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Die Nacht scheucht Sorgen; aber sie scheucht auch Wonnen und lockende Luftgebilde. Haben wir uns zur Ruhe gelegt mit wallendem Blut, in kühn über alle Schranken hebendem Rausch, so erwachen wir mit gelassenem Puls und nüchternem Blick; selber die Leidenschaft flüchtet vor dem Tageslicht und Tagewerk.
Die Freunde machten diese Alltagserfahrung, als sie am Morgen die Augen aufschlugen. Staubwölkchen wirbelten im scharfen Sonnenstrahl; vom Hofe herauf drang das Klappern der Drescher, das Wiehern der Pferde; von der Mühle das Rasseln der Räder; Hühner gackerten, Pflugscharen holperten über das Pflaster, hotte und hü, guten Tag und guten Weg!
Der Frühstückstisch stand im Nebenzimmer schon gedeckt; sie setzten sich schweigend; Beiden schien es nicht leicht, von der abendlichen Erregung seinen Uebergang zu finden. Stern war der erste, sich zu fassen. »Heinrich,« sagte er entschlossen, »ich gehe heute früh nach der Anstalt.«
»Bist Du bei Troste, Freund?« versetzte Heinrich, mit einem Versuche zu lachen.
»Rede mir nicht drein, Freund, ich bleibe nicht, ich kann nicht bleiben.«
»Ein paar Tage doch noch, Conrad.«
»Keinen Tag, keine Stunde, Heinrich.«
»Heute wenigstens, mir zu Liebe, Freund.«
»Ich darf nicht; ich darf Deine Schwester nicht wiedersehn.«
Heinrich stand auf, trat an's Fenster und simulirte ein Weilchen, dann sagte er: »Ich hatte mich so auf die Ueberraschung in der Heimath gefreut. Nun muß ich dem Trotzkopf zu Gefallen gar ein Dienstgeheimniß brechen. Du bist zum Hauptmann vorgeschlagen, die Bestätigung darf jede Stunde erwartet werden; denkst Du noch in die Anstalt zu flüchten, Conrad?«
»Theurer, unvergleichlicher Freund!« rief Stern, Thränen im Auge, indem er des Anderen Hände preßte. Der aber entgegnete lachend:
»Die Freundschaft ragt höher hinauf, Kamerad. Lerne unsere Generalsweisheit schätzen, Janitscharen-Sohn!«
Es klopfte an der Thür. »Du bleibst?« fragte Heinrich noch einmal rasch.
»Bis morgen denn,« lautete der Bescheid.
Stephan Hellstädt trat ein, um wie gestern verabredet worden war, seinen Verwandten zu einer Ueberschau des einstigen Erbes abzuholen. Herrn von Stern bat er, im neuen Hause ihre Rückkehr zu erwarten. Mühmchen Therese sei bereits darin vorgesprochen. Es werde ihr nicht geheuer in der Mühle, habe sie gesagt. Rose sei fort, die Tante unsichtbar, Liberte, übernächtig, habe von Spazierenreiten gesprochen; da wolle die Kleine denn derweilen der Charitas Garten und Hühnerhof in Augenschein nehmen und werde seine Tochter sich freuen, auch vor ihm mit ihrer Privatdomaine Parade zu machen.
Stern versprach seinen Besuch; die Vettern traten ihren Flurgang an. Schritt für Schritt mit wachsendem Interesse schaute und horchte der jüngere auf die Entwickelung der Cultur in einem heimischen Winkel: welcher Art sie gewesen, in mehr als dreißig Jahren geworden und zu werden verhieß. Als sie sich der südlichen Gränze näherten, über welche Heinrich gestern zuerst sein einstiges Gebiet wieder betreten hatte, sagte er: »Jeder Eindruck, den ich seit vierundzwanzig Stunden im Bereich Deiner Wirksamkeit, lieber Oheim, empfangen habe, predigt mir Dank und wieder Dank für die treueste Mühwaltung und habe ich mich vordem nur gedankenlos mit den Anderen verwundert, daß Einer die bequeme Pfründe mit dem saueren Pfluge vertauschte, heute ermesse ich das Opfer und bewundere es.«
»Der Bauer liegt dem Edelmann näher als der Pfarrer,« versetzte Stephan Hellstädt lächelnd. »Unternehme sich nicht Jedermann Lehrer zu sein, desto mehr Urtheil wird er empfangen, so viel hatte ich ungefähr von der theologischen Facultät profitirt. Im Uebrigen: ich that es für Hellstädt.«
»Für Hellstädt, das heißt?« forschte Heinrich.
