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So überstand er die Zeit; und eines Sonnabends im September bestand er auch das Examen. Er ging sofort nach dem Hafen, beauftragte den Wirt, den er kannte, ihm eine Stelle zu verschaffen, schlief auf der alten Bank wunderschön, und stand am Sonntagmorgen mit dem Gedanken auf, der ihn in den letzten sechs Monaten jeden Tag das Herz heiß gemacht hatte: daß er nun heute mit ihr segeln wollte. Ganz allein mit ihr! Er wollte Ruder und Großschot führen, und sie sollte neben ihm sitzen und die Fockschot halten; und dabei wollten sie sich ansehen, stundenlang, und einander ihr Leben erzählen. Er hatte sich ausgedacht, daß er schon in aller Frühe hinuntergehen wollte, wenn ihr Hofstaat, die halbwüchsigen Jungen, noch nicht da wären, sie selbst aber in ihrer frühtätigen Weise in ihrem Boot kramte.
Als er nun aber, den Ölrock überm Arm – da es ein wenig sprühte – hinunterging, kam ihm Karl Kröger entgegen. Er trug einen alten schlechten Anzug und hatte eine formlose Mütze bis an die Ohren auf seinen Kopf gedrückt, und rief schon von weitem: »Ich habe von Eva Gött alles gehört! Warum hast du meine Mutter nicht um Geld gebeten? Sie hätte es dir sicher gegeben! Na ... genug! Wir segeln nach Schulau, und du kommst mit.«
Als sie unter Fragen nach woher und wohin an den Strand kamen, stand sie da schon in einem uralten, ganz steifen schwarzen Regenrock, der bei jedem Windzug rauschte, als wenn Steinkohlen abrutschen, einen alten Filz auf dem blonden Haar, und sah wie gewöhnlich etwas verfroren und milchig aus. Sie schalt heftig nach einem Boot hinüber, das sich weigerte, ihr ein Beiboot zu schicken; von dorther kam Hohn und Spott in lauten Rufen durch Wind und Segelklatschen zurück. Weit und breit an den Bojen tanzten Boote, und in jedem schruppten, verstauten, refften und riefen sie. Dahinter, auf dem bewegteren Strom, der weithin in frischem, kaltem Blau schimmerte, kreuzten einige Ewer mit dunkeln Segeln stromab. Wenn sie unterm Windstoß sich neigten, lief das Wasser ihnen übers Deck; und lief im breiten, schimmernden Fall wieder zurück, wenn sie sich langsam hoben. Von Nienstedten her ragte ein schöner grauer Afrikadampfer massig und mächtig auf, und kam langsam herauf. Es war trotz des gerade sprühenden Regens ein heller schöner Herbstmorgen.
Das Beiboot kam und brachte sie an Bord. Karl Kröger, der Mitbesitzer des Bootes, fing sogleich an, herumzurumoren, hier zu suchen, dort zu schirren, dort zu bessern, wobei er immer so ebenweg knurrte, daß alles, was in Weiberhände geriete, in Unordnung käme. Sie verstaute indes Brot und Milch unter die hintere Ducht und lachte dazu. Jan Guldt nestelte vorn an der Fock. So verweilten sie auch noch, als die Arbeit getan war, und hielten sich so möglichst fern voneinander, und sahen sich nicht an. Und waren selig und furchtsam, daß sie einander nahe waren.
Nun fingen vom Strand her zwei Menschen in unförmlichen schlechten Röcken, alte blaue Mützen auf den Köpfen, der eine unendlich groß, der andere breit und stämmig, mit lauter Stimme an, herüber zu rufen und zu pfeifen. Im Nu war sie im Beiboot und ruderte an Land.
