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4

Als sie von der weiten Reise nach Hamburg zurückkehrten, nahm Jan Guldt von allen Abschied, auch von Karl Kröger, der schon nach einigen Tagen auf einem neuen Schiff wieder in See ging; und ging – es war am späten Abend – nach Blankenese hinaus.

Er rüttelte aber vergebens an der Türklinke und klopfte vergebens ans Küchenfenster. Nach langem stillen Kopfschütteln entdeckte er ein großes graues Stück Pappe an einem Tau von der Klinke herabhängen, zog Streichhölzer hervor, machte Licht und las: »Deine Mutter ist vor vierzehn Tagen gestorben. Da sie acht Wochen lang krank war, Pflege, Arzt und Medizin gebrauchte, ist ihr Vermögen darauf gegangen, so daß du nichts zu erben und zu fordern hast. Im Namen der Familie: Tobias Guldt, der Ältere, an der Sechslingstreppe.«

Er stand einen Augenblick unbeweglich, und horchte in die kleine Wohnung hinein, als wäre es nicht wahr, als würde gleich der leise Schritt hörbar und das zögernde, mißtrauische Zurückschieben des Schotts; und dann würde eine magere steife Hand sich einen Augenblick auf seinen Arm legen, und es würde ihm wieder ein süßer Schauer den Arm hinauflaufen, bis in die Brust, und das Herz in der Brust heiß aufhüpfen. Aber es geschah nichts. Da ließ er die Klinke, die er wartend in die Hand genommen hatte, los, und stand da, und suchte zu begreifen, daß die Mutter nun nicht mehr in der schönen warmen Ecke seines Lebens stände, und daß er auf der Welt ohne Heimat wäre. Er kehrte sich ab und ging in der hellen Nacht langsam, den Kopf gebeugt, den Strandweg entlang, kletterte die steile Baurstreppe hinauf, und weinte dort, wo von beiden Seiten das dichte Gebüsch herüberragt, so lange, bis er satt war; und ging wieder nach Hamburg.

Am andern Tag ging er nach Altona und meldete sich für die Schule an, wie er von Anfang an, da er sein Geld noch besaß, gewollt hatte. Dann kaufte er sich alles, was er notwendig an Sextanten, Zeichenkasten, Büchern, Papier und dergleichen brauchte, und verwendete daran alles Geld, das er hatte. Es war ihm aber in seiner Bissigkeit gegen Gott und Welt gewiß und klar: daß er auf jeden Fall die Sache durchsetzen wollte, und wenn er sich zu Tode hungern und wachen sollte.

Er hatte sich überlegt, daß er sich irgendwo, in der Nähe der Schule, irgendeine Arbeit suchen müßte, die ihm Essen und Quartier brachte, und machte sich sofort – es war Spätnachmittag – auf die Suche. Er ging durch einige Straßen und sah in etliche Höfe, in denen gearbeitet wurde; aber er sah, daß jede Arbeit ihren Mann hatte, und unterließ das Fragen. Und das Unternehmen schien gleich am Anfang völlig zu mißlingen.

So kam er aus Altona heraus in die Gegend vor Oevelgönne, wo damals noch, über den kleinen schrägansteigenden Gärten, eine Reihe alter Strohdächer stand. Eines davon, das heute noch steht, ist besonders alt und niedrig, und ist dadurch ausgezeichnet und jedermann wohlbekannt, daß dicht vor ihm, auf einer rostigen Lafette, eine alte Kanone steht, die mit ihrer Mündung über den Hafen sieht.

Als er nun die holperige Straße entlang ging, saß unten am Weg, unter dem Haus mit der Kanone, auf einer braunen Holzbank, eine kleine alte Frau, ärmlich gekleidet, und strickte mit schweren und krummen Arbeitshänden an einem dicken blauen Strumpf. Er sah sich um, ob kein Mensch in der Nähe wäre – denn er schämte sich, mit der armen alten duckigen Frau zu sprechen – und tat dann rasch seine Frage: ob sie wohl wüßte, wo er etwa täglich für einige Stunden Arbeit fände. Sie sah auf und sah neugierig in sein kühnes Gesicht, verstand ihn nicht ganz, rückte ein wenig zur Seite und sagte mit der bedächtigen Ruhe des Alters: »Setz' dich und erzähl' mir, was du von mir willst.«

Er mußte sich also setzen, und erzählte kurz und deutlich, wobei er immer auf seine Knie schlug, wie er schlimm daran wäre und Arbeit suche. Es wurde ihm nicht so sauer, es ihr zu sagen, da sie ihm mit ihrer kurzen duckigen Figur so wunderlich erschien, so als wenn sie etwa Rotkäppchens Großmutter wäre, oder sonst irgendeine Person, die mit dieser Zeit und Not nichts mehr zu schaffen hatte. Sie strickte indes ruhig fort und sah nur dann und wann auf, und nach dem Ende des Weges, als erwarte sie jemanden.

