daß sich beim Munterwerden früh meine alten Augen an dem guten Gesichte ergötzen thäten. Aber was ich mir bei einem Philosophen bestellen sollte, das weiß der Kuckuk. Und meiner Muhme, der Marchristine, der will ich die Wache ansagen. Hört, will ich sagen, wenn, wie Ihrs vormalen Euch in den Kopf gesetzt hattet, Euer Bruderskind gekommen wäre, da meine Grete noch ledig war, und hätte um sie gefreit, und die Grete hätte ihn gewollt, da wär' er schön bei mir angekommen. ›Mit Verlaub, Herr Doctor der Philosophie,‹ hätte ich gesagt, ›erst lernen Sie mir ein Bischen dreschen und pflügen, oder meinethalben eine Mauer ziehen, oder einen Balken behauen, und dann fragen Sie wieder nach bei Simson Oberweg. Aber so einem Hungerleider von Philosophen giebt er seine Tochter nicht.‹ Und sein Enkel, der Jürgen, Herr Pastor, ein Philosoph wird der auch nicht, so lange ich noch ein Wörtchen mitzureden habe, und damit Basta!«

Der Anwalt des Studiums mußte sich für den Augenblick geschlagen zurückziehen, doch gab er seinen Feldzug so leichthin nicht aus. Wenige Wochen nach dieser Unterredung fand er seinen alten Herrn in einer bisher an ihm nicht gekannten mißmuthigen Stimmung; denn die mannigfaltigsten Forderungen und Scherereien gingen ihm im Kopfe herum; alte Streitigkeiten mußten fortgesponnen, neue aufgenommen werden, Grenzregulirungen und Hütungsgerechtsame, Zinshähne und Brauspesen, Mühlzwang und Schankrecht, Alles sollte erst erstritten werden, denn ein Jeder suchte in den neuen staatlichen Verhältnissen an den alten Banden zu lockern; dazu der Gerichtshalter, dem er im Grunde nicht traute, und der, das fühlte der pfiffige Bauer bald genug heraus, in dem neuaufgekommenen Rechte ein Stümper war. Und nun obendrein die Neuigkeit des Ablösungsgesetzes und der Güterseparation, die sich nach und nach auf diese Gegend zu erstrecken begannen. Simson Oberweg konnte nicht fertig werden, Wohlthat und Opfer dieses heranschwimmenden Zustandes in Gedanken gegen einander abzuwägen; er sah zahllose Verwickelungen aus demselben hervorgehen, Anspruch jagte Anspruch, Proceß den Proceß; die Acten häuften sich zu Bergen vor seinen Augen. Und zu dem Allen nun noch die Advocaten, die sich den leichtesten Rath mit schwerem Gelde aufwiegen ließen. Kein Wunder, wenn der Gutsherr von Saldeck Sorgen und Verdrießlichkeiten kennen lernte, welche dem Nachbar und Einwohner von Mittwerben fremd geblieben waren.

»Ja, wenn ich nur lesen und schreiben könnte,« sagte er seufzend zu dem Pfarrer, der mehr und mehr sein Vertrauter wurde, »ich wollte ihnen schon die Hölle heiß machen. Aber kein Einziger macht's so wie ich's im Kopfe habe.«

»Lesen und Schreiben würden Ihnen wenig helfen, Herr Oberweg,« entgegnete der Pfarrer. »Sie müßten vor allen Dingen die Gesetze und Verordnungen inne haben, von welchen eine immer der anderen zu widersprechen scheint, und die ein weitläufiges Studium erfordern.«

»Freilich, freilich,« sagte der Alte, sich verdrießlich im Kopfe kratzend. »Und wo hätte Unsereiner die Zeit, sich mit alle den Schnurrpfeifereien zu befassen. Es hilft nichts, man muß den Advocaten in die Hände fallen. Und richtet Einer einmal Etwas aus, schwere Angst! so schöpft er selber erst die Sahne von der Schüssel und der Client kriegt den blauen Satz.«

Der geistliche Herr wußte, daß man das Eisen schmieden müsse, so lange es glüht.