Er sah mit gerunzelter Stirne hinüber und sagte: »Wer sind denn die?«
»Ein paar Maschinenbauer,« sagte Karl Kröger. »Sie haben Ostern das Gymnasium verlassen und arbeiten nun praktisch auf einer Werft. Der Große schlägt etwas stark und unnötig mit seinen großen Knochen herum und hat die größten im Mund; darum nennen wir ihn ›Slahdood‹. Er ist aber ein netter Mensch. Der andere, der Kurze, ist immer sehr vernünftig und fürs Ordentliche, darum nennen wir ihn ›Meister‹. Das kleine runde Mädchen, das da noch angetrabt kommt, nennen wir ›die Kuff‹; sie ist Lehrerin oder so was. Auch 'n netter Mensch.«
»Wenn sie alle nette Menschen sind,« sagte Jan Guldt, »warum ist die kleine Eva Gött es denn nicht? Warum bist du dann so unfreundlich mit ihr?«
»Ich??« sagte Karl Kröger und sah Jan Guldt verwundert an, »unfreundlich? Hast du schon mit ihr gesegelt? Na, dann weißt du auch nicht, wie sie ist! ... Wir sind nicht unfreundlich gegen sie; wir haben sie alle gleich gern; es ist bloß die richtige Behandlungsweise, verstehst du. Das wirst du auch selbst einsehn.«
Sie kamen nun an und wurden so vorgestellt, wie sie vorhin genannt waren.
Und dann ging es los. Sechs Boote ringsum legten sich in gleicher Weise auf die Seite. Das Wasser sprang am Bug und lief rauschend an Bord entlang. Ein Lied klang im frischen Winde, bald von Wind und Segeln verdeckt, bald laut über das Wasser.
Der kleine Meister bediente die Fock. Der große Slahdood saß in der Mitte und führte gelegentlich die Wasserschaufel, die in seiner Hand wie ein passender Holzlöffel aussah. Karl Kröger bediente Steuer und Großsegel. Jan Guldt neben ihm sagte zuweilen ein gleichgültiges Wort und sah verstohlen nach seiner Liebsten.
Sie hatte sich neben Slahdood gesetzt und hatte den alten Filz abgenommen, und die hellern Strähnen wehten über das blonde Haar hin, und die Augen schimmerten in klarem, dunklem Grün. Sie hatte Garn und Nadel hervorgeholt und fing an, dem großen Slahdood den aufgerissenen Ärmel zu nähen. Das ging nicht lange in Frieden. Da sie von Zeit zu Zeit wenden, und alle unterm Baum durch nach dem andern Bord hinüber mußten, schrie der Riese bald unter der Nadel und behauptete, er wäre gestochen. Er sagte, es wiederhole sich immer die alte Geschichte: sie täte erst fürsorglich und bedauerlich, worüber er dann weich würde, zumal er doch keine Mutter mehr hätte, aber immer wieder mißbrauche sie seine Gutmütigkeit und nähe ihm die Jacke flottweg ans Fell. Er schrie laut übers Wasser, sie solle jedes Nähen lassen, und zappelte wie ein ungeheurer Fisch am Zwirnsfaden. Karl Kröger schimpfte über die Unruhe. Die kleine Kuff lachte so stark und innerlich, daß es aussah, als wenn sie heftig litt. Der kleine stramme Meister sagte mit ernstem, ruhigem Tadel: »Du hast alle deine Schlechtigkeiten richtig wieder mit an Bord gebracht. Ich brauch' sie dir nicht aufzuzählen, Eva Gött!«
Sie verteidigte sich ernsthaft: ob sie den Menschen so laufen lassen könne, der schon an und für sich durch seine Größe alle Kinder erschrecke? Ob man ordentlich nähen könne, wenn so ein Tölpel wie Karl Kröger am Ruder säße? Man solle ihr das Ruder geben!
Da hoben sie alle die Hände und sahen einander an, als wenn sie jetzt völlig irre redete, und sagten: »Gott bewahre, das haben wir einige Male getan! Nie wieder! Nie wieder! Das nicht! Wenn du etwas tun willst, so halte deine schmucke Nase schräg, daß wir der blauen Möwe vorbeilaufen, die uns wieder den Wind wegnehmen will.« Und nun schalten und wüteten sie alle nach der blauen Möwe hinüber, die ihnen richtig den Wind wegnahm, daß sie fast nach Luv kenterten.
