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Viertes Capitel.
Ritterstreiche.

Kaum nach seinem Auftreten wurde unser Held ein erklärter Liebling des ersten städtischen Gesellschaftskreises. Noch ehe ein Justizrath, ein Gerichtsrath, ein Geheimrath, der Director und selber die beiden Präsidenten des Hofes sich über den vielversprechenden, fleißigen und bescheidenen jungen Mann belobigend ausgesprochen, hatten die Damen in ihren freundlichen Kaffeezusammenkünften und bei den eben zeitgemäßen Partien der Weinlese sich über seine feine, vornehme Haltung, sein angenehmes Aeußere und seine vielseitige Bildung geeinigt. Die malerische Lage von Schloß Saldeck, das aus seinem Felsenvorsprunge über dem Spiegel des Flusses den schönsten Fernpunkt der städtischen Promenade bildete, war noch niemals von den Spaziergängerinnen in dem Maße empfunden worden, als seitdem sein einstiger Erbe in ihrer Mitte verweilte. Die Frau Vicepräsidentin – ihre fünf Töchter waren noch unverheiratet – erkundigte sich antheilnehmend bei ihrem Gemahl nach der Höhe der noch auf dem Gute ruhenden Hypothekenlast; die Frau Chefpräsidentin nannte den noch nicht völlig majorennen Eximirten gemüthlich nur den lieben Mündel ihres Gatten und äußerte sich zu wiederholten Malen anerkennend über seine Anspruchslosigkeit, sich nicht Freiherr von Saldeck zu nennen, da ihm das Recht dazu unbestreitbar frei stehe; ja, die verwittwete Frau Landesstallmeister von Weichentheil ging in ihrer Aufmerksamkeit noch weiter: als er ihr in einer Abendgesellschaft bei dem Geheimen Justizrath Rindfleisch vorgestellt wurde, nannte sie ihn a priori Herr von Saldeck. Allerdings durfte unser Freund diese Auszeichnung nicht als eine speciell und allein ihm zu Gute kommende anschlagen, denn Frau von Weichentheil pflegte sich nur mit und von Leuten von Adel zu unterhalten und sich notgedrungen, über die peinliche Situation, viel mit Bürgerlichen zu verkehren, dadurch zu erheben, daß sie dieselben in fürstlicher Hoheit nobilitirte.

Nur ein junger Held, ein Nebenbuhler, befand sich im Bereiche des gesammten unteren wie oberen Gerichtshofes, der in den Augen der Gesellschaft im Grunde noch einen höheren Platz einnahm als unser Freund: das war der Oberlandesgerichtsreferendarius, Freiherr Thassilo von Bodeninnen. Doch galt er für eine mehr abstracte, unnahbare, uneinnehmbare Größe. Er blendete; hielt Reit- und Wagenpferde, einen Jäger mit Federhut und Hirschfänger und trug, der seltene Referendar, als natürliche Anerkennung der Reinheit seines Geblütes, das weiße Ritterkreuz auf seiner Brust. Man wußte, er hatte Aussicht, ehestens von den Ständen seines Kreises zum Landrath gewählt zu werden; er war schon gegenwärtig Vertreter der Ritterschaft, und was für einer! – auf den Landtagen der Provinz; war, nicht etwa erst der Erbe, nein, der volljährige Besitzer eines ansehnlichen Majorats, er war beobachtet, besprochen, angestaunt, kurz, er war die Fabel der Stadt. Zwar verlief wohl selten eine gesellige Begegnung mit dem spröden, ablehnenden Ritter, daß nicht Dieser oder Jene verstimmt, ja verletzt von seinem Gebahren nach Hause zurückgekehrt wäre; auch sollten einige junge, vorlaute Collegen – sie waren bürgerlich – sich bei diversen Gelegenheiten erlaubt haben auf seine Kosten zu lachen, ja, es circulirten einige ziemlich naseweise Carricaturen über ihn. Alle diese rächenden Scherze wurden aber mit großer Vorsicht ausgelassen; man wußte, mit dem Freiherrn von Bodeninnen war nicht zu spaßen; er witterte Verunglimpfungen wie ein Spürhund in der Luft und rächte sie ohne Barmherzigkeit; wer aber hatte Lust, sein Leben für einen prätentiösen Wagehals aufs Spiel zu setzen?

Einen Umstand gab es indessen, der unserem bescheidenen Freunde, Georg Saldeck, gestattete, der gesellschaftliche Concurrent des Referendarius von Bodeninnen zu werden; das war dessen ostensible Gleichgültigkeit gegen den gesammten jungen Damenflor unserer Stadt. Erschien er auf einem Balle der haute volée, so machte er der Dame des Hauses eine mustergültige Verbeugung, wechselte einige herablassende Worte mit der Gemahlin des Chefpräsidenten, die eine Kaufmannstochter war und führte die ehrwürdige Frau Landesstallmeister von Weichentheil, deren Ahnen jede Probe aushalten konnten, zur Polonaise, um sich gleich darauf mit einigen älteren Herren vom Collegium oder jungen Cavallerieoffizieren an den Whisttisch zurückzuziehen, und beim Souper hinwiederum an der Seite der Frau von Weichentheil seinen Platz zu nehmen. Wohl war Georg bis jetzt nicht eifriger in seinen Huldigungen beflissen; auch er stand meistens zurückgezogen in der Nähe der Thür und unterhielt sich mit einem oder dem anderen der anwesenden Herren. Aber was nicht war konnte werden. Vor diesem jungen Manne lag noch eine galante Perspective, während man sich über den Anderen keine Illusionen machen durfte, da man wußte, daß er zur Befriedigung seines Geschmackes wie zur Behauptung seines Majorates einer Reihe von mindestens zweiunddreißig reinen Ahnen benöthigt war.

Zweiunddreißig Ahnen! Gott im Himmel, die der unvergleichlichen Weichentheil abgerechnet, glaube ich nicht, daß alle Ahnen unserer Stadt zusammenaddirt zweiunddreißig rein herausgekommen wären!