»Sie sollten sich selber einen Advocaten erziehen, Herr Oberweg,« sagte er, »einen Mann vom Fach, einen geschickten Anwalt Ihres Rechts. Ihr Enkel hat einen fähigen Kopf, bis er herangewachsen, werden die hiesigen Verwicklungen sich dermaßen gehäuft haben, daß ohne gesetzeskundigen Beistand gar nicht mehr durchzukommen ist. Lassen Sie den Georg die Rechte studiren, Herr Oberweg.«

Das wirkte bei dem Alten. Landwirth und Advocat in einer Person, das war im Grunde sein stilles Traumbild von menschlicher Vollkommenheit. Der Pfarrer wußte diese Stimmung geschickt zu benutzen und die Opfer, welche dieser einstigen Größe gebracht werden mußten, als verhältnißmäßig gering darzustellen. Der rüstige Großvater bedurfte des Knaben noch nicht zur Bewirthschaftung des Gutes; seine Augen waren hell und seine Arme rührig für ein Dutzend Enkel. Es konnte nicht schwer sein, eine Freistelle der nicht fernen, angesehenen Landesschule zu erwirken, auf welcher das Leben wenig größeren Aufwand als den der Bekleidung von seinen Angehörigen erforderte. Ein gewichtiges Argument für den künftigen Studenten gegen den sparsamen Bauer!

Kurz und gut: Vater Oberweg strich die Segel; sein Enkelsohn legte am nächsten Michaelistag ein glänzendes Examen ab, übersprang die ganze untere Abtheilung, was seiner Vorschule in Mittwerben nicht geringe Ehre machte, und trat als Obertertianer in jene Anstalt, die sich so gern das deutsche »Eton« nennt und mit aristokratischem Gelehrtenlächeln auf andere humanorische Tummelplätze herniederblickt. In diesen romantischen Klosterräumen, mit ihrem grünen Waldeshintergrunde, ihren weiten, saftigen Wiesen und rosenblühenden Gärten verliefen die Jünglingsjahre unseres Helden nach einer wenig gelockerten, jahrhunderte alten Regel und Disciplin; er war Unter-, Mittel- und Obergesell, Stubenältester, Famulus des Rectors und im letzten Semester Primus der Anstalt; zweimal bekam er bei den halbjährigen Prüfungen eine Prämie für griechische Verse und altdeutsche Uebertragungen; einmal begrüßte er einen die Anstalt besuchenden hohen Minister mit einer selbstverfaßten lateinischen Rede, die ihm wohlthuende Belobigung erwarb; und während sein alter Großvater unter den juristischen Plackereien der Gegenwart sich der Hoffnung getröstete, daß sein Enkelsohn aus der hohen Schule Processe drehen und Advocatenkniffe auswendig lerne, um ehestens alle seine Fehden zu einem glücklichen Ende zu führen, studirte dieser den Tacitus und die Nibelungen, exponirte die Antigone und übte zwei Mal alle Wochen mit kunstfertigen Pas und Portebras eine mustergültige Menuet. Vater Oberweg war daher nicht wenig überrascht, als nach Verlauf von fünf Jahren der Prediger ihm versicherte, daß mit dem Austritt aus der Anstalt der Jürgen keineswegs fertig sei, im Gegentheil, daß er nun erst recht damit anfangen solle, auf den Advocaten zu studiren. Zum Glück hatte sich indessen herausgestellt, daß dem Gutsherrn von Saldeck ein jährliches Stipendium von hundertundfünfzig Thalern zu Gunsten eines armen Studirenden in der Universitätsstadt der Provinz zur Verfügung stehe; was war demnach natürlicher, als daß Herr Oberweg diese Stiftung der Ritter von Saldeck zum Nutzen des Erben von Saldeck verwertete, und indem er aus seiner Tasche nur noch die kleine Summe zuschoß, an welche er sich während Georgs Schuljahren einmal gewöhnt, froh genug war, das gelehrte Wesen mindestens mit einem geringeren Aufwand an Geld als an Zeit zu erkaufen, zumal mit dem letzteren der unvermeidliche Aufenthalt von des jungen Mannes militärischer Dienstzeit verbunden werden konnte.