Bei all dem Gewirr und Getue hatte sie immer noch eine kleine Gelegenheit, so im Vorbeistreichen ihn anzusehen, so eigen versteckt und fremd, und doch so lieblich selig, daß ihm Feuer über die Haut lief und aus den Augen sprang.
Der große Slahdood, der seine Augen auf sie geworfen hatte, war der einzige, der etwas merkte. »Was hat das Mädchen heute?« sagte er mit großem Drohen. »Sie hat ja ganz andere Augen, scheint mir? Was ist sie hübsch? Was tut sie verschämt? Was wird sie rot?« Und er drohte ihr mit gewaltigen Armbewegungen und einer Stimme, die von den Höhen widerhallte: »Was hast du vor, Teufelin? Willst du die Sirene spielen? Ein Schwung von mir, und du fliegst oben auf den Mühlenberg und bist unschädlich! Denn von daher reicht deine piepige Stimme nicht, und deine grünlich schillernden Augen auch nicht.«
Sie sah ihre beiden Gegner von oben bis unten an, so als wenn sie eine Stelle suchte, wo ihnen die Seele nicht ordentlich im Leibe säße, und fing an, boshafte Bemerkungen über sie zu machen, besonders über ihre braunen, narbigen Hände. Sie behauptete, sie schlügen absichtlich mit ihren Hämmern vorbei
und auf die eigenen Knöchel und Finger, um mit ihren Narben den richtigen Eindruck von Arbeitern zu machen. In Wahrheit ständen sie überall im Wege, und sie wüßte von einem Arbeiter, daß der kleine Meister wegen seiner Strammheit zuweilen als Lot eine Verwendung fände, und der große Slahdood als balkentragender Elefant.
Der kleine Meister mahnte sie wieder mit bedächtiger Stimme, nicht völlig den Verstand zu verlieren, wofür sie ihm die Schaufel auf die Füße warf. Da war ihre Geduld endlich am Ende. Der kleine Meister hielt ihr die Handgelenke zusammen, damit sie mal sähe, sagte er, was ein Schraubstock wäre, und der große Slahdood band ihr einen Strick darüber, und hielt sie so, wie ein störrisches Kälblein, an einer kurzen Leine.
Sie bat Karl Kröger um Hilfe, aber er sagte, es geschähe ihr recht. Sie warf einen Blick nach Jan Guldt; der aber sah zufällig übers Wasser. Da quälte sie die großen Jungen: sie könne nicht so stillsitzen, sie fröre entzwei und sie sollten sie loslassen. Sie glaubten es ihr nicht und sagten: »Wir kennen dich genau; wir wissen, daß deine Augen, wenn du ernstlich kalt wirst, blau werden; sie sind aber jetzt noch grün; also füge dich und laß dein Reden, es nützt dir doch nichts.« Als sie nach einer Weile wieder mit sehr beweglicher Stimme bat, wurden sie unsicher und sagten: »Es ist ja freilich wahr, man kann den Süllberg durch deine Backen hindurchsehn, aber wir glauben dir nicht, weil du uns immer betrügst, und, wenn dir das gelungen ist, uns noch dazu verhöhnst. Es wird uns nicht leicht, aber wir müssen hart gegen dich sein; deine Eltern sind immer zu gut mit dir gewesen.« Als sie aber schließlich behauptete, sie fühle schon, wie ihr Herz langsamer und leiser schlüge, und zugleich die Brauen hochzog, daß sie wie hohe, bange Bogen über den Augen standen, ließen sie sie los, worauf sie sich still und artig neben Karl Kröger ans Ruder setzte, und dann und wann so ganz verloren die schimmernden, grünen Augen in Jan Guldts warf.