»Laß Dir von Pathe Klaus beantworten, was es heißt,« sagte Stephan, auf den Alten zuschreitend, der wie gestern auf seiner Schwelle saß, den kleinen gelben Dachs und die Heerde des Bauernvogels um sich herum.
»Warum heißt er allgemein der Pathe?« fragte Heinrich.
»Einfach, weil er's ist, und nichts weiter ist,« entgegnete der Vetter. »Nachbar kann er nicht heißen und Einwohner kaum, draußen in seinem Mühlenstumpf; so gewährt man ihm eine gemüthliche Schrulle, indem man ihn zum Pathen macht. Seit drei Generationen wird, hoch oder gering, kein Hellstädter Kind getauft, bei welchem der alte Gänsehirt nicht zu Gevatter steht. Deinem Vater, Heinrich, hat er es niemals vergeben, daß er ihn trotz seines Ehrenkreuzes als Patron des Erben von Hellstädt verschmähte. Glaube nur, Vetter, es ist etwas Großes, das hinter diesem alten Schafpelz spürt und stört. Er hatte nicht Vater und Mutter mehr, nicht Kind noch Kegel, als er, ein Krüppel, aus den Feldzügen heimkehrte und statt der ererbten Mühle einen Trümmerhaufen wiederfand. So hat er sich eine Familie geschaffen, die sein ganzes heimathliches Dorf umfaßt; jedes Haus ist das seine, das er hegt und nach Kräften beschirmt. Am Tage hütet er unsere Gänse, Nachts uns selber. Gehen wir schlafen für immer, bewacht er uns noch auf unserem letzten Bett. Er hat eine Spürnase für alle ehrlichen Herzen und beißt mit giftigem Zahn auf die Hallunken. Daß aus Hellstädt so selten eine Klage um Meineid oder Betrug vor die Gerichte kommt, daß namentlich so selten ein ›Drücker‹ von der Aus hebungscommission requirirt zu werden braucht, danken wir Pathe Klausens strenger Heimathswacht.«
»Doch wohl eher der des Vetter Stephan,« meinte mit einem Lächeln der junge Mann.
»Nur sehr allmälig und in zweiter Hand mit Pathe Klausen als Mittelsmann,« erklärte Stephan.