»Hast du denn keine Eltern mehr?« fragte sie.

Er sagte, daß die Mutter eben gestorben, der Vater aber als junger Mann, ebenso wie früher der Großvater, auf einem Hollmannschiffe geblieben wäre. »Der Großvater hat lange für die Hollmanns gefahren.«

»So, so,« sagte sie. »Beide auf Hollmannschiffen geblieben! Ja, ja ... die haben viele Menschen um ihr Leben gebracht! Ja ... ja! Aber was können sie dafür? Der eine Mensch hat diese Natur, der andere jene. Unser Herrgott muß mit ihnen allen auskommen; denn müssen wir es auch.«

Er ergrimmte so über diese Worte, daß sich ihm die Haare unter der Mütze bewegten, und sagte mit wilden Augen: »Die Meinung habe ich nicht, wahrhaftigen Gotts! Unser Herrgott sollte sie mit Pestilenz und Hölle verfolgen, und die Menschen sollten sie an den Beinen aufhängen, bis sie tot sind.«

Die Alte wiegte langsam und strickend den Kopf: »Wenn man alt wird,« sagte sie, »weiß man, daß es nicht so geschieht, wie man möchte; und muß doch sehen, wie man das Leben aushält. Denke dir, mein einziger Sohn fährt seit vierzig Jahren auf einem Hollmannschiff ... immer auf demselben, auf der Anna Hollmann! Als Bootsmann! Das muß ich ansehn!«

Er wurde blaß vor Zorn: »Das verstehe ein anderer!« sagte er. »Man kann ja wohl auf einem Hollmann fahren, weil man sonst nirgends eine Stelle finden kann, oder aus lauter Hohn und Haß einmal eine Fahrt machen, um nachher allen Leuten davon zu erzählen. Aber jahrelang?! Vierzig Jahre auf der Anna Hollmann?!«

Die Alte strickte indes still weiter. »Er spricht sonst nicht davon,« sagte sie. »Aber manchmal, wenn er toll und voll ist – er trinkt nämlich ein bißchen – sagt er: er hätte sich mit der Anna Hollmann verheiratet. Und zwar katholisch, sagt er, und kann sich darum nicht von ihr scheiden lassen. Und ich glaube wohl, daß sie viel miteinander erlebt haben. Zuerst, in den sechziger Jahren, hat die Anna Hollmann halb Mecklenburg nach Amerika gebracht; dann, um siebzig, die Schwarzen von Afrika nach Brasilien hinüber. Na, und was für Fahrten wohl sonst noch! Gut war wohl keine! ... Wohin ist denn dein Großvater mit dem Hollmannschiff gefahren?«

»Nach Brasilien oder an die brasilianische Küste,« sagte er. »Genaueres weiß ich nicht.«

»So!« sagte sie. »Na, das werden auch schlimme Reisen gewesen sein. Brasilianische Küste!«

»O,« sagte er, »wir sind da in Blankenese eine angesehene Familie, und mein Großvater war ein ehrenwerter, nur etwas hitziger Mann, wie man sagt. Rede Sie nicht über ihn! Wer weiß, was ihn dazu gebracht hat. Rede Sie über die Hollmanns, die seit hundert oder zweihundert Jahren die Menschen auf ihren elenden Schiffen schinden und soviel brave Leute ertrinken lassen!«