Als sie aber so saß, dauerte es nicht lange, da lag ihre Hand neben der von Karl Kröger auf dem Ruder. Und bald schob sie Karl Krögers Hand ganz langsam und sicher vom Ruder herab. Und bald, da er notwendig seine Pfeife stopfen mußte, hatte sie auch das Großschot in der Hand.
Sie sahen es alle. Sie wußten auch alle, daß es eine bedenkliche, ja ungeheuerliche Sache wäre. Aber, was sollten sie machen? Wenn Karl Kröger meinte, er könne es verantworten? Es war ganz seine Sache! Was ging sie das an? ...
Es ging eine Weile ganz gut. Aber dann, plötzlich, fiel sie vom Wind ab. Der Wind schoß breit und heftig ins Segel. Im selben Augenblick schoß schon das Wasser ins Boot. Und nur die Geistesgegenwart Karl Krögers, der ihr das Großschot aus der Hand riß, und das gewaltige Gewicht Slahdoods, der die Hände an der Want, seinen mächtigen Oberkörper außer Bords warf, richtete das Boot wieder auf.
Sie schimpften und tobten lärmend, wie alte Seehelden, und gossen alle Mann das Wasser heraus und wurden sofort einig, daß sie mit einem solchen Menschen an Bord nicht weiter segeln könnten, und stießen dabei unheimliche, dunkle Worte aus, so, als wenn sie die Sünderin, sobald sie das Land erreichten, sofort zerstückeln und verbrennen würden. Die kleine Kuff saß mit krummem Rücken und sah mit tränenden Augen auf den großen Slahdood, der am lautesten schrie und die Augen rollte, und die großen Hände nach dem Lande ausstreckte, wo Gericht sein sollte, und lachte stumm und heftig.
Die Sünderin sagte mit großen zornigen Augen: »Warum gab Karl Kröger mir das Steuer, und gar das Großtau? Der Mensch ist ja völlig von Verstand! Hat er die Schuld oder ich? Ihr wollt es ja gerade so haben, und seid niemals eher zufrieden, als bis es so gekommen ist!«
Sie schüttelten die Köpfe, und der kleine stramme Meister sagte ruhig und bedächtig: »Du bist ja immer schlimm, Eva Gött; aber heute bist du verrucht; ich überlege mir wohl, was ich sage. Aber wir werden ja sehen, woher es kommt. Vielleicht fängt die Liebe bei dir an. Vielleicht wirst du krank! Wir können aber darauf keine Rücksicht nehmen; wir werden strafen, wie unser Gewissen verschreibt.«
Sie hielten aufs Land zu und rutschten unterhalb des steilen Abhangs auf den Sand. Der große Slahdood stieg aus, nahm Eva Gött, die ihre Arme sofort um seinen Hals schlug, dazu noch allerlei nasses Segelwerk und den Eßkorb, und ging so aufs Trockene. »Bist du verliebt?« schrie er. »Rette dein Leben und sag', daß du in mich verliebt bist!«
Aber sie lachte an seinem Hals und schüttelte den Kopf, und warf ihre Augen in die Jan Guldts, die überselig lachten.
Sie fanden eine Stelle, wo sie, an Sträuchern sich haltend, hinaufklettern konnten, und stiegen unter vielem Schelmen und Lärmen hinauf und breiteten oben auf der steilen, windigen Höhe in einer kleinen Senkung, die von Eichenkratt und jungen Tannen umstellt war, ihre Vorräte aus und aßen anfangs in leidlichem Frieden.
Als aber der größte Hunger gestillt war, fing der kleine stramme Meister mit der Untersuchung an und sagte in seinem ehrenfesten dunkeln Brustton und mit einem Atemholen, das zu Beginn solcher Sitzungen ständig zu sein schien: wie sie dazu gekommen wäre, das Boot fast auf die Seite zu legen? Es wäre von größter Bedeutung, daß man dies entdecke. Sie wisse wohl nicht, was in ihrem Innern vorgegangen wäre?