Ungefähr seit der Zeit von Georgs Auftreten in diesen Kreisen, ging nun in denselben das Gerücht, daß die Untadelige gefunden worden, welche würdig und fähig sein sollte, das edle Geschlecht der Bodeninnen aufrecht zu erhalten und zwar in der Person einer Verwandtin des jungen Mannes, von der, wenngleich in der Nachbarschaft lebend, bisher nicht die entfernteste Kunde sich zu uns verirrt hatte. Nie war sie auf einem Balle des Casinos erschienen und Frau von Weichentheil hatte nicht gehört, daß sie an dem benachbarten Hofe von Zippel-Zappel, an welchem sämmtliche junge Damen des Landadels ihr Entree in die Welt feierten, präsentirt worden sei. Freilich, sie sollte arm sein wie eine Kirchenmaus, sagte man; aber schön wie eine Chriemhild, wurde eingewendet. Eine Gelehrte, meinten die Einen; ein Naturkind, ein weiblicher Emil die Anderen; ein unbedeutendes Landmädchen, dessen Vater von Stolz und Elend halb verrückt, in einer Bauernhütte lebte, die Meisten. Wie dem aber auch war, Aller Blicke richteten sich nach der seltsamen Dame, umsomehr, seit man in Erinnerung und Erfahrung gebracht, daß der Auscultator Saldeck, ihr rechtmäßiger Vetter, durch das barbarische Gesetz einer, Gottlob überwundenen Zeit und ein romantisches Schicksal ihr entfremdet, dessen ungeachtet aber auf vertraulichem Fuße mit ihr lebe, da man ihm öfter auf dem Wege nach dem einsamen Vorwerk begegnet war, ja einige junge Damen ihn bei einer Landpartie nach der Burg durch das Fernrohr am Arm seiner schönen Cousine erkannt haben wollten.

In der That hatte Georg Luitgarden mehrmals auf morgendlichen Spaziergängen wiedergesehen, und auch heute begleitete sie ihn bis in die Nähe der Fähre zurück, die ihn nach dem jenseitigen Ufer tragen sollte. So offen und zutraulich er aber gewohnt war, alle Interessen mit seiner Freundin zu besprechen, das ihn so lebhaft belästigende, ja beunruhigende Verhältniß zu ihrem Vetter von Bodeninnen hatte er nicht den Muth mit Entschiedenheit zu berühren. Sie schlüpfte, wie ihm schien, mit leichter Verlegenheit über jede gelegentliche Erwähnung desselben hinweg, und lenkte auch heute das Gespräch über Einen, als dessen Nebenbuhler er sich nicht ansehen durfte und dessen zweifelhafte Stellung ihn doch so unsäglich verstimmte, mit den Worten ab:

»Er ist mein naher Verwandter, der einzige Umgang, der meinem Vater Freude macht, und ich habe mich gewöhnt, eine edle und ernste Natur auch hinter schroffen Umhüllungen und abweichenden Meinungen zu ehren.«

Sie langten bei diesen Worten vor dem Fährhause an und waren nicht wenig betroffen, den Gegenstand ihrer Unterhaltung, des Kahnes wartend, am jenseitigen Ufer zu erblicken. Luitgard fühlte sich erröthen, sie war einen Augenblick versucht, ungesehen von dem Harrenden den Rückweg anzutreten; schnell aber siegten ihr Stolz und ihr redliches Herz, sie reichte ihrem Freunde mit derselben Herzlichkeit wie sonst zum Abschiede die Hand just in dem Augenblicke, als Thassilo von Bodeninnen aus dem Kahne sprang. Er grüßte nachlässig, halb verächtlich, seinen, noch von der Burgbegegnung her nicht im besten Andenken bei ihm stehenden, in Gesellschaft jederzeit geflissentlich ignorirten Antagonisten und wendete sich rasch zu der jungen Dame. Georg bemerkte, daß diese sich ruhig gegen ihn verbeugte, und, ohne ihm den Arm zu geben, den Heimweg an seiner Seite einschlug.

Herr von Bodeninnen hatte augenscheinlich Mühe, eine lebhafte Wallung zu unterdrücken. Ein Schatten verdunkelte das Traumbild seiner Seele. Das Gerücht, das er schon mehrmals als einen persönlichen Schimpf zu rächen im Begriff gewesen, war eine Wahrheit geworden, seine Verwandtin, sie, die er würdig gefunden, den nächsten Platz an seiner Seite einzunehmen, hatte offenbar ein Rendezvous gehabt und ging vertraulich allein am Arm eines Mannes, dem er in keiner Weise die Prätention eines Verhältnisses zu ihr zu gestatten gedachte.

»Wie kommt meine gnädige Cousine zu der Intimität mit dem jungen Demagogen?« fragte er höhnisch nach einigen Schritten an ihrer Seite.

»Auf dieselbe Weise, wie Sie zu der Ihres Bruders gekommen sind, Herr von Bodeninnen,« antwortete Luitgard ruhig, »Georg Saldeck ist mein nächster und liebster Verwandter.«

»Also eine Rehabilitation des interessanten Bauernburschen, nachdem Ihr edler Vater ihn auf den gebührenden Standpunkt zurückgewiesen?« entgegnete Herr von Bodeninnen.

»Es würde mich allerdings glücklich machen, ihn durch meine Freundschaft für den Mangel an Achtung und Neigung zu entschädigen, dem er in meiner Familie begegnet ist,« sagte Luitgard, während Thassilo verächtlich die Oberlippe in die Höhe zog und eine Weile schweigend an ihrer Seite ging. Sie lenkte das Gespräch darauf in eine andere Bahn und entfernte sich, nachdem sie ihn bei ihrem Vater eingeführt, um ihren häuslichen Obliegenheiten, als einzige Schaffnerin nach dem Tode der braven Frau Nolle, zu vollenden. Sie änderte nichts in ihrer einfachen Hausordnung, gab dem alten Andreas, dem einzigen Dienstboten der Familie, die Weisung, ein Couvert mehr aufzulegen und trat nach einer Stunde etwa wieder zu den beiden Herren, sie zum Mittagstische einzuladen.