»Verhält schon im Allgemeinen der Bauer sich spröde gegen Einflüsse von oben herab, so waren die Gutsherrn von Hellstädt noch besonders seit Generationen als Fremdlinge, oder Dränger verhaßt. Vertrauen und Eintracht mußten erst Schritt für Schritt erobert werden. Der Sohn des alten Windmüllers dahingegen ist gleichsam ihr Fleisch und Blut; sie speisen ihn die Reihe rund von ihrem Tisch und liefern alljährig einen neuen Pathenpelz; mehr bedarf er nicht. Er schläft unter seinem Mühlenstumpf, den er den Hellstädter Wartthurm nennt. Sich selber nennt er den reichen Hellstädt, weil er von keinem Wunsche weiß, den der Umkreis seiner gemüthlichen Domaine nicht überreich befriedigt.«
»Einen Hellstädt nennt er sich?« fragte Heinrich verwundert; »so ist am Ende noch gar ein Restchen Vetterschaft zwischen uns.«
»Wenn nicht dem Gesetze, so doch dem Blute nach allerdings,« antwortete Stephan, »und nicht das einzige, das mit unserem Namen in der Umgegend drischt und Heerden führt. Die Junker von Hellstädt übten ihr Herrenrecht nach der Art. In chursächsischen Landen, deren letzter Zwickel diese Gegend war, rumorte das Blut des starken August fort, fast ein Jahrhundert lang, nachdem es in seinem Stamme ausgegohren hatte. Die Ratten nannte man noch in meiner Jugend diese argen adligen Nagethiere. Ja, ja Vetter, das war die Zucht der Zeit, die man gedankenlos die gute, alte nennt. Gott sei gelobt, daß wir sie hinter uns haben.«
Sie standen vor der Windmühle. Stephan begrüßte den natürlichen Vetter mit einem Handschlag. »Wir sprachen just von Euch, Gevatter;« redete er ihn an, »erzählt dem jungen Mann, zu Nutz und Fromm, was es war, das Euch nach dem Frieden in die zerstörte väterliche Mühle zurücktrieb, da man Euch doch den sicheren Platz im Invalidenhause angetragen hatte. Sagt ihm, was Euch auch späterhin bei Eurer Gänseheerde zurückhielt, als man Euch zum Wächter des Denkmals berief, auf dem Platze, wo Ihr Eure Gliedmaßen für Euer Ehrenkreuz eingetauscht hattet?«
»Nur zu, nur zu!« fiel Heinrich ermunternd ein. »Ich freue mich auf die Erzählung Eurer Heldenthaten, Pathe Klaus.«
Der Alte war aber nicht mittheilsamer Laune; er schüttelte mürrisch den Kopf und sagte gedehnt: »Pathe? ein Pathe, der?«
»Was kann er dafür, daß er's nicht ist, Gevatter?« begütigte Stephan. »Er ist ein Hellstädter Kind!«
»Was that er dazu, daß er es ist?« spottete Klaus dagegen.
»Ich bin Euer Waffenbruder, Kamerad,« sagte Heinrich.
»Ein Waffenbruder? Nicht Fisch noch Vogel seid Ihr, junger Herr Baron.«
Heinrich lachte unbeleidigt. Er klopfte dem Veteranen auf die Schulter und sagte: »Es ist noch nicht aller Tage Abend, Alter. Bis ich mir aber wie Ihr ein Ehrenkreuz verdienen darf, nehmt mich auf in Eueren Pathenschutz und tauft mich um zum Hellstädter Kind.«
»Ja Mühlenwasser etwa?« brummte der Gänsehirt mit einem hämischen Blick und kehrte seinen Besuchern den Rücken.
Heinrich war roth geworden. »Ein grober Gesell,« sagte er verdrießlich im Weitergehen.
»Ein grober Gesell allerdings,« versetzte Stephan ernst; »zäh im Hassen und Lieben wie alle Bauern. Eben darum aber Einer, der da weiß, was es heißt, eine Heimath haben. Er war der Einzige von uns, der freiwillig gegen die Franzosen gefochten hat und zwar zu einer Zeit, wo unsere Landsleute noch in der Franzosen Reihen standen. Wie er sich gehalten, davon trägt er sein Kreuz nicht blos auf der Brust. Als aber das Vaterland erlöst war, zog es den Freiwilligen heim. Der Deutsche ist von Natur nicht Soldat, nicht aus Lust, um Ruhm und Glanz; kein Landsknecht mehr, kein Prätorianer oder Janitschar. Er kämpft für seine Art und für seinen Heerd; er will einen engen Kreis haben, vom weiteren beschützt und ihn wiederum schützend; einen Grundstein, der unmittelbar nur wenige Steine berührt, aber mittelbar, das ganze Gebäude stützt.«