Sie ging mit ihren jungen Augen über alle hin, offenbar guter Dinge und voll Behagen, daß sie sich alle Gedanken über sie machten und sagte: »Das weiß ich ganz genau. Ich sah Slahdoods Beine so lang und breit durchs ganze Boot liegen; da war ich neugierig, zu sehen, wie er sie zusammensuchen würde, wenn das Boot plötzlich volliefe. Es war sehr komisch. Was ist denn sonst dabei? Wir können ja alle schwimmen; auch waren fünf Boote in der Nähe.«
»Du hast ganz recht,« sagte er ernst und freundlich; aber es war lauter Hohn. »Was ist dabei? Wir sind ein bißchen naß geworden, und wir haben unsre schöne neue Schaufel verloren.«
Sie sagte: »Die hat Slahdood gestohlen.«
»Ruhig!« sagte er finster, »das ist eine törichte Rede! Du weißt, daß es erlaubt ist, Ruder, Schaufeln, Dollen, überflüssiges Tauwerk und dergleichen zu nehmen; ja, wenn man nicht entdeckt wird, sogar ein ganzes Beiboot. Aber aus Unfug ein ganzes Boot voll Wasser werfen, das ist nicht erlaubt. Man tut es nicht, Eva Gött! Man segelt; man segelt gut; man segelt scharf; ja, man wirft wohl gar mal um, wenn der Augenblick der Leidenschaft gekommen ist. Aber man segelt nicht schlapp; man segelt nicht falsch; und man wirft ein Boot nicht um aus Unfug. Denk einmal einen Augenblick nach und sage: Wie entsteht es in deiner Seele? Was bricht zuerst durch dein Gehirn? Neugierde, sagst du, wie Slahdood seine Beine zusammenbrächte?«
»Ja,« sagte sie, und sah ihn behaglich an. »Es ist gerade so, wie mit der alten Mausefalle, die wir zu Hause haben.«
Sie saßen alle mit offenem Mund. Der große Slahdood schrie rauh auf.
»Ruhig,« sagte der kleine Meister mit großem Mitleid. »Rede weiter, Eva Gött! Versuch', uns zu sagen, welche Ähnlichkeit zwischen deiner ehrlosen Tat und eurer alten Mausefalle ist.«
Sie sah wieder alle an und sagte: »Wenn ich die Falle abends aufgestellt habe, dann schnappt sie meist von selbst, ganz ohne Grund, wieder zu, manchmal nach einer halben Stunde, manchmal mitten in der Nacht. So schnappt es auch in mir, ganz plötzlich, ohne Grund, manchmal dann und manchmal dann.«
Sie nickten alle verständnisinnig, als wenn sie sagten: So haben wir es uns gedacht!
Der kleine Meister winkte ruhefordernd mit der Hand. »Du willst also sagen, daß es etwas völlig Unaufgeklärtes, etwas Mystisches ist; es kommt aus der dunklen Tiefe, in der Geister und Ungeheuer brauen, wie im Beowulf, der hier irgendwo in dieser Gegend gespukt hat.«
Jan Guldt, der vom Beowulf nichts wußte, sagte plötzlich hitzig: »Freilich kommt es aus der Tiefe, nämlich aus der Tiefe ihres Geschlechts, von ihren Vorfahren, denke ich.«
Sie sahen alle auf ihn, erstaunt, daß er in diese würdige Verhandlung eingriff, die Meisters Privileg war, und über sein Gesicht, in dem die hellste Güte lachte. Eva Gött sah ihn auch an und dachte in lauter Seligkeit: ›Du lieber, lieber, wundervoller Mensch!‹
»Wieso?« sagten sie alle.