»Wie eine Fürstin, die einem Königsmahle vorzustehen hat,« sagte ihr ritterlicher Bewunderer zu sich selbst; »es ist keine gemeine Ader in ihr, eine Edelfrau vom Kopf zur Zeh!«

Indessen konnte er sich heute doch nicht überwinden, ihre Einladung anzunehmen; er empfahl sich gegen seine Gewohnheit vor dem Essen, und Vater und Tochter saßen sich bei der Tafel gegenüber wie alle Tage. Der alte Andreas servirte mit der ruhig besonnenen Würde, die er in besseren Tagen gelernt und geübt, und so einfach das Mahl, so zeigte keine Unruhe, keine Verlegenheit dem Freiherrn von Saldeck, daß seine Tochter es ohne fremde Hülfe mit eignen Händen bereitet hatte. Nachdem der Diener sich entfernt, um das Tischgeräth wieder in Ordnung zu bringen, fragte der Domherr:

»Thassilo war heute verstimmt, weißt Du den Grund, Luitgard?«

»Ich vermuthe ihn, lieber Vater,« antwortete sie nach kurzem Kampfe.

»Was habt Ihr miteinander?«

Luitgard erkannte, daß es nach der heutigen Begegnung unerläßlich sein würde, den Schleier von ihrem kleinen Geheimniß vor des Vaters Auge zu lüften, sie sagte daher nicht ohne Verlegenheit nach einer kurzen Pause:

»Um diese Frage zu beantworten, muß ich einen Gegenstand berühren, den ich, um Dir nicht lästig zu werden, bisher vor Dir verborgen gehalten, lieber Vater, und Dich nachträglich um Verzeihung bitten, wenn ich nicht in Deinem Sinne gehandelt habe.«

»Ich verstehe Dich nicht, Luitgard.«

»Im Vertrauen auf die Nachsicht und Freiheit, die Du meinem Leben gewährtest, habe ich die zufällig gemachte Bekanntschaft eines Verwandten unterhalten, zu welchem wir Beide uns in einem ungewöhnlichen Verhältnisse befinden, und dieser Umgang mit Georg Saldeck ist es, der Herrn von Bodeninnen verstimmt.«

Luitgard bemerkte, wie ihr Vater bei dem Namen ihres Freundes leise zusammenzuckte; er blieb eine Weile schweigend und fragte dann mit scheinbarer Ruhe:

»Wie stehst Du zu dem jungen Manne, Luitgard?«

»Wie eine Schwester zum Bruder; ich freue mich seiner guten, edlen Natur, und zeige ihm ein Vertrauen, das ihn zu beglücken scheint. Darüber hinaus, lieber Vater, bitte ich Dich sicher zu sein, daß ich mir keine Beziehung gestatten würde, die mich mit meinen nächsten und theuersten Pflichten in Zwiespalt bringen müßte.«

»Ich vertraue Dir, Luitgard,« versetzte der Vater nach einer Pause; »für das Opfer einer freudlosen Jugend, bei der Aussicht auf eine schutzlose Dürftigkeit nach meinem Tode, habe ich Dir keinen anderen Ersatz bieten können, als jene Selbständigkeit, welche starke, auch weibliche Naturen, beanspruchen und die Achtung vor dem Rechte Deines Standpunktes, selbst wo er dem meinigen widerstrebt.«

Luitgard küßte ihrem Vater die Hand und der Gegenstand war für heute erledigt; da aber der junge Freiherr seinen Groll überwunden zu haben schien, vor wie nach in dem Hause seiner Verwandten einkehrte und seine Bewerbungen immer augenfälliger wurden, fand sich bald genug die Gelegenheit, eine Unterredung wieder aufzunehmen, deren vertraulicher Charakter dem Verhältnisse zwischen Vater und Tochter bisher fremd gewesen war.

Die Dämmerung brach an einem Nachmittage herein, früher noch als sonst in der Mitte November, denn ein dichter Nebel breitete sich über die Gegend. Die Schwärme der Krähen und Sperlinge flatterten zum letzten Male in die Höhe, bevor sie sich zur Nachtruhe in den entlaubten knorrigen Baumästen des Hofes niederließen; Luitgard legte ihr Weißzeug aus der Hand, ihr Vater rollte ein altes Pergament zusammen, in dem er eifrig gelesen hatte. Er arbeitete an einer Geschichte der Bisthümer seiner Provinz, und sein Neffe Thassilo war es, der ihm auch diese werthvolle Handschrift verschafft hatte. Jetzt erhob er sich und ging einige Male unruhig im Zimmer auf und nieder; seine Tochter bemerkte eine scharfgezeichnete Röthe auf seinen sonst so bleichen Wangen und einen eigentümlichen Glanz in den eingesunkenen Augen.

»Wie tief mag er sich in seine verschüttete Welt verloren haben!« dachte sie traurig, seine Bewegungen beobachtend.

»Thassilo hat mich um eine Unterredung gebeten,« begann er nach langer Pause, – »ich erwarte ihn heute Abend. Du kennst die Frage, welche auf seinen Lippen schwebt, was hast Du mir auf dieselbe zu sagen, Luitgard?«

»Suche der Frage vorzubeugen, mein lieber Vater,« erwiederte sie hastig und leise, aber bei den Worten erbleichend, denn sie wußte, daß sie des alten Mannes letzte Erdenhoffnung mit denselben vernichtete; »suche ihr vorzubeugen, damit eine unvermeidliche Antwort Dich nicht Deines einzigen Freundes beraube.«

Der Freiherr stand einen Augenblick starr wie im Boden gewurzelt; nach einer kurzen Stille aber fragte er mit bebender Stimme mühsam gefaßt:

»Weißt Du, Luitgard, welches Schicksal Du mit solcher Gelassenheit von Dir weisest?«

Sie neigte langsam bejahend den Kopf; der Vater fuhr fort:

»Nicht von mir sei die Rede, ich bin zu Ende mit den Forderungen des Lebens; ja nicht einmal von Dir, der Armen, Schutzlosen, Heimathlosen; aber von dem Segen eines ganzen, zukünftigen Geschlechtes, in dessen, edlem Namen der unsere sich verlieren durfte, um ungetrübt darin fortzuleben.«

»Und einige Jahre früher oder später doch im Meere des Vergessens zu verrauschen,« entgegnete Luitgard sanft; »sollte dieses Traumbild letzten Glanzes dem Opfer eines wirklichen Lebens entsprechend sein, mein Vater?«

Sie wollte seine Hand ergreifen, aber er machte eine abwehrende Bewegung. »Vater,« fuhr sie lebhafter fort, »glaube mir, ich bin nicht leichtsinnig gewesen, Dir eine große Hoffnung zu vernichten, eine Hoffnung, die ich mich längere Zeit gemüht, ja fast gewöhnt hatte, selber zu theilen und zu nähren. Glaube mir, Vater, ich kann nicht anders.«

»Du kannst nicht, Luitgard?« versetzte Herr von Saldeck, »kannst nicht ein Leben fortsetzen in der Bahn, in welcher Du seit Deiner Geburt gewandelt bist; aber in Glanz und Fülle fortsetzen, statt in Entbehrung und Einsamkeit; aber in Hoffnung und Liebe für ein kommendes Geschlecht, statt in todter Treue für ein vergehendes? Sage mir nicht, daß jenes zu schwer sei, wo dieses Dir leicht schien.«

»Es ist unmöglich, Vater,« sprach Luitgard mit gesenkten Augen und fast unhörbar.

»Willst auch Du mich überreden,« rief der Domherr, mit hastigen Schritten auf und niedergehend, »daß es andere Pflichten gebe für das Morgen, als es für das Gestern gegeben hat?«

»Pflichten und Rechte, ja, mein Vater.«

»Ist Dir Thassilo zuwider?«

»Er ist mir fremd geblieben, trotz langer Gewöhnung; er würde nicht in mir finden, was er sucht.«

»Luitgard!« rief der Vater, vor ihr stehen bleibend und ihr scharf in die Augen blickend, »Luitgard, Du liebst einen Anderen?«

»Ich zweifele,« antwortete sie ruhiger als zuvor, »ich zweifele, lieber Vater, daß ich Thassilo hätte angehören können, auch wenn ich Georg nicht kennen lernte; jetzt, da ich ihn kenne, weiß ich, daß ich's nicht darf. Vergieb mir, Vater, und vertraue mir. Zwischen mir und Georg ist kein Schatten eines Verhältnisses, der Deine Gesinnungen kränken könnte. Ich habe ihm gezeigt, daß wir Verwandte sind, nichts weiter. Findest Du das ein Unrecht, werde ich ihn nicht wiedersehen. Nie soll sein Anblick, nie seine Erwähnung Dir eine schmerzliche Erinnerung wecken. Thassilo wird in mir eine theilnehmende und dankbare Verwandtin behalten. Lenke das entscheidende Wort von seinen Lippen und aus seinen Gedanken – ich glaube nicht, daß es tief in seinem Herzen wurzelt – und alles bleibt im gewohnten Gleise wie bisher.«

Sie hatte rasch und leise gesprochen, mit bebender Stimme und hochgerötheten Wangen. Der Ton war ein fremder zwischen Vater und Kind; aber es schien, als ob ein ihrer Bewegung verwandter Strom aus ihrer Seele in die seine zöge, seine Hand zitterte in der ihren.

»Ich habe keine Macht über Dich,« sagte er, »denn ich vermochte es nicht, Dich in sicherer, heimischer Sphäre festzuhalten, Bildung und Schicksal des einzigen Kindes den Schwankungen des Tages zu entziehen. Ich habe Dir nicht Vater, nicht Führer sein können, Luitgard, ich darf nicht Dein Herr sein. Kein größeres Unglück, meine Tochter, als an der Grenze zweier Welten geboren werden. Ausgestoßen aus der einen, ein Fremdling in der andern. Wie unser Leben sich gestaltet hat – vielleicht wäre ich heute ein glücklicher Mann, wenn ich die Hand meines einzigen Kindes in die des einzigen Trägers meines Namens legen dürfte. Vielleicht – ich weiß es nicht. Aber, so weit müssen wir uns ja wohl noch verstehen, Luitgard, daß Du begreifst: heute kann ich es nicht. Kann mein und Dein Schicksal unmöglich – unmöglicher als an dem eines Feindes – ausrichten an dem Schicksale Eines, dessen Blut ich verleugnet, den ich aus seinem Erbe vertrieben habe.«

Es war das erste Mal, daß der Freiherr diese Erinnerung gegen seine Tochter laut werden ließ; sie fühlte die Schwere dieses Bekenntnisses und erwiederte tiefbewegt:

»Ich fühle es, ich weiß es, mein Vater. Und darum noch einmal, verzeihe mir und vertraue mir. – Da kommt Thassilo!«

Sie hörten den Hufschlag eines Pferdes vor der Pforte; der alte Diener ging zu öffnen und das Pferd zu versorgen. Es war völlig dunkel geworden. Luitgard zündete Licht.

»Laß uns allein!« sagte der Domherr.

Unter der Thür trat ihr Thassilo entgegen. Sie verbeugte sich schweigend gegen ihn und stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, setzte sich an das Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Der dichte Nebel verhüllte Mond und Sternenlicht. Kein Laut, kein Hauch störte das stille Dunkel. Das junge Mädchen fühlte eine bange, eine große Entscheidung von ihrer Seele gewälzt; eine Entscheidung, auf welche ihr Gewissen vielleicht größeren Einfluß geübt hatte als ihr Herz. Mochten ihre Folgen sein, welche sie wollten, was weiterhin lag in der Ferne, Hoffnung und Kummer, es ruhte ihr in Gottes Hand. So saß sie lange in stummen Träumereien, bis sie die Thür unter sich öffnen und Thassilo's Pferd vorführen hörte. Er ging mit hastigen Schritten über den Hof und sprengte davon.