Für Georg waren die Schuljahre glückliche gewesen. Die klösterlich einförmige Thätigkeit der Anstalt, die schon manchem ihrer freier gewöhnten Zöglinge unerträglich geworden ist, sagte dem Enkel des stetigen Bauern zu, während auf der anderen Seite das Freisein von materiellen Entbehrungen, das Schweigen über alle Fragen des Erwerbs und Gewerbs, die ihn daheim so vielfach verletzten, das sorglose Indentaghineinleben, und ein Zug vornehmer Förmlichkeit, welchen die Anstalt zu nähren bemüht ist, dem Sohne des Freiherrn von Saldeck angemessen waren. Er kehrte daher mit einem wahren Heimathsgefühle nach Verlauf der großen Sommerferien immer wieder in die stillen Mauern zurück. Nicht, daß er ohne eine gewisse Ehrfurcht für seinen alten Herrn gewesen wäre; im Gegentheil, er bewunderte diese rastlos selbstverleugnende Thätigkeit und er liebte den einzigen Menschen, mit welchen ein Band des Blutes und der Gewohnheit ihn zusammenhielt. Ja, oft wußte er in kindlicher Begeisterung für diese ursprüngliche Kraft und Gediegenheit keine würdigere Genossenschaft als die Gestalten seines alten, geliebten Homer. Im Grunde aber blieben der Alte und seine Welt ihm fremd und fern; und wie der fleißige Großvater kein anderes Verhältniß zu einem Nachkommen ahnete, als für ihn zu schaffen und zu sparen, so war dem beschaulichen Enkel ein Streben unbegreiflich, das sich immer nur auf die Zukunft bezog und alle leiblichen wie geistigen Forderungen der Gegenwart unberücksichtigt ließ.

Während der letzten Sommerferien ging er einmal hinunter ins Thal, wo Simson Oberweg seit Sonnenaufgang bei der Heuernte beschäftigt war. Eine brennende Juniussonne mußte genutzt werden, um das Heu aus der sumpfigen Aue auf den erhöhten Wiesenrändern auszubreiten, zu wenden und endlich heimzufahren; man arbeitete ohne Rast Tag und Nacht, denn der Wind hatte nach Süden umgeschlagen und Meister Oberweg wußte, daß die weißen Flöckchen gegen Abend in seinem Wetterloche die ersten Wehen des Siebenschläfers bedeuteten. Es war Mittagsstunde und Georg fand seinen alten Herrn in Hemdsärmeln und Leinenhosen, den breitränderigen Strohhut über den weißen Haaren, auf einem Heuschober sitzend und auf der Faust ein Stück schwarzes Brod verzehrend, das er von Zeit zu Zeit durch einen Schluck »Kofent« aus einem irdenen Kruge hinunterspülte, ein heimatliches Getränk, welches der Nachguß von Bier ist und ungefähr schmeckt wie abgebrühtes Stroh.

»Es ist nicht recht von Euch, Großvater,« sagte Georg, sich neben ihn setzend, »es ist wahrhaftig nicht recht von Euch, daß Ihr eitel Brod esset. Ihr seid ein alter Mann und solltet Euch etwas zu Gute thun.«,

»He? meint Er, Er kluger, junger Herr?« versetzte der Alte, die Arme in die Seite stemmend, in ungewohnter guter Laune, »also placken und schinden soll ich mich Tag und Nacht und was ich dann erplackt und erschunden mir lustig durch die Gurgel jagen? Wenn's der alte Oberweg auf die Weise sein Lebtage getrieben hätte, nun da würde sein Enkelsohn, der Jürgen, wohl eher ein armer Knecht, oder Tagelöhner in Mittwerben sein, statt angehender Adovcat und einmal Erbe von Saldeck.«