»Ja,« sagte er mit hellem Lachen. »Sie hat ihr Wesen gewiß von ihren Vorfahren. Ihre Eltern, oder Großeltern, oder noch weiter zurück, die Voreltern, sind wohl einsame und wunderliche Leute gewesen. Der eine hat vielleicht, wenn er auf seinem Fischewer wochenlang einsam in der Nordsee trieb, in seiner Kajüte einen toten Butt auf den Tisch gelegt und dann, als Grabmal über ihm, aus den harten Weizenklößen, die seine Frau ihm mitgab, eine Pyramide gebaut, die zu seiner Verwunderung immer wieder zusammenfiel. Seine Frau hat vielleicht, wenn sie zur selben Zeit, zu Hause, allein in ihrem Bett lag, die Gewohnheit angenommen und ausgebildet, sich auf alle vier Seiten zu werfen, und dabei jedesmal zu fragen: ›Wo ist nun die fünfte?‹ Und so weiter. Es ist sicher, daß sie von einer solchen Art von Leuten abstammt. Das sieht man ihr ja auch an.«
»Nun seht ihr,« sagte sie großartig, »daß ich gar keine Schuld habe!«
»So ist es doch nicht,« sagte er eifrig und mit fröhlichem Zorn. »Sie hat die Pflicht, wenn die Großeltern in ihr den grauhaarigen Kopf heben, ihren wunderlichen Willen zu dämpfen. Wenn der Pott plötzlich überkochen will, muß sie sagen: Halt stopp! und muß ihn mit einem neuen Einfall plötzlich vom Feuer weg auf die kalten Steine setzen.«
Sie sah hinter seinen Augen die brennende Liebe und es lief ihr wieder durch alle Glieder, und verwirrte ihre kleine heiße Seele so, daß sie die Hände, die sie erheben wollte, um ihr Haar aus den Schläfen zu streichen, nur bis zu den Ohren brachte, so daß sie wie eine anmutige kleine Henkelfigur dasaß, und ihn schämig fröhlich ansah.
Aber Slahdood rief mit großer Stimme: »Wer glaubt das?« und sah sich wild um. »Glaubt einer dem Gesicht, das sie jetzt macht? Genug der Reden! Es spricht aus ihrer Tat eine solche Ehrlosigkeit, und der Spott heute abend im Klub wird so vernichtend sein, daß ich vorschlage, wir stoßen sie hier den Abgrund hinab, was zugleich ein rechtes Symbol ist, daß wir sie aus unserer Gemeinschaft stoßen, und daß sie in die Tiefe gehört.«
Sie kroch in einiger Sorge an den Abhang und sah hinunter und sah, daß er steil war, aber doch bis ganz hinunter rutschbar und sagte: »Das wäre etwas für dich, Slahdood, hier hinunter zu fahren. Da könntest du einmal eine Tat tun, die deinem großen Mund entspräche. Damit auch er Vergnügen davon hätte – denn er ist das Vergnügungssüchtigste an dir – würden wir dir erlauben, beim Hinunterfahren wie zehn Stiere zu brüllen.«
Slahdood ging auch auf den Knien an den Rand, sah hinunter und sagte: »Es ist zu steil. Man kommt rasch unten an, aber wie!«
Nun knieten sie alle und sahen über den Rand den Absturz hinab, der wohl dreißig Meter war, und sahen wohl, daß die ganze Fläche schön eben hinabging, aber sagten alle: »Es ist viel zu steil.«
Jan Guldt, der so oft von der hohen Bramstenge herab aus die wogende See gesehn und vor jeder Waghalsigkeit wie ein junger Jagdhund gierte, sah auch hinunter, und sagte leise und zornig zu sich selbst: »Wenn man will, muß man da doch hinunterkommen können?!« Er fühlte nicht mehr, wie ihm eine Hand weich über den Ärmel strich. Er hatte mit einem Ruck die Jacke fortgeworfen, und, indem er den Kopf mit wildem Willen zurückwarf, die erhobenen Arme als Steuer, glitt er rasch und sicher mit dem Hinterkopf den Sand pflügend herab, und landete unten auf den Füßen.