Luitgard fand ihren Vater schon wieder bei seinem Hefte; aber sie sah, daß er darüber hinwegblickte und in andere Gedanken verloren war. Sie setzte sich ihm schweigend mit ihrer Arbeit gegenüber. Nach einer Weile sagte er:

»Ich habe Deinen Willen gethan, Luitgard; Thassilo weiß, daß wir diese Gegend für einige Zeit verlassen werden und hat meine Absicht verstanden.«

Die Tochter blickte ihn mit stummer Verwunderung an.

»Ich war auf diese Wendung Deines Schicksals nicht vorbereitet, Luitgard,« fuhr er fort, »ich hatte mich an die Hoffnung gewöhnt, in lange vorbereiteter, edler Ordnung es sich entwickeln zu sehen. Jetzt wird es meine Pflicht, an Deine Zukunft nach meinem Tode zu denken.«

»O entferne diesen Gedanken, Vater!« rief Luitgard.

»Er liegt mir sehr nahe,« versetzte der Freiherr ruhig, »ein rasches Sterben ist in meiner Familie fast erblich und ich bin älter, als je einer meiner Vorfahren geworden ist. Ich habe also Eile, zu thun, was zu thun noch bleibt. Der Rest meines Vermögens reicht nicht hin, Dich Deinem Stande gemäß zu versorgen.«

»Gott halte die Stunde fern, von der Du sprichst, mein theurer Vater,« unterbrach ihn Luitgard, seine Hand ergreifend, »wenn sie aber über mich verhängt sein sollte, so siehe ihr ruhig entgegen, mit Vertrauen in meinen Muth und in meine Kraft, auch wenn ich Dich nicht mehr schützend zur Seite haben werde.«

»Meinst Du, daß mein einziges Kind, die letzte der Saldeck, in Abhängigkeit oder wohl gar von ihrer Hände Arbeit leben soll, – oder was willst Du damit sagen, Luitgard?« fragte der Domherr in einer Aufregung, die sie kaum an ihm gekannt; eine bläuliche Röthe überzog sein Gesicht, sie sah, daß er kein Wort weiter vertrug und blickte schweigend vor sich nieder.

»Ich werde Schritte thun,« fuhr er, nachdem er sich wieder gesammelt hatte, fort, »um Dir eine Stiftsstelle vorzubereiten, auf welche unsere Familie die wohlgegründetsten Ansprüche hat. Mag Dein Schicksal sich dann entscheiden wie es wolle, Du siehst ihm aus einer anständig gesicherten Stellung entgegen. Für diesen Winter nehme ich für Dich und mich die Einladung unserer Cousine Hefelingen nach ihrem Gute an. Sie lebt in großen Verhältnissen und Du wirst in ihrer Nähe die Seite des Lebens und der Welt kennen lernen, welche Dir leider bis jetzt verborgen bleiben mußte, so sehr verborgen, daß Du sie gleichgültig von Dir weisest, wo sie sich Dir in nächster Richtung geboten hätte. Ich bitte Dich also, unsere Abreise so bald als möglich vorzubereiten.«

Er entließ sie nach diesen Worten und Luitgard verbrachte eine schlaflose Nacht unter beklemmenden Gedanken und schwankenden, unsicheren Vorstellungen.

An demselben Abend befand sich Georg in einer kleinen Gesellschaft, zu welcher ihn die Frau Präsidentin mit einer Einladung beehrt hatte. Die älteren Herren zogen sich an den L'hombretisch zurück, und Georg blieb als einziger Ritter in dem Kreise der Damen.

»Herr von Bodeninnen scheint unsere Einladung zu verschmähen,« sagte die Hausfrau, »nicht einmal Antwort hat er sagen lassen.«

»Man muß sich an derlei Licenzen bei Herrn von Bodeninnen schon gewöhnen,« fiel die Frau Vicepräsidentin ein; »ohne Zweifel ist er bei seiner Braut, meine Rosa hat ihn heute Nachmittag schon wieder auf dem Wege nach der geheimnißvollen Schönen reiten sehen, und erst gestern ist er von dort zurückgekommen. Die Verlobung soll eine feststehende Sache sein.«

»Das ist sie,« versicherte die Frau Geheimräthin Rindfleisch, »mein Mädchen ist ihm heute Morgen in der Thür der Druckerei begegnet, in welcher er die Karten bestellt hat.«

»Ich kann es nicht glauben,« fiel die Frau Landesstallmeister von Weichentheil ein, »es wäre eine unerhörte Partie, ein Cavalier, dem die ersten Häuser des Landes offen stehen und ein bäurisch erzogenes Mädchen, das kein Mensch kennt. Verzeihen Sie, mein lieber Herr von Saldeck,« setzte sie, sich besinnend, zu unserem Freunde gewendet hinzu, »aber wenn Ihre Fräulein Cousine alle Tugenden eines Engels besäße, so werden Sie mir zugeben, daß sie Conduite nicht in einem Pächterhause gelernt haben kann, in welchem sie niemals mit einer Dame von Welt zusammengekommen ist. Woher sollte sie den Takt geschöpft haben, mit welchem einem großen Hause vorgestanden werden muß?«

»Vielleicht in dem Bewußtsein der Bildung, welche gewissen Naturen nicht angelernt zu werden braucht,« antwortete Georg stolz und mit künstlicher Ruhe, aber in unaussprechlicher Aufregung. Er hatte seine Freundin seit jener Begegnung am Fährhause nicht wiedergesehen; Herrn von Bodeninnens doppelt höhnischer Blick seit dieser Begegnung, die immer dringender sich verbreitenden Verlobungsgerüchte, beunruhigten ihn Tag und Nacht.

»Sie kommen gegen diesen Ritter nicht auf, gnädige Frau!« fiel eine andere Dame lächelnd ein.