»Aber es drückt mich, lieber Großvater, Euch immer nur um meinetwillen arbeiten und sparen, selber aber das Notdürftigste entbehren zu sehen,« versetzte Georg, seine Hand ergreifend. »Ihr solltet Euch zur Ruhe setzen und auch etwas von dem Leben genießen.«

»Faullenzen, die Hände in den Schooß legen, Jürgen, sollte ich?« rief der Alte; »gute Bißchen schlucken und mich in meinen alten Tagen wohl gar noch im Wirthshause herumtreiben? Und das heißt Du genießen? Nun, sterben wäre mir lieber, mein Junge, hundertmal lieber begraben werden. Ich hielt's auch nicht aus, nicht vierundzwanzig Stunden, meine ich; und ich frage mich oftmalen, wie machen's die gnädigen Herren da drüben in Reutlingen und so weiter, die ihre Pächter hantiren und sich betrügen lassen, selber aber den lieben langen Tag auf der Bärenhaut liegen und zusehen. 's muß etwas anderes in ihrem Geblüte stecken, Jürgen, als in meinem, sage ich.«

»Ihre Felder werden allerdings nicht so fett und ihre Beutel nicht so voll dabei werden wie die Euren, Großvater,« sagte Georg lächelnd.

»Und was entbehr' ich denn, Jürgen?« fuhr der Alte fort; »sieht man mir eine Noth an, Junge? Komm' mal und nimm's mit mir auf, Du Knirps!« rief er, sich hoch aufrichtend und lachend, was er selten that. »Denkst Du, daß ich leichter meine Sense schwingen und schneller meinen Wagen bansen würde, wenn ich mein Eingeschlachtetes selber zum Frühstück verzehrte, und meine Fässer selber auspichelte? Brauch ich was Besseres als alle die Leute hier, die ebenso lange und schwer gearbeitet haben als ich? Und wenn wir gegen Abend heimkommen, finden wir da nicht die Töpfe voll und tischt Muhme Marchristine nicht auf nach Noten? Warte mal. Heute ist Mittwoch, da giebt's Hirsen in Milch und morgen Donnerstag, da kriegen wir saure Linsen und Wurst. Hast Du gehört, daß Einer hungrig aufgestanden ist von Simson Oberwegs Tische? Gott verhüt' es! Du sollst dem Ochsen, der dir drischt, nicht das Maul verbinden, steht geschrieben und also halt' ich's. Aber sich den Bauch vollschlagen, das ist Uebermuth. Höre, Jürgen, ich hab's ausgerechnet: jeder Schinken, der in meiner Rauchkammer erspart wird, der giebt eine Reihe Ziegel auf mein neues Scheunendach. Und so ein Schinken ist in ein paar Tagen hinunter, aber unter dem Scheundach können noch einmal meines Enkels Enkel Gottes Segen ausdreschen lassen. Und solche Gedanken sind gute Leckerbissen, mein Sohn!«

Georg ging bewegt nach dem Schlosse zurück. Er empfand das Große dieser Anstrengung, dieser Enthaltsamkeit, dieser Hingebung, – dieser Hingebung aber an was? An ein Gefühl, an eine Idee? War das Liebe, was dieser alte Mann für ihn empfand? ein Zug von Person zu Person? Bewegte ein innerer Plan diese unermüdlich schaffende Maschine?