Heinrich fühlte das Absichtliche dieser Rede heraus und mochte es ihm einen kleinen Kampf kosten, nicht verstimmt durch dieselbe zu werden. Er hob daher ablenkend nach einer Pause an: »Sage man noch, daß die Originale in unserer Zeit auf die Neige gehen. Auf meinen heimischen Winkel will ich weisen, auf Pathe Klaus und Vetter Stephan, wenn –«
»Schlimm genug,« unterbrach ihn Stephan Hellstädt, »schlimm genug, wenn die vernünftigen Menschen in Deiner Zeit und Welt, junger Mann, Originale, das heißt in Deinem Sinne, doch wohl Curiositäten geworden sein sollten. Ich für mein Theil zum Wenigsten beanspruche nicht mehr und nicht minder, als ein vernünftiger Mensch zu sein, will sagen, Einer, der das Nächstliegende begreift, angreift und durchführt so gut er es vermag. Und aus diesem Grunde, um auf die Erörterung zurückzukommen, in der uns Pathe Klaus unterbrochen hat, – lediglich aus diesem vernünftigen Grunde, habe ich den Magister an den Nagel gehängt, den ein Anderer eben so gut, besser als ich vertreten konnte, und habe von vorne angefangen als ein Bauer und Wirth, deren das Nächstliegende, das Erbe und Treugut meiner Väter, deren meine Heimath bedurften.«
»Und sollte die Liebe zur guten Muhme Margarethe nicht auch ein Wörtchen bei dem Entschlusse mitgesprochen haben?« fragte Heinrich.
»Die Liebe, wie Ihr sie versteht, junges Volk das heißt die Liebeslust, ganz und gar nicht,« ant wortete Stephan Hellstädt. »Hätte er nach der Liebeslust fragen wollen, so würde der blutarme Student der Theologie nicht so bald mit dem hübschen Hauptmannstöchterchen fertig geworden sein, das ihm mit seinen gelben Löckchen und rosigen Fingernägeln den Sinn gar verlockend umgaukelt hat, und das, beiläufig, die Mutter Deines Kameraden Stern geworden ist«
»Conrad's Mutter! die arme unglückliche Frau von Stern?« rief Heinrich betroffen.
»Daß sie unglücklich, und was überhaupt weiter aus ihr geworden,« versetzte Stephan, »davon habe ich gestern das erste Mal durch ihren Sohn gehört. Für die flatterige Lieutenantswirthschaft war ein übler Ausgang zu berechnen. Eine Heirath mit dem verschuldeten Junker vom Unterhof würde kaum ein besseres Facit geliefert haben. Ihr Sohn jedoch scheint eine tüchtige Natur; Pathe Klaus versichert's, der sich noch niemals in einem braven Menschen getäuscht hat.«
»Er täuscht sich hier am wenigsten, Oheim,« fiel Heinrich mit Wärme ein.
»Das freut mich, Vetter; es freut mich um so mehr, da, ich gestehe es gern, da Dein Freund dem Bilde recht ähnlich sieht, das ich mir von einem Eidam im neuen Hause ausgemalt hatte. Indessen,« setzte er lachend hinzu, »indessen auch als Vetter soll er mir herzlich willkommen sein. Um aber das Kapitel von der guten Muhme Grete abzuschließen, so will ich Dir nur noch sagen, daß ich keineswegs der Bäuerin zu Liebe ein Bauer geworden bin, sondern lediglich dem Bauern zuliebe der Mann einer Bäuerin, die mit gutem Herzen und gutem Kopf den studentischen Junker ein saures Stück Arbeit bewältigen lehrte und half. Denn ein saueres Stück Arbeit, Vetter, ja, das war's; wenn auch ein gesegnetes schließlich, wie es Gott gewaltet.«