Slahdood lobte die Fahrt mit lauter, tobender Stimme. Der kleine Meister sagte mißbilligend und bedeutsam: »Er sagte zu Eva Gött, sie solle ihre Launen vom Feuer setzen; aber er selbst läßt sie überkochen.« Karl Kröger war blaß geworden und sagte: »Er nimmt es immer gleich als Ehrensache, so ganz für seine eigne Rechnung, und ist dann unvernünftig, eigensinnig und wild. Sein Großvater, der Kaptän bei Hollmann war, soll auch so'n wilder Mensch gewesen sein.«
Eva Gött kniete am Rand, verschlang ihn mit den Augen, wandte sich um und sagte zornig: »Schwatzt doch nicht von seinem Großvater. Wenn er mir gefällt, was geht es euch an?«
Da lachten sie alle und sagten: »Nun ... wer will euch denn auseinanderbringen? Zwei überkochende Töpfe auf demselben Feuer: das wird ein Gebrodel!«
Er kam wieder herauf, ein wenig blaß und mit kalten Augen. Die Mädchen räumten das Eßgeschirr beiseite. Die Knaben waren dabei, sich Platz auszusuchen, um ein wenig Mittagsruhe zu halten.
Der große Slahdood erhob seine Stimme und fragte: »Wo willst du liegen, Eva Gött?«
Sie sah rasch um sich und erkannte, daß sie Jan Guldt würde sehen können, wenn sie sich neben Slahdood legte und sagte scheinheilig: »Ich bin ja immer gern bei dir,« und legte sich neben ihn, und ihren Kopf auf seinen Arm, den er ausgestreckt für sie hingelegt hatte.
So lag sie und sah nach Jan Guldt hinüber, der, den Kopf auf die geballte Hand gestützt, über Wasser und Land sah, und nicht nach ihr hinüber, damit sie es nicht so heftig nähme, und auch rechte Mittagsruhe hätte und einschliefe. Sie aber dachte nicht an Schlafen, sondern wollte seine Augen fangen. Da sie es nun nicht vermochte, wurde sie unruhig und bewegte sich.
Slahdood sah zur Seite auf sie und empfand wieder mit dumpfen Sinnen die Veränderung, die neue frische Süßigkeit ihres Wesens, und sagte leise und grimmig: »Ich kann es ertragen, wenn du still liegst. Wenn du dich bewegst ... das kann ich nicht ertragen.«
Sie dachte: ›Was geht mich der große tapsige Mensch an?‹ Lag eine Weile still. Dann bewegte sie sich wieder.
Da sagte er zum zweiten Male ernster: »Du bist heute anders, als sonst, Eva Gött. Ich habe nichts dagegen. Aber du liegst jetzt still. Sonst passiert, was du noch nicht erlebt hast.«
Sie dachte wieder: ›Was geht mich der große Mensch an?‹, lag eine Weile wieder still; dann bewegte sie sich wieder.
Da sagte er zum dritten Male als ein ehrlicher Mensch und in großer Not mit leiser, ernster Stimme: »Eva Gött, ich kann das nicht ertragen; ich bin ein sterblicher Mensch. Lieg still, sonst geschieht etwas Furchtbares.«
Sie dachte wieder: ›Was geht mich der große Mensch an‹?, und lag eine Weile wieder still, dann bewegte sie sich.
Da bog er seinen Arm, in dem sie lag, und zog ihren Kopf so an sich heran, und küßte sie, daß sie nicht atmen konnte.
Sie war betäubt vor Überraschung, Schmerz und wildem Zorn. Davon stockte ihr der Atem. Und sie wurde auf der Stelle ohnmächtig, was ihr noch nie im Leben passiert war.
Jan Guldt hatte die ganze Szene in den Augenecken gesehn und meinte, sie hätte nach ihm hinübergeschuhlt, um zu beobachten, ob sie sicher wären, und schelmten und küßten da heimlich, und hätten es schon oft und immer so gemacht. Er stolperte totenbleich auf, und stürzte lautlos ins Gebüsch, das hinter ihm zusammenschlug.