»Aber, sagen Sie, lieber Saldeck,« nahm jetzt die Dame vom Hause das Wort, sicher in ihrer unangreifbaren Stellung als kinderlose Gemahlin des ersten Präsidenten, »wenn das mysteriöse Fräulein, Ihre Verwandtin, wirklich alle die bedeutenden Eigenschaften besitzt, die ihre Verehrer ihr zusprechen, wie ist es dann möglich, daß sie sich entschließen kann, diesem Don Quixote, nein, nennen wir das Kind bei seinem rechten Namen, diesen hochmütigen Narren von Bodeninnen nur um seines Reichthums willen ihre Hand zuzusagen?«

»Wenn Fräulein von Saldeck, ihre Hand wirklich ihrem Vetter voll Bodeninnen zugesagt haben sollte,« entgegnete Georg mit äußerster Anstrengung, seine Aufregung zu verbergen, »so wäre das ein Beweis, daß neben seinen äußeren Vorzügen der Werth dieses hochmütigen Narren von Bodeninnen – –«

Der Bediente öffnete in diesem Augenblicke die Flügelthür und meldete mit lauter Stimme: »Freiherr von Bodeninnen!«

Allsobald erhoben sich sämmtliche Damen und verneigten sich tief gegen den Eintretenden, der seine Verspätung kurz entschuldigte.

»Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt!« sagte die Hausfrau, ihr geistreiches Impromptu belächelnd und auf einen Platz an ihrer Seite deutend. Sämmtliche Damen fühlten sich in angenehmer Erregung; Georg aber konnte keine Ruhe mehr finden, er empfahl sich unter einem gleichgültigen Vorwande und ging nach Hause.

Herr von Bodeninnen dankte für die Karte, welche der Präsident ihm überlassen wollte, er zog es vor – ein nie dagewesener Fall! – an dem Theetische der Damen zu verweilen; er sprach viel und, wie sämmtliche Damen bewunderten, mit Geist und Galanterie.

Selber Frau von Weichentheil gestand später, daß sie ihren Protegé niemals so liebenswürdig gesehen, und als er ihr beim Nachhausegehen mit ritterlicher Courtoisie seinen Arm anbot, hätte sie bedauern mögen, nicht vierzig Jahre jünger zu sein.

Frau von Weichentheil befand sich seit einiger Zeit in der nicht standesgemäßen Situation, den Heimweg aus ihren abendlichen Cirkeln zu Fuße zurückzulegen. Nicht, daß sie sich früherhin den Luxus eigner Equipage gestattet hätte, aber doch den einer Sänfte. Das vergoldete Gehäuse, noch das einzige seiner Art in unserer Stadt, hatte seinen Platz im unteren Flur ihres Hauses und schon mancher plebeje Neuling war bei seinem Anblick erschrocken wieder umgekehrt, in der Meinung, er träte in ein Krankenhaus. Nun, dieser Rest eines löblichen Instituts vergangener Tage, würde gewiß nicht aufgehört haben die ehrwürdige Dame bis zu ihrem Ende vor der Abendluft und gemeinen Straßenberührungen zu bewahren, hätte sich nicht unerwartet die eigentümliche Schwierigkeit herausgestellt, einen zweiten, zuverlässigen Träger neben dem alten Bedienten gegen nicht unbillige Ansprüche aufzufinden. Der Nachtwächter des Reviers verstand sich endlich zu dem Dienst, unter der Bedingung, daß die Heimholung pünktlich vor dem stündlichen Absingen geschehen müsse. Vor kurzem hatte sich nun aber der Fall ereignet, daß die Dame sich bei ihrem Rubber verspätete und die verhängnißvolle Stunde schlug, noch ehe man halben Wegs das Weichentheil'sche Domicil erreicht. Der Nachtwächter war ein Mann von Gewissen, der zwischen Pflichten zu unterscheiden wußte. Entschlossen setzte er beim ersten Glockenschlage das inhaltreiche Gefäß an einer Straßenecke zu Boden und tutete in seinem Sprengel die Stunde ab, um, nachdem er seiner Beamtenpflicht gegen die Gemeinde genug gethan hatte, mit großer Unbefangenheit zurückzukehren und seinen privatmännischen Verbindlichkeiten gerecht zu werden. Aber welche Feder beschreibt die Qualen der edlen Dame in dieser endlosen halben Stunde. Auf der Straße ein Novemberkoth, dem kein seidener Damenschuh ohne Lebensgefahr für seine Eignerin zu trotzen wagen konnte; am Himmel Vollmond, der das Unheil mit Tageshelle veröffentlichte; dazu Bürgerstunde, alle Bierstuben entleerend. Wochenlang sah die unglückliche Wittwe noch das neugierige Gedränge um ihre eingekerkerte Person, hörte das unverschämte Lachen, den Spottnamen »alte Schachtel,« den sie natürlich auf ihr Vehikel bezog, unheimlich in ihre Ohren klingen. Ein Glück, daß ihre Gesundheit nicht wie ihr Gemüth durch das nächtliche Abenteuer gelitten hatte! Aber sie traute von jetzt ab keinem Nachtwächter mehr, sondern ging Abends zu Fuße hinter ihres alten Johann standesmäßig vierlichteriger Laterne; und so mögen wir ermessen, wie traulich wohl, wie behaglich mittheilsam ihr heute zu Muthe war am Arme eines Ritters, furcht- und tadellos wie Thassilo von Bodeninnen!

Wir haben uns diesen abschweifenden Rückblick gestattet, weil er geeignet sein konnte, einen uns unerklärt gebliebenen Zusammenhang in unserer Erzählung aufzuhellen, verwahren uns aber dagegen, diesen Pragmatismus vertreten zu müssen und kehren zu unserem eigentlichen Helden zurück.