Sie waren während dieser Rede auf der erhöhten Gränze des Weichbildes hingegangen, wo eine junge Kiefernschonung den Uebergang zu der meilenweit ununterbrochenen Hochebene bildete. »Als ich ein Knabe war,« fuhr Stephan Hellstädt fort, »standen stämmige Eichen auf diesem Grund. Ein Windbruch fällte sie. Ich brachte das Gemeindestück in meine Hand, nachdem es fast ein halbes Jahrhundert im Wüsten gelegen hatte; nur langsam und mühsam konnte die kümmerlichste Pflanzung auf ihm gedeihen; Deine Enkel aber, Heinrich, werden, so Gott will, wieder Eichen auf diesem Grunde wachsen sehen. Und so achtete ich es als guten Gewinn eines langen arbeitsamen Lebens, daß ich das Vätererbe, als windbrüchiger, entwässerter, kahler Boden meiner Treue anvertraut, in eine Schonung umgewandelt habe, die Deinen Nachfahren, Heinrich, ein schützender Forst zu werden verheißt.«
Der junge Mann war tief ergriffen Er drückte seinem Verwandten die Hände und erwiderte nichts als: »Ich danke Dir.« Sie standen dem Gutshofe nahe, Stephan schritt auf denselben zu. »Eines noch, Oheim,« sagte Heinrich nach kurzem Kampfe, indem er stehen blieb. »Ich kam in die Heimath mit bänglichen Bedenken, über die ich Aufklärung durch Dich erwartete. Ich sehe den Segen der treuen Verwaltung des Oberhofs Wie aber steht es mit dem Antheil des – Herrn vom Oberhof an diesem Segen?«
»Hellstädt ist Majorat, daher unbelastet; das Uebrige nicht meine Sache, Heinrich,« versetzte Stephan.
»Ich fragte nicht um meinetwillen, meiner Schwester Zukunft lag mir am Herzen, Oheim.«
»Deine Mutter hatte Vermögen; sie ist eine verständige Frau und wird gesorgt haben.« Er konnte oder wollte nicht mehr sagen; auch Heinrich schwieg, bis das Hofthor erreicht war. Hier überholte sie ein Reiterpaar, das in raschem Trab nach der Dorfstraße abbog. Die Oelgräfin und ihr großhändlerischer Verehrer, heute nicht mit einer Anwandlung menschlicher Schwäche, sondern siegesstolz wie es einem Löwen ziemt. Er schwenkte die Reitgerte gegen das Vetternpaar und jagte der Dame nach, die ohne Gruß, aber mit jachem Erröthen vorübersprengte. »Eine kleine Lection für meine Unpünktlichkeit,« sagte Heinrich lachend, »ich hatte versprochen von der Partie zu sein.« Er wollte nur der Schwester und Charitas im neuen Hause guten Tag wünschen und dann zur Abbitte der Schönen folgen, hatte aber die Halle noch nicht erreicht, als Vetter Stephan plötzlich wieder hinter ihm stand.
»Apropos, Heinrich,« sagte er, »eine Neuigkeit, die einen bedeutenden Umschlag in Hellstädt zur Folge haben wird: der Müller Rose steht am Ruin.«
»Rose, Libertens Vater, unmöglich!« rief Heinrich betroffen.
»Nicht nur möglich, sondern gewiß. Pathe Klaus prophezeiht es schon seit mehreren Tagen.Seit dieser Nacht habe ich Beweise. Eine überspannte Spekulation scheint dem Faß den Boden ausgeschlagen zu haben.«
Stephan ging in den Hof zurück, Heinrich schlug in Sturmschritt den Weg nach der Mühle ein. Das Reiterpaar konnte ihm nur wenige Minuten zuvorgekommen sein.
Im Fabrikhofe herrschte die gewohnte Geschäftigkeit; Niemand schien das drohende Unheil zu ahnen. Herr von Speck hatte das Haus noch nicht betreten; er war einem reitenden Boten begegnet, der aus dem städtischen Büreau der Nachbarstadt Depeschen und Briefe für ihn brachte; er durchflog dieselben im Gehen, indem er sich dem Garten zuwendete. Heinrich hätte ihm folgen, ihn befragen mögen; doch machte seine Nebenbuhlerschaft diesen Schritt ihm mißlich. So ging er in's Haus und unangemeldet in das Zimmer, wo er gestern so froh gewesen war.