Er stürzte davon. Er bohrte die Hände in die Höhlen der Augen, die entsetzt waren von dem, was sie gesehen hatten und immer noch sahen. Völlig außer Fassung, verzweifelt, entsetzt, lief er über das lichte, sandige Feld ins Land hinein, und lief so stundenlang. Zuletzt saß er lange unter einer dürren Tanne und starrte mit fliegendem Atem über das Feld, und starrte in völlige Vernichtung seines Lebens. Heiße Tränen stürzten ihm aus den Augen.
Nach einigen Stunden kam er soweit, daß er an seine Brust griff und seinen Atem zwang, langsamer zu gehen, und mit wilder Kraft nach Haltung suchte.
Und wie er sich so zusammenriß und das Entsetzen unter sich zwang, schoß er bei seiner Natur sogleich weiter, und geriet sofort in einen wilden, eiskalten Hohn: Unglück über Unglück über ihn! Schande und Armut! Und Elternlosigkeit und Einsamkeit und Untreue! Es war ganz und gar sinnlos, wie es ihm in der Welt ging, und wie es überhaupt in der Welt zuging! Aber er wollte es wohl überstehn! Der Mensch kann auch allein seinen Weg durch die Welt gehn, und das Rechte tun und auf sein Recht bestehen, einerlei ob Gott oder Menschen ihm beistehn oder nicht.
Er irrte noch stundenlang in dem hohen, dürren Feld dahin, indem er von Hügel zu Hügel ging und zu den Tannengruppen trat, und die Hände gegen die Brust preßte, ruhiger zu atmen, und sich immer mehr steilte, so wie die Bäume, zwischen denen er stand, steil und stuk in der dürren, sandigen Erde standen. Es war schon Abend und dämmerig, als er von der Straße her nach Oevelgönne und ins Haus der Alten kam.
Als er in die niedrige Stube trat, die von den hohen dichten Linden schon dunkel war, saß die alte Frau mit ihrem Strickzeug auf dem gewohnten Platz am Ofen. Auf der Bank aber am Fenster, auf der er geschlafen und gelernt hatte, saß ein älterer Mann mit kleinem, schmalen, kurzgeschorenen Kopf und scharfen, unsteten Augen, die wie von Fieber glänzten.
Er wußte gleich, daß es der Sohn der Alten war, und wunderte sich, daß er so aussah. Der Trunk hatte dem Gesicht noch nichts von seiner Schärfe genommen; er hatte nur den fiebrigen Schein erhöht, der in den Augen stand.
»Da ist er,« sagte die Alte zu ihrem Sohn.
Der Bootsmann beugte sich vor und legte die magere Hand um die Tischkante und sah mit bange suchenden Augen in die von Jan Guldt, die kalt und scharf wie Messer waren, und sagte mit werbender, drängender Stimme: »Sag' mal ... hättest du nicht Lust ... eine Reise mit der Anna Hollmann zu machen... gerade mit der Anna Hollmann?«
Jan Guldt sagte jäh überrascht und hochfahrend: »Warum soll ich das?«
Der Bootsmann schob die Hand noch weiter an der Tischkante entlang, und umklammerte sie, daß die Knöchel seiner braunen, mageren Hände weiß waren, und sagte: »Du brauchst bloß zu sagen, daß du mit willst!«
Er sagte kalt und höhnisch: »Das weiß ich. Die Leute laufen euch ja immer wieder weg, sobald sie können.«
Der Bootsmann drängte seine hagere Brust gegen den Tisch und warb mit hervortretenden Augen und heiserer Stimme: »Möchtest du nicht mal auf dem Schiff fahren, auf dem dein Vater und dein Großvater gefahren hat? Und ... hör' mal ... in Madeira bekommen wir einen Passagier: Hans Hollmann, den Chef. Möchtest du nicht mal einen Hollmann nahebei sehn?«
Da glühte ein verstecktes Feuer durch seine Augen. Ja ... ja! Das kam zur rechten Zeit! Ja ... dem Hollmann zu Leibe! Ja! Was sollte er sonst? Es war ihm grade zu Mut danach!
Er sagte kurz und hochfahrend, fast jubelnd: »Ich fahre mit.«