Die Alte wiegte den Kopf und sagte dann langsam und umständlich: »Der alte Dierks und ich – der alte Dierks ist schon seit fünfzig Jahren Kutscher beim alten Hollmann, und ich habe da als junges Ding einige Jahre gedient – wir beide machen uns immer einen Extraspaß mit dem alten Hollmann. Verstehst du, mit dem Alten, der damals die Mecklenburger und die Neger hinübertransportiert hat. Er ist schon über die neunzig hinaus; aber er fährt noch jeden Mittwoch und Sonnabend die Elbchaussee auf und ab. Die Leute reden so dies und das über ihn; sie sagen, er könne nicht sterben, weil er so ein schlechtes Gewissen habe. Aber wir, der alte Dierks und ich, wissen es besser; es ist ganz das Gegenteil: er kann nicht sterben, weil er immer noch soviel Freude an seinem Gelde hat und nicht davon weggehen will. Mittwochs fährt der alte Dierks ihn immer hier zu mir herunter, und dann machen wir uns einen Spaß mit ihm ... Sieh, da kommt er.«

Von oben bog eine vornehme, offene Kalesche mit flinken Schimmeln bespannt in den Weg, kam leicht und flott herangerollt, und hielt mit einem Ruck vor der kleinen braunen Bank. In einer Ecke des Wagens saß oder lag vielmehr, bis zur Brust mit einem riesigen, bunten Tigerfell bedeckt, ein uralter Mann. Sein Kopf, so klein wie der Kopf eines vierzehnjährigen Knaben, war gelb und mit Runzeln bedeckt.

Die Alte blieb ruhig auf ihrer Bank sitzen und ließ sich auch in ihrem Stricken nicht stören. »Na,« sagte sie gemütlich, »was haben Sie sich denn in diesen acht Tagen für überkluge Sachen ausgedacht, Hollmann?«

Der alte Mann lächelte geschmeichelt, hob aber gleich gewichtig die kleine gelbe Hand, und sagte mit ernsten großen Augen: »Es ist doch alles verkehrt gewesen! Alles verkehrt! Hätte viel mehr Geld verdienen können.«

Die Alte schüttelte strickend den Kopf und sagte in ehrlicher Überzeugung, und als wenn sie ein Kind besänftigte: »Nein, nein, Hollmann! ... Das müssen Sie sich in Ihren alten Tagen nicht noch in den Kopf setzen! Sie haben es ganz richtig gemacht. Wieviel gaben Sie noch für so einen alten preußischen Auswanderertaler?«

Der Alte lächelte freundlich: »So sechzehn bis siebzehn Schillinge.«

»Na,« sagte die Alte anerkennend, wobei sie immer weiter strickte und kaum einmal aufsah: »Das ist doch ein gutes Geschäft!? Und dann schwatzten Sie ihnen noch vor, sie müßten ihr schönes Leinen und die großen Schinken da drüben so hoch verzollen, daß es besser wäre, sie verkauften sie hier. Und so bekamen Sie ihr Leinen und ihre Schinken auch noch fast umsonst. Sie haben da tüchtig geräubert, Hollmann! Und unterwegs auf See haben die Leute dann noch hungern müssen, und das tüchtig.«

Der Alte lachte vergnügt in sich hinein, wie ein kleiner schadenfroher Zunge. »Immer klug!« sagte er mit seiner alten hohen Stimme. »Immer klug! Waren schöne Zeiten! Keine Staatsaufsicht! Das ist die Hauptsache; keine Staatsaufsicht! Und wenig Öffentlichkeit! Man konnte Geschäfte machen, wie man wollte.«

»Millionen haben Sie verdient,« sagte die Alte.

Der alte Mann lächelte geschmeichelt; und wie ein eitles Mädchen, das unter Freundinnen die Unterhaltung von dem einen Verehrer auf den andern weiter lenken will, sagte er lächelnd: »Aber nachher habe ich einen Fehler gemacht. Ich hätte die Schwarzen, die ich nachher nach Brasilien brachte ... die hätte ich loser verstauen sollen. Es starben zu viele; einmal mehr als die Hälfte! Das sind große Verluste gewesen.«

Der Kutscher, der mit breitem, steifem Gesicht auf dem Bock saß, die Peitsche aufrecht an Ohr und Hutrand vorbei, wandte sein Gesicht, ohne sonst seine steife Haltung zu verändern, der Alten zu, und sagte gleichmütig: »Gib's ihm ordentlich. Er kann's vertragen! Stärkern Tabak!«

Die Alte kam aus dem gleichmäßigen Takt ihres Strickstrumpfes nicht heraus, und sagte: »Na, dafür sitzt Ihr Sohn, der Heinrich, ja auch zusammen mit dem Kaptän der Anna Hollmann auf der dürren Insel, da vor Brasilien. Wie heißt sie noch?«

»Auf Fernando Noronha sitzen sie,« sagte der Kutscher, ohne den steifen Kopf zu drehen.