Liberte stand noch im Reitanzug am Fenster, sie sah nachdenklich und blässer aus als gewöhnlich. Wie sie ihn gewahr wurde, sank ihre Farbe noch tiefer, nicht aber bekundeten ihre Züge eine Erschütterung, die der Fall ihres Hauses bewirken mußte, wenn sie denselben kannte. Heinrich stand verzagt; was sollte, was durfte er sagen? Sie schien einen ähnlichen Kampf zu kämpfen; doch war sie die Erste, sich zu fassen.
»Wann sahen Sie Ihren Vater zuletzt, Herr von Hellstädt?« fragte sie hastig und leise.
»Am vorgestrigen Abend, in der Stunde meiner Abreise,« antwortete er.
»Und wie fanden Sie ihn?«
»Wohl wie immer; nur vielleicht nicht ganz so heiter. Aber was bedeutet diese Frage, Liberte? Was wissen Sie? Ich beschwöre Sie die Wahrheit!«
»Sie darf Ihnen nicht vorenthalten werden, vielleicht daß sich vorbeugen läßt. Ihr Vater soll von einer finanziellen Krise bedroht sein.«
»Mein Vater,« fuhr Heinrich auf. »Wer sagt das, Liberte?«
»Mein Vater!« antwortete sie bestimmt, wenngleich von dem Accent seines Aufrufs sichtlich betroffen. »Er erhielt die Nachricht gestern aus der Residenz und theilte sie mir vor seiner Abreise mit, um – –«
»Um Sie zu warnen?«
»Gleichviel warum. Sie sind es, den ich warne.«
»Und wo ist Ihr Vater, Liberte?«
Der Nachdruck dieser Frage durchzuckte sie. Sie blickte einen Moment forschend in sein Gesicht, sie zitterte und wurde schattenweiß. Die Antwort blieb sie schuldig, denn Herr von Speck trat im nämlichen Augenblicke in das Zimmer.
Liberte krampfte die Hände zusammen, nach einem tiefen Athemzug ging sie ihrem Gaste lächelnd entgegen und fragte, ob er Lust habe, das besprochene Quatremain mit ihr einzuüben? Herr von Speck entschuldigte sich jedoch mit Geschäftsnachrichten, die ihn eilig nach Hause zurückriefen.
Heinrich war zu erregt, um die Wirkung dieses Ablehnens auf seine Freundin zu beachten. Er flüsterte ihr nur noch die Bitte um Schweigen gegen seine Schwester zu, dann stürzte er fort. Rose bankerott, sein Vater bankerott! welches war wahr? oder beides? eines mit dem anderen? durch das andere? Er beschloß unverweilt nach der Residenz zurückzureisen.
Als er aus dem Hofthor trat, sah er Theresen die Dorfstraße herankommen. Ehe sie ihn bemerken konnte, bog er ein und nahm den Seitenweg durch die Gärten. Athemlos langte er im neuen Hause an, fragte Stephan, ob er Libertens Nachricht für möglich, für wahrscheinlich halte und erhielt als Antwort ein einfaches Ja.
Indessen rieth sein Verwandter zum Aufschub der Reise, bis jener persönlich bei einem städtischen Ge schäftsfreund, der auch mit Heinrichs Vater in Verbindung stand, Aufklärung eingeholt haben werde, und ihm danach Rath und Weisung mit auf den Weg zu geben vermöge. Seiner Unerfahrung, seiner Hülflosigkeit sich bewußt, mußte Heinrich ja wohl in die Zögerung willigen; schweren Herzens stieg er, sobald Stephan fortgeritten war, die Terrassen zum Oberhof hinan.
Freund Conrad stürzte ihm mit einem Jubelruf entgegen: das Hauptmannspatent war angelangt; die von ihm vorgelegten Verwaltung- und Erziehungspläne hatten vollständige Billigung gefunden; nach zurückgelegtem Probejahr war ihm der Directorenposten in Aussicht gestellt. Er war froh wie ein König. So hatte das Schicksal fast über Nacht die Rollen der beiden ungleichen Kameraden getauscht.