Georg verbrachte eine ruhelose Nacht. Luitgard eines Anderen! Konnte es sein? Und warum nicht sein? Hatte sie ihm jemals ein wärmeres Gefühl gezeigt als das des unbefangensten, schwesterlichen Vertrauens? Welch eine Thorheit, wenn er in der Stille und halb unbewußt Hoffnungen gehegt, Wünsche genährt, die Kluft übersehen hatte, welche ihn unübersteiglich von der Geliebten trennte, wenn er es unberücksichtigt gelassen, daß jener Andere ihr ein glänzendes, mit ihrer Erziehung, mit der traditionellen Richtung ihres Lebenskreises in Einklang stehendes Schicksal anzubieten vermochte. Hatte sie jemals andere, als anerkennende Aeußerungen über ihren Verwandten gegen ihn laut werden lassen, nicht noch vor kurzem die Voraussetzung einer edlen Natur in ihm erwähnt? So schmerzlich er durch den drohenden Verlust bewegt war, Georg fühlte die Unwürdigkeit, diesen Abend in einer Wallung von Unmuth und Neid, sich, wenn auch nicht zu einer absichtlichen Lästerung, doch zum beifälligen Anhören, zur indirecten Teilnahme einer solchen hinreißen zu lassen gegen einen Mann, den er so wenig kannte und welchem sein nächstes und teuerstes Wesen sich anzuschließen im Begriffe stand. Er sann hin und her, seine Uebereilung durch ein offenes Bekenntniß wieder gut zu machen, und fiel endlich unter den widerstrebenden Bildern und Empfindungen, in einen kurzen, unruhigen Morgenschlummer. Noch lag er zu Bett, als der Aufwärter ihm ein Billet brachte, welches der Freiherr von Bodeninnen in aller Frühe bei ihm hatte abgeben lassen.

Unser Freund ahnte den Inhalt. Wir leugnen es nicht, mit Zittern erbrach er das Blatt und las die folgenden Worte:

»Der Freiherr Thassilo von Bodeninnen ist nicht gewohnt, noch gesonnen, die Beweisführung seines Werthes einem Anderen zu überlassen; am wenigsten einer Frau, wie hoch er dieselbe halten möge. Er vertritt sich selbst und erwartet von dem Auscultator, Herrn Georg Saldeck, die Bestimmungen, unter welchen ihm eine solche Beweisführung nach Männerart angemessen ist.«

Hier stand nun Georg zum ersten Male vor einem jener Conflicte, wie sie die Wirklichkeit dem Idealisten unvermeidlich bieten wird. Wie oft hatte er sich und Anderen das Duell als einen Mord definirt, dessen barbarischer Sitte der wahre Ehrenmann widerstehen müsse. Ja, hatte er seinem Gegner nicht vor kurzem herausfordernd dieselbe Erklärung gegeben? Und nun bei der ersten Versuchung zu weichen, seine Ueberzeugungen dem Herkommen zu opfern, in seiner Freunde, seines Gegners, seinen eignen Augen ein Prahler zu sein! Auf der andern Seite war Herr von Bodeninnen der von ihm Beleidigte, er ihm eine Genugthuung schuldig; schwerlich würde eine Entschuldigung ihn zufrieden stellen; was war hier Recht, was Frevel?

In diesem Zwiespalt mußte er es als eine glückliche Fügung ansehen, daß unerwartet der Major in sein Zimmer trat; durch Zufall in der Stadt anwesend und von seinem Neffen mit Leitung der Angelegenheit betraut, kam er, dessen Forderung zu wiederholen, zeigte sich aber einer friedlichen Beilegung von Herzen geneigt und versprach, allen seinen Einfluß zur Anbahnung einer solchen aufzubieten. Georg gab eine schriftliche Erklärung, welche dem Major genugthuend schien und dieser entfernte sich, in der Hoffnung einem verdrießlichen Handel vorgebeugt zu haben.

Georg aber blieb unruhig und verstimmt gegen sich selbst. Er sah, wie wenig der Mensch auf sich bauen könne, und er wußte doch, wie sicher Einer in sich selber gegründet sein muß, der sich irgend eine, der Richtung seiner Zeit und Lebensgenossen zuwiderlaufende Bahn vorgezeichnet hat. Er fühlte sich beschämt, konnte nicht arbeiten, nahm seinen Hut und ging ins Freie.

Es war über Nacht Winter geworden, ein weißer Schleier über die Gegend gehaucht; der gestrige Nebel zitterte an Zweigen und Halmen in glänzenden Krystallen; die Sonne kämpfte sich mühsam durch einen silbernen Nebelduft. Keine Jahreszeit, auch nicht der Frühling, hat Stunden von so märchenhafter Schönheit wie diese; tiefe Stille und Einsamkeit stimmten zu dem Zauber der Landschaft; unser Freund empfand ihn und seine Seele wurde nach und nach ruhiger.

Er ging rasch, die frische Morgenluft kühlte seine fieberhafte Stirn, seine Vorstellungen klärten sich. Er gelobte sich, allen Vorurtheilen zum Trotz, auf dem Wege reiner, menschlicher Wahrheit auszuharren. – Er hatte sich nicht unbefangen genug gefühlt, heute Luitgarden aufzusuchen, aber unwillkürlich nahm er den gewohnten Weg nach der Ruine, führten seine Schritte ihn weiter und weiter. Schwankend, mißmuthig wie er ausgegangen war, ging er jetzt mit stolzer, fast freudiger Haltung und wie bewegt mußte er sich fühlen, als er jetzt am jenseitigen Ufer in der Nähe des Fährhauses die geliebte Gestalt Luitgardens erkannte. Der Kahn trug ihn zu ihr hinüber, er fand kaum ein Wort der Begrüßung. Aber auch sie schien ihm bewegter, weicher, hingebender denn je. War es sein eigenes Zittern, oder das ihre, das er empfand, als sie wie gewohnt den Arm vertraulich in den seinen legte?

»Ich bin in der Hoffnung ausgegangen, Dir zu begegnen, lieber Georg,« sagte sie herzlich; »ich vermuthete, daß Du kommen würdest mir Lebewohl zu sagen.«

»Lebewohl?« stammelte Georg tödtlich und erbleichend.

»Hast Du meinen Brief nicht erhalten?« fragte sie ihm

»Nein,« antwortete er fast tonlos.