Der alte Mann versuchte, sich ein wenig vorzubeugen, und sagte leise mit großen Augen: »Ob die beiden wohl noch leben?«

Der Kutscher wandte ein wenig den Kopf und sagte: »Er ist bange, daß der Heinrich noch mal wiederkommt, und sein Erbteil fordert.«

»Was bekommen sie da noch zu essen, da auf der Insel?« sagte die Alte. »Nichts als Gras und Regenwürmer?«

Der Alte lächelte behaglich: »Man gut, daß er da ist,« sagte er. »Man gut! Er hätte alles hindurch gebracht! Alles!«

»Das ist nicht wahr,« sagte der Kutscher gleichmütig zu der Alten, »das ist einfach Lüge. Heinrich war gar nicht so. Er war bloß besser als die andern. Er war ein guter Mensch, und sah dem Alten auf die schmutzigen Finger. Das war alles.«

Der Alte schien das, was der Kutscher über die breite Schulter hinweg sagte, gar nicht zu hören.

Er war noch bei den beiden Gefangenen in Brasilien. Er versuchte sich wieder vorzubeugen und sagte wieder leise und neugierig: »Ob die beiden noch leben? Es waren ein paar zähe Burschen: der Heinrich und der Kapitän!«

»Ja,« sagte die Alte, »es hat manch zäher Bursche dran glauben müssen, auf den Hollmannschiffen ... Sehen Sie hier diesen jungen Mann? Sein Vater und sein Großvater sind beide auf Hollmannschiffen geblieben.«

Der Alte beugte sich ein wenig vor, fast höflich, so wie ein Kaufmann gern einen Mann wiedersieht, mit dem er früher einmal gute Geschäfte gemacht hat. »Wie ist der Name?« sagte er verbindlich.

Jan Guldt sprang auf und schrie, die raschen, gehässigen Augen dicht vor seinem Gesicht: »Jan Guldt von Blankenese.«

Der Alte legte sich hastig wieder zurück und sagte erschrocken und etwas atemlos: »Das Gesicht ... der Enkel von Jan Guldt!« und dann, mit dem gleichmütig kalten Ton, mit dem er wohl früher über die Mannschaft seiner Schiffe gesprochen haben mochte, sagte er zu dem alten Kutscher: »Fahr zu!«

Der alte Kutscher lachte behaglich und sagte: » Der Tabak war ihm zu stark« und fuhr davon.

»Haben Sie gesehn?« sagte Jan Guldt mit flammenden Augen: »Wie er den Namen meines Großvaters fürchtete? Haben Sie gesehn, daß mein Großvater ein ehrenwerter Mann gewesen ist? Haben Sie es gesehn? Der alte Verbrecher! Wie mich freut, daß ich es ihm gegeben habe!«

»Na,« sagte die Alte und wickelte ihr Strickzeug zusammen; »denn man zu! Nun komm: Du sollst zu essen haben. Ich bin heute abend gerade gut versorgt. Mein Sohn, der Bootsmann auf der Anna Hollmann, wie du nun weißt, ist vorgestern mit seinem Schiff von Afrika zurückgekommen und hat mir Geld gegeben. Er ist nach der Wirtschaft dort an der Ecke gegangen; da trinkt er sich nun voll. Er ist sonst aber ein guter Junge.«

Damit stieg sie langsam, am Holzgeländer sich haltend, nach der Höhe hinauf und ging an der Kanone vorbei in ihre niedrige schiefe Halbtür. Durch eine kleine Küche, in der ein Herd und ein Tisch fast allen Platz einnahmen, führte sie ihn in eine niedrige dunkelbraune Stube, in der alles versackt und schief war: Diele, Wände und Decke, und an der Wand ein verfallenes Bild des alten Kaisers; und lud ihn auf eine Bank, die unter den beiden Fenstern entlang lief.