Des Freundes Sorgenbotschaft dämpfte nun freilich im Nu die freudige Wallung. Stern bestärkte Heinrich darin, noch mit dem Abendzuge zu seinem Vater zu eilen, während er selber bis zur Entscheidung zum Troste der armen Therese in Hellstädt zurückzubleiben versprach. Aber wie die Stunden bis zur Abfahrt hinbringen? Die Kindheitserinnerungen, gestern so beglückend, heute wurden sie zur Qual. Schweigend gingen sie um die Mittagsstunde in's neue Haus; aber dem kräftigen Mahle, das Mühmchen Charitas bereitet hatte, wurde wenig Zuspruch gethan und ohne Wirkung blieb das Bemühen des lieben, sonst so schweigsamen Kindes, die Mißstimmung der Gäste durch freundliche Ermunterung zu zerstreuen.
Von Stunde zu Stunde wuchsen Spannung und unruhige Langeweile. Was nur beginnen? Nach der Mühle wollte man nicht; Vetter Stephans Erkundung mußte abgewartet, Therese bis zum Letzten geschont werden. Sie schlenderten hin und wieder. Heinrich warf sich vor, nicht unverweilt dem Zuge seines Herzens gefolgt zu sein. Wie verwandelt schien ihm seit Morgens die heitere heimathliche Aue; wie gleichgültig jedes gestern so froh erkannte Gesicht! Es ließ ihn nirgend weilen, selber nicht bei dem von gleichem Kampfe bedrohten, jüngst noch so strahlenden Bilde Libertens.
Seine ganze Seele war bei dem alten Manne, dessen Liebe sein Leben schön gemacht hatte bis heute.
Sie nahmen endlich den Weg nach der Höhe, von welcher sie gestern den ersten Blick auf die hellstädter Flur gethan hatten. Von hier konnte der heimkehrende Vetter am ersten wahrgenommen werden. Die Sonne war im Neigen, im Süden thürmte sich ein Wetter; noch aber saß der Gänsehirt ruhig auf seiner Schwelle und überließ es dem gelben Teckel, seine Heerde zum Heimzug zusammenzutreiben Auch Pathe Klaus schien irgendwen, oder irgend was zu erwarten. »Ob er uns Auskunft geben könnte?« sagte Heinrich und sie gingen auf die Mühle zu.
Noch aber hatten sie dieselbe nicht erreicht, als ein einspänniges Fuhrwerk, langsam von der Stadtseite kommend, ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. In solchen Stunden der Spannung erscheint der geringfügigste Wechsel verhängnißvoll.
»Es sitzt eine Dame drin,« sagte Stern.
»Meine Mutter!« rief Heinrich und flog den Abhang hinunter.
Frau von Hellstädt bemerkte ihn; sie ließ halten und stieg aus. Der Sohn umarmte sie zum ersten Male so weit seine Erinnerung reichte.
»Du bist aufgeregt, Heinrich,« sagte Frau von Hellstädt. »So weißt Du bereits, welche Neuigkeit mich so plötzlich hierher getrieben hat?«
»Mutter!« rief Heinrich mit stockendem Athem, »um's Himmelswillen, was ist's?«
»Rose ist bankerott!« flüsterte die Mutter nach einem vorsichtigen Blick in die Runde.
» Nur Rose?« fragte Heinrich erleichtert.
» Nur Rose? Erwartest Du noch mehr?« versetzte die Dame. »Doch Gottlob, daß Du so fragst, so bist Du noch frei und ich komme nicht zu spät.«
»Aber der Vater, Mutter! Ist der Vater bei dem Schlage betheiligt?«
Frau von Hellstädt stutzte; doch antwortete sie gelassen: »Dein Vater? Möglich; ich weiß es nicht.«
Sie lohnte den Kutscher ab, nahm ihre Reisetasche aus dem Wagen und schlug über den Hügel den näheren Fußweg nach dem Dorfe ein. Es drängte sie nach ihrer Tochter und einer Besprechung mit dem erfahrenen Vetter Stephan.