»Ja, er bewegt sie, mein Sohn,« sagte der Prediger, sein väterlicher Freund, dem er in dieser Stimmung begegnete. »Das Gefühl, das den Landmann, wenn auch unbewußt, treibt, ist das der Unsterblichkeit. Nicht nur, daß er in zweiter Ordnung immer vor Augen hat, wie er der Ernährer des Volkes ist und wie ohne seine fleißigen Hände das Menschengeschlecht zu Grunde gehen müßte; sondern auch sich selbst, einen Theil seiner Individualität, möchte er in seinen Nachkommen, in seinem Erbe auf Erden erhalten, gewissermaßen unsterblich wissen. Das ist das bewegende Princip des Bauern, wie jedes anderen Aristokraten, dem alle persönliche Neigung sich unterordnen muß. Der Edelmann zieht seine Linie in eine unberechenbare Vergangenheit zurück, der Landmann in eine unberechenbare Zukunft hinaus; und die mächtigste, die bis jetzt unbegreifliche gesellschaftliche Umwälzung steht uns bevor, wenn es den umsichgreifenden Ideen der Neuzeit, dem Einflusse der Industrie, der Mischung mit anderen Gesellschaftsschichten eines Tages gelingen sollte, diesen originalen, zähen, erhaltenden Bauernsinn zu verlöschen.«

Als Student zum ersten Male ein freier Mann, sah sich unser junger Held in einer seltsamen Lage. Von Natur nachdenklich und ernst, fühlte er nicht das Bedürfniß der meisten anderen Schüler, welche mit ihm die Anstalt verlassen hatten, sich, wie sie sagten, auszutoben, allen Zwang von sich abzuschütteln und desto unbändiger zu sein, jemehr sie sich lange Zeit eingeschnürt gefühlt hatten. Sohn eines Edelmannes, den er nicht gekannt, dessen Familie ihn ausgestoßen; Enkel eines Bauern, dem er alles verdankte, wohin gehörte er? wessen war er? Voraussichtlicher Erbe eines alten, großen, sich täglich hebenden Besitzes, aber auf die knappste Haushaltung angewiesen, wie hatte er seine Gegenwart einzurichten, seine Zukunft zuzuschneiden? In dieser zweifelhaften Stellung bildete er sich seinen eignen Standpunkt; der Idealismus der Jugend half ihm, seine Wünsche mit der Realität zu verschmelzen, und so brachte er in sich eine Art von bäuerlichem Ritterthum oder ritterlichem Bauernthum zu Wege, in dessen Grundsätze er sich je mehr und mehr vertiefte. Rechnen wir hierzu den Einfluß, welchen die Strömung der Zeit auf den Empfänglichen übt, die Nachwehen von 1813, die in den Lüften zitternden Vorwehen von 1830, die Lafeyettes und Foys, die neben den Ypsilantis und Byrons, wie den Blücher und Scharnhorsts in harmlosem Durcheinander auf den Piedestalen eines jungen Studentenkopfes standen, so werden wir uns vielleicht eine Vorstellung von dem Innenleben unseres enthusiastischen Freundes machen können, der, von der Welt nichts kennend als ein Dorf, ein Kloster das heute Schule hieß und eine Universitätsstadt der Provinz, ohne gemüthlich beherrschendes Familienband und geselligen Zusammenhang sich nicht in der Nothwendigkeit stählte, den absorbirenden Kampf mit dem materiellen Leben aufzunehmen, da ein Anderer für ihn sammelte und schaffte, mehr als er je zu bedürfen und zu wünschen gedachte.

In dieser Lage, beschränkt auf der einen Seite, schrankenlos auf der anderen, fehlte ihm vor allem ein natürlicher Anschluß. Als Kind hatte die Liebe zur Mutter sein bedürftiges Wesen erfüllt; mit der Elasticität der Jugend würde er dieses Gefühl auf einen anderen Gegenstand geworfen haben, aber wer ist bereit, das Herz eines eltern- und geschwisterlosen Knaben aufzufangen? Zwar, schon in Mittwerben hatte er mit dem Pastorsohne, seinem Studiengenossen, einen erhabenen, auf die Ewigkeit berechneten Freundschaftsbund geschlossen, und als Tertianer auf der Schule denselben erneuert; sie nannten sich Castor und Pollux und schworen, für einander zu leben und zu sterben. Allein schon in Secunda trat eine moderne Lebensmacht – wenngleich Relegation von der Schule auf ihrem erweislichen Begriffe stand – der antiken Tugend hemmend in den Weg; Castor ließ seinen Pollux allein und wandelte erröthend auf anderen Spuren; der arme Pollux aber, enttäuscht über die Freundschaft, ließ seine sehnsüchtige Erinnerung desto öfter hinüber nach dem blassen Kinde schweifen, das ihm am Sarge seiner Mutter fast wie ein Traumbild erschienen war und ihm versprochen hatte, ihn lieb zu haben. Von der Natur ihm so nahe verbunden, schien es, kaum gefunden, für immer entflohen und durch eine unausfüllbare Kluft von ihm getrennt.