Nun holte sie herbei, was sie hatte, und er aß. Als er fertig gegessen hatte, kam sie mit einem uralten ledernen Beutel, in dem noch Tabak für manche Pfeife war, und sagte: »Du hast doch gewiß deinen Brösel bei dir? Rauch' ein bißchen!« Und als er angezündet hatte, roch sie umher, und nickte und sagte zufrieden: »Es hat gleich eine andere Art; es riecht so gut nach Mannsvolk.«

Er hielt die Pfeife gemächlich von sich über den Tisch, daß der helle Rauch wie von einem zierlichen Feuerchen durch die Dämmerung zu der schiefen Decke hinauf und um das Bild des alten Kaisers schwebte, und dachte: ›Satt wäre ich nun erstmal! Wenn ich nun auch eine Schlafstelle hätte!‹ und lehnte sich ein wenig zur Seite, und machte es sich bequem, und maß die Bank auf und nieder und fing an, sie zu loben: »Eine nette Art von Bank, Großmutter! Da schläft wohl Ihr Sohn darauf, wenn er heute nacht aus dem Wirtshaus kommt? Nein? Schade, daß eine so lange und breite Bank nicht zum Schlafen gebraucht wird. Man kann wirklich eine Nacht darauf zubringen, ohne Schwielen an den Rippen zu bekommen. Wenn meine Wut auf die Hollmanns und auf die ganze Welt durch die Unterhaltung mit dem alten Tigerfell heute nicht so groß geworden wäre, könnte ich, glaube ich, auf dieser Bank zum Schlafen kommen.«

Die Alte verstand ihn endlich und sagte: »Hast du nicht mal eine Schlafstelle, du armer Junge? Denn bleibe gern und schlafe auf der Bank.« Und indem sie aufstand und ein altes Kissen von geflochtenem Stroh für den Kopf holte, sagte sie mit gemütlichem Selbstspott: »Ist das 'ne Nacht! Erst bekomme ich meine Stube voll Pfeifenrauch, daß mir schon ganz lieblich zumute geworden ist, und nun bleibt der Jungkerl auch noch die Nacht; und ich habe auf diese Art zum ersten Male alles wieder, was ich vor fünfzig Jahren jeden Abend hatte.«

Sie ging noch einmal in die Küche, um zu sehen, wie es mit dem Herdfeuer stand, dann fing sie an, sich zu entkleiden, wobei sie nach der Art alter Frauen so in Gedanken und Träume verfiel, daß sie das Atmen vergaß. Er zog indeß seine Stiefel aus und legte sie unter das Kissen, das nicht hoch genug war, und legte sich hin.

Er wollte erst seinen Zorn über Hollmanns Schlechtigkeiten und Gottes Langmut, der immer sachte in ihm weiter gegrollt hatte, noch wieder in hitzigen Gewittern austoben lassen; aber es kam nur zu einem sachten Wetterleuchten. Das lange vergebliche Suchen in den Straßen und die Erlebnisse des Abends hatten ihn müde gemacht, daß er nur noch träge dachte und bald einschlief und wie auf einer sachten Bahn ins Traumland hinüberglitt, und dort alsbald in einem seinen Boot mit gutem Winde dahinfuhr, während schöne nackte Mädchen mit kühnen Gesichtern und Haltungen, Gallionsfiguren ähnlich, auf- und niedertauchten, um den Grund zu untersuchen, ob Jan Guldt da auch ungefährdet fahren könnte. Er sah ihnen lächelnd und mit freundlicher Anerkennung zu, wobei seine Sinne völlig ruhig blieben. Denn er hatte auch im Wachen noch kein Weib erkannt. So sehr ehrte und fürchtete er sie.

Als er noch so wohlbehalten und schön, wie es im Psalm heißt: ›Du machst deine Engel zu Winden‹, dahinglitt – es war nicht mehr weit vom Morgen – hörte er ein Rumoren und Rufen draußen unter den Fenstern, besann sich eilig, wo er wäre, und horchte.