»Hastet Euch nicht, Gnädige!« rief schon von Weitem Pathe Klaus, der sich erhoben hatte und der Gutsfrau mit größerer Zuvorkommenheit als ihrem Sohne entgegengegangen war. »Hastet Euch nicht. Euer Anspruch bleibt unbehelligt.«
»Wenn Ihr's versichert, braver Klaus, bin ich vollends beruhigt,« versetzte die Dame, indem sie dem Alten die Hand reichte. »Schon während der langsamen Fahrt meines Güterzugs hatte ich Muße, mich zu besinnen, daß meine Besorgnisse bei der über raschenden Nachricht unnütz waren. Die Hypothek ist sicher und auch meine Tochter würde in Vetter Stephans Hause bei einer plötzlichen Verwirrung Anhalt gefunden haben.«
Zu des Gänsehirten von Hellstädt gelegentlichen Ehrenämtern gehörte auch die Freiwerberschaft in seinem Bezirk; da aber Pathe Klaus, ob er's wohl oder übel meinte, das Herz allezeit auf der Zunge trug, hielt er auch heute nicht ängstlich hinter dem Berge, sondern rückte ohne Umstände mit einem Anschlage jüngsten« Datums hervor. Er scharrte sich um nach seinem guten Freunde Stern, der verlegen bei Seite getreten war und sich unbemerkt zu entfernen dachte, winkte ihn zurück und sagte: »Nichts für ungut, Gnädige, aber der richtige Schutz und Anhalt für das liebe Gotteskind, die Therese, – ich weiß, ich weiß, Gnädige, 's war nicht Eure Schuld, daß sie nicht meine Pathe, ist! – der richtige Anhalt, der schleicht sich eben da hinten um meine Mühle herum. Traum Sie dem alten Klaus, Gnädige, der Mann verdient ein hellstädter Kind und ein Ehrenkreuz, kommt die Stunde, wird ihm, weiß Gott! nicht entgehn.«
Frau von Hellstädt blickte verwundert rückwärts. Schon aber führte ihr Sohn, als Lösung des Räthsels, den Kameraden vor und hatte die mütterliche Gleichgültigkeit gegen des Vaters Schicksal den armen Heinrich vorhin tief verletzt, so erleichterte es ihm jetzt das Herz, in den scharfprüfenden Augen seiner Mutter keine Mißbilligung wahrzunehmen, da ihr residenzliches Vis-à-vis unerwartet als Gastfreund von Hellstädt gegenüber trat.
Rasches Wagenrollen von der Dorfstraße her unterbrach die kleine Begrüßungsscene, die Pathe Klaus mit schmunzelnden Blicken und Kopfnicken begleitet hatte. »Die Mühlprinzessin!« rief er jetzt, ohne daß er sich bemühte, das Gefährt in Augenschein zu nehmen.
Heinrich eilte an den Abhangsrand. Ja, es waren Tante und Nichte, die auf dem Wege nach der Stadt von dannen flogen. Der Teckel bellte, der Bauernvogel in corpore schnatterte ihnen nach, – dahin waren sie, des Verehrers Blicken entschwunden.
Frau von Hellstädt drängte zur Eile; die Dämmerung brach herein, der Himmel umzog sich mit immer dichteren Wolken, die gute Therese mochte in tödtlichen Aengsten harren. Heinrich eilte voran, zu erfragen, ob sie sich bereits in das neue Haus ge flüchtet habe? Frau von Hellstädt folgte an des Hauptmanns Arm. Sobald sie erfuhr, daß ihre Tochter noch in der Mühle weile, setzte sie ohne Einkehr mit ihrem Begleiter den Weg dorthin fort, während Heinrich bei Charitas die Rückkehr ihres Vaters erwartete.
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