Sie theilte ihm den Plan ihres Vaters mit, den Winter mit ihr bei einer verwandten Familie auf dem Lande zuzubringen, und fügte mit einem Anfluge von Verlegenheit die Bitte hinzu, während dieser Zeit den Briefwechsel mit ihr zu unterbrechen. Als sie diese peinliche Eröffnung vollendet, sah sie mit sanftbittendem Blick auf ihren Begleiter, der ihren Arm mit rascher Bewegung hatte fallen lassen; er stand am Boden wie eingewurzelt, ein tiefer Schmerz malte sich in seinen Zügen.

»Also doch!« murmelte er vor sich hin.

»Was hast Du, Georg?« fragte Luitgard, den Grund seiner Bestürzung ahnend. »Nichts ist in Deinem und meinem Verhältniß geändert. Niemand ist zwischen uns getreten, auch nicht mein Vater; Niemand wird zwischen uns treten, mein Freund!«

Sie gab ihm das Leben wieder; ihre Worte durchschauerten ihn wonnevoll; seine Augen füllten sich mit Thränen, in stummem Danke zog er ihre Hand an sein Herz.

»Meine Zeit ist gemessen, Georg,« sagte Luitgard, »lebewohl, bis wir uns wiedersehen!«

Sie winkte mit der Hand und er entfernte sich. Sie blickte ihm nach, bis er am jenseitigen Ufer gelandet war. »Er ist gut,« sagte sie leise zu sich selbst, »ja, er ist gut und Gott hat ihn mir gegeben!« Dann wendete sie sich langsam ihrem Hause zu.

Georg aber war wie beschwingt, er glaubte sich der Erde enthoben. »Niemand wird zwischen uns treten,« hieß das nicht: ich liebe keinen Anderen? Hieß es nicht auch, ich liebe dich, Georg?

Die Sonne hatte sich wieder in ihren grauen Novemberschleier gehüllt und der Tag begann sich zu neigen, als der junge Mann in der Nähe der Stadt ankam. Er schritt längs der Umhegung eines öffentlichen Gartens, in dessen Restauration die vornehmste Gasttafel der Stadt gehalten wurde. In der Nähe des Einganges weckte ihn der Klang einer aufgeregten Stimme auf das unangenehmste aus seinen beglückenden Träumen; er fühlte wie einen Stich in seiner Brust und war schon im Begriffe umzukehren und der fatalen Begegnung aus dem Wege zu gehen, als die beiden Herren von Bodeninnen dicht vor ihm aus dem Gitterthore traten. Thassilo, gegen seine Gewohnheit vom Trinken erhitzt und in lebhafter Erregung, erblickt seinen Gegner, seinen Nebenbuhler und Beleidiger auf dem Wege, der ihm selber durch des Unwürdigen Dazwischentreten versperrt ist, er ahnt, daß er von dem Mädchen kommt, welches ihn um Jenes willen verschmäht hat; eine unsägliche Mischung von Wuth und Hohn überfällt ihn, er stürzt auf Georg zu und, die Reitpeitsche gegen ihn schwingend, ruft er:

»Das gebührt einem Menschen, der einen Edelmann beleidigen, und ihm keine Genugthuung geben will!«

Der Schlag fällt nieder auf des Unglücklichen Schulter, ein untilgbares Brandmal! In wahnsinniger Leidenschaft packt Georg seinen Feind bei der Schulter, wirft ihn zu Boden, reißt die Gerte aus seiner Hand und ist im Begriffe sie gegen ihn zu gebrauchen, als der Major ihm in den Arm fällt und die Ringenden auseinander zieht. Er drängt den Neffen in das geöffnete Thor, schließt es, mit der Hand den Drücker festhaltend, und ruft dem nachstürzenden Georg abwehrend zu:

»Ruhig, mein Freund! Es war der Streich eines Wahnwitzigem Morgen früh bin ich bei Ihnen!« Damit folgt er dem Neffen in den Garten zurück; Georg aber taumelt der Stadt entgegen. War er nicht selber ein Wahnwitziger? Lebte er? Hatte er geträumt? Mehrmals stürzte er zurück, dem Unseligen nach; das Thor war verschlossen. Da lag es am Boden, das Werkzeug der Schmach. Er bückte sich, starrte es an, hob es auf. Dieses geringe Geflecht von Holz und Leder, es war im Stande gewesen, einen Menschen zu vernichten, in einem Augenblicke aus dem Glücklichsten den Elendesten zu machen. Schaudernd schleuderte er es von sich in eine Lache, welche der Regen gebildet hatte und schwankte vorwärts. Er schlug einen Seitenweg ein, daß ihm Keiner begegne; es sollte dunkel werden, daß ihn Niemand erkenne. Leise schlich er in sein Haus, die Treppe hinauf, scheu blickte er um sich, ob ihn Einer bemerke. Er athmete auf, als er sah, daß die Acten von dem Boten gebracht, die Vorbereitungen zur Nacht von dem Aufwärter getroffen waren. Er zog den Riegel vor die Thür und zündete Licht; aber schnell löschte er es wieder aus; die Schande brannte heller beim Scheine der Lampe. Er ging im dunkeln Zimmer auf und nieder; sein Kopf glühte, er konnte keinen Gedanken fasten und halten. Die Nacht währte eine Ewigkeit; er verlangte nur Tag, nur Rache, nur Blut! Ja Blut, Blut, das wusch ihn rein! Er sah es heranwälzen in rothen Strömen; sie drangen immer näher und näher, sie drangen ihm über das Herz, über den Kopf, sie drohten ihn zu ersticken; er riß das Fenster auf, seine Brust zu befreien. Aus den gegenüberliegenden Scheiben blickten tausend flammende Augen höhnisch zu ihm herüber, er konnte sie nicht ertragen, schloß die Fenster, schloß die Gardinen; die Gluth im Zimmer tödtete ihn, er riß sie wieder auf; die leuchtenden Augen gegenüber schlossen sich eines nach dem andern; nun nur noch wenige, nur noch das letzte; das letzte aber das brannte, das bohrte – heiliger Gott, es war des Freiherrn, seines Oheims, nein – nein, es war Luitgardens Auge!

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