Mehrmals hatte Georg den Prediger nach dem Schicksale seiner väterlichen Verwandten gefragt, aber niemals eine aufklärende Antwort erhalten. Die Briefe, welche Luitgard anfänglich aus der Residenz geschrieben, hatten nach Jahr und Tag aufgehört; auch der Prediger stellte die seinigen ein, mit Recht annehmend, daß der Freiherr jede erinnernde Berührung an seine früheren Verhältnisse vermieden wünsche. Das Gerücht verbreitete sich, daß Herr von Saldeck, nachdem er längere Zeit an höchster Stelle vergebliche Schritte gethan, um aus dem früheren Stiftsvermögen eine Entschädigung für die Präbende zu erhalten, die er eben anzutreten im Begriffe stand, als die Säcularisation durch die fremden Eroberer eintrat, sich getäuscht, gekränkt, erbittert und in seinen Mitteln auf das Aeußerste reducirt in einen ländlichen, unbekannten Aufenthalt zurückgezogen habe. Bald war sein Name in Saldeck so gut wie vergessen.

Georg verlor seine väterliche Familie vollständig aus den Augen, wenn auch niemals aus dem Herzen. Eine stolze Scheu hielt ihn ab, bemerkbare Erkundigungen nach den Aristokraten einzuziehen. Er nannte sich zwar nicht mehr Georg Oberweg wie als Knabe, er war es der Ehre seiner Mutter schuldig, den Namen seines Vaters zu führen, aber dessen Adelstitel würde er damals verweigert haben und wenn der König selber ihn ihm angetragen hätte.

Auf diese Weise war das letzte Sommerhalbjahr auf der Universität gekommen. Wie viel sich Georg von der Advocatenweisheit, auf welche sein Großvater speculirte, angeeignet, vermögen wir nicht zu constatiren. Doch möchten wir geneigt sein, anzunehmen, daß er den Vorträgen über Philosophie, Geschichte, alte und neue Literatur eifriger gefolgt wäre, als denen über Institutionen, Pandecten und verschiedentliche andere Sorten des Rechts. Da er den Zweck nicht einer einzigen landsmännischen Verbindung tief genug ergründen konnte, um sich ihr mit Ueberzeugung anzuschließen, von den Studenten daher zu den sogenannten »Kameelen« gerechnet wurde, bildete er sich zum Ersatz aus deren Kreise einen Dichterbund, dessen Führer er ward, ein abendliches Theekränzchen, der »Werdetag« genannt, in welchem sich die jungen Burschen ihre literarischen Productionen vortrugen und ihre Pläne zur Reformation von Kunst und Welt austauschten. Manches sinnige Geisteskind des Meisters vom Werdetag verirrte sich aus dem gemächlichen Burschenkneipchen in eines der beliebten »Vielliebchen,« oder »Vergißmeinnicht« der Zeit, um von zarten Frauenseelen gekostet und vergessen zu werden, nebenbei aber das praktischere Verdienst zu haben, des armen Studenten knapper Kasse ein wenig aufzuhelfen. Nicht ohne Bangen dachte dieser daran, wie nach Ablauf der Universitätsjahre sein äußeres Leben sich gestalten werde, und welchen entscheidenden Beschluß er für seine Zukunft fassen sollte.

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