Die Alte aber kam schon hoch und auf ihren steifen Beinen heran: »Das ist mein Sohn,« sagte sie mit einem weichen Ton in der alten Stimme. »Wenn er vom Wirtshaus weggeht, kommt er immer an mein Fenster, damit ich weiß, er geht nun als ein ordentlicher Mensch zu Bett. Er trinkt ein bißchen; aber er ist ein guter Junge.«

Damit trat sie ans Fenster und sah hinaus und lachte leise: »Siehst du, was er da jetzt macht? Hörst du? Er sieht lauter Hollmannschiffe auf der Elbe und tut, als wenn er mit der alten Kanone nach ihnen schießt. Hör', er nennt jedes Schiff bei Namen ... Paß auf ... da! Hörst du? Die größte Ladung bekommt die Anna Hollmann.«

Der Betrunkene schoß mit einer Art von Schnellfeuer und stieß dabei wilde Worte aus, die gurgelnd aus seiner trunkenen Kehle kamen; die Not, die sich mit den Tönen herausquälte, hörte die alte Frau nicht. Sie lachte wieder leise und herzlich, und sagte wieder mit dem weichen Ton in der alten Stimme: »So macht er's immer, wenn er nachts an mein Fenster kommt! Er schießt alle Hollmannschiffe entzwei! Zu drollig!« Sie lachte und klopfte stark an die Scheiben.

Nun hörte es der Betrunkene. Er ließ von der Kanone ab, sah nach dem Fenster, sah seine Mutter drinnen stehen, richtete sich gerade, fast stolz auf, und sagte in einer Art von respektvollen dienstlichen Meldung: »Nun schlaf ruhig, meine alte Mutter! Nun geh' ich nach Haus!« und ging mit schweren, unsicheren Schritten die Treppe hinunter.

Die Alte humpelte wieder in ihr Bett, und er legte sich wieder auf die Bank. Er lag mit offenen Augen und dachte an den Bootsmann und dessen Leben, und schoß von da, rasch, wie auf feurigen Flügeln, mit glühendem Zorn, in die ganze Hollmannsche Wirtschaft. Schickten sie seit hundert Jahren ihre Schiffe übers Meer, früher zu Schandtaten, jetzt, ohne Reinlichkeit und anständige Nahrung, mit zu schwacher Besatzung, die sich überanstrengen mußte, in die böseste Fiebergegend, daß so mancher drüben im Fieber blieb? Schickten sie sie mit verlotterten Maschinen aus, verrostet und verkommen, so daß jedes Jahr eins mit der Mannschaft in die Tiefe sank? Und der Herr dieser Schiffe? Vor der Pforte der Ewigkeit, von der doch auch der Ungläubige nicht wissen kann, was etwa hinter ihr sein mag, freute er sich aller seiner Taten. Ja, freute sich noch, halb kindischen Geistes, über das vernichtete Leben seines Sohnes und seines alten Kapitäns. Ob die beiden schon tot im heißen Sand von Fernando Noronha lagen, die Ketten noch an den dürren Füßen? Oder ob sie noch lebten, das Fieber in den alten Knochen, hungernd und dürstend? Das waren die Hollmanns! Verdammt ... her mit meinem Vater und Großvater! Ich läge hier nicht als Schnorrer auf der harten Bank, wenn die Hollmanns sie mir nicht genommen hätten! Und meine Mutter haben sie mir auch getötet; denn sie hat sich am frühen Tod meines Vaters ins Grab gegrämt. Her mit meiner Mutter! Her mit all den Toten! Ihre Frauen und Kinder liegen auch auf harten Bänken! Her damit! Verflucht die Welt ...!« Er schlug mit der Faust gegen das Geländer der alten Bank, daß es krachte.

Die alte Frau fuhr aus dem Schlaf: »Gott bewahre!« sagte sie. »Was ist mit dir?«

»Ach,« sagte er ernüchtert, noch schwer atmend in seinem Zorn. »Ich wollte wahrhaftig, ich wäre der Teufel!«

»Gott meine Seele!« sagte die Alte, »Du Milch und Blut! Warum denn gerade der Teufel?«

Er wandte sich nach der Wand und sagte mit finsterem Gesicht: »Sie haben mir Vater und Großvater genommen, und haben mich lächerlich gemacht, als ich noch ein Kind war; und haben mich arm gemacht und zur Waise. Wenn ich noch einmal wieder einen Hollmann sehe, trete ich ihm noch ganz anders unter die Augen.«

»Du mußt alles sachte nehmen,« sagte die Alte. »Immer sachte!«

»Sachte?« sagte er ... »kann ich nicht! Kann ich nicht! Will ich auch nicht! Will ich nicht! Denn lieber tot!«

»Na ... na ...« sagte die Alte ruhig und freundlich. »Du wirst es noch lernen. Du wirst es noch lernen.«


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