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Jeder Dorfmann in Schleswig-Holstein weiß, daß Jacke und Hose von Blauleinen die richtige, alte Stalltracht ist, die, nebenbei bemerkt, einen stattlichen Mann sehr gut kleidet. Es ist freilich zu sagen, daß solch Blauleinen im Laufe der Zeit an den Stellen, wo viel Reibung und Nutzung ist, hellblau wird, während die geschonteren Stellen alte, dunkle Bläue behalten. Diese Buntheit kann dadurch noch erhöht werden, daß die Hausfrau neue, tiefblaue Flicken auf die Kniee und auf die Brust setzt; dann kann das Aussehen des Mannes so mannigfach werden, daß es schwer wird, zu glauben, es stecke ein ehrlicher, holsteinischer Mensch in dem bunten Josephsrock.
Es war bei Rendsburg auf der Loher Heide, und Frankreich hatte vor vier Tagen den Krieg erklärt.
Vor vier Tagen war der Gefreite Lohmann – der erst in diesem Jahre an den Folgen der Kriegsstrapazen gestorben ist – ins Lager gejagt und hatte dem Lagerkommandanten eine Depesche gebracht. Eine Minute später wußten alle Batterien: es geht gegen Frankreich. Da waren sie ohne Kommando, wie wenn Alarm geblasen wäre, an 250 die Pferde gesprungen und hatten mit fliegenden Händen angefangen, zu satteln und zu schirren. Sie meinten, es ginge sofort los.
Hans Lohmann, des Gefreiten Bruder, zweite Schwere, Nummer drei, rechts am Geschütz, Wischer und Ansetzer, war vier Wochen lang stumm und starr. Erst am dritten Tage nach Gravelotte wurde es wieder klar bei ihm. Erstens begriff er nicht, warum es nicht sofort losging, zweitens, warum die Franzosen nicht am anderen Tage auf der Loher Heide erschienen, drittens, als die Batterien endlich unterwegs waren, wie es möglich wäre, daß die Welt so groß wäre; er hatte geglaubt, die Franzosen wohnten gleich hinter Hohenwestedt und Heinkenborstel. Zu dem geographischen Irrtum kam ein sittlicher: Was der Hauptmann ihnen von altem Recht und von Liebe zum Vaterlande und von großen Hoffnungen gesagt hatte, das hatte er nicht verstanden. Aber nachher hatte der Gefreite Lindemann, der für ihn dasselbe war, was für die dunkle Stube die helle Lampe, ihm kurz gesagt, daß die Franzosen den alten König beleidigt hätten. »Sie haben so gethan, Lohmann.« Und er hob die Hand zum Schlage.
»Wie alt ist er?« fragte Lohmann.
»Über die siebzig hinweg.«
Von Stund an, als er das hörte, hatte Lohmann klare Erkenntnis und gutes Gewissen. »Wenn sie den alten Mann ins Gesicht schlagen, dann haben wir das Recht, ihnen an die Jacke zu kommen.«
Also herrschte bei Lohmann II einige Dunkelheit.
Bei Hauptmann Gleiser aber war helles Licht.
Was hat der Mann in diesen sieben Tagen bis zum Auszug gearbeitet! Hat er nicht drei Tage lang, vom Morgen bis zum Abend, wie ein Pfahl im Sande gestanden 251 und Menschen und Pferde gemustert? Und nie war es ihm gut genug. Der ist in diesen Tagen auch mehr als einmal starr gewesen. Er, Hauptmann Gleiser, Seiner Majestät schönster Offizier, wie er selbst sagte: er hat in diesen Tagen mehr als einmal behauptet, daß er die schlechteste Batterie hätte, die nach Frankreich zöge.
Die Schmiede war zum achtenmal an ihm vorbeigefahren, mit sechs gleichen Rappen bespannt, Schritt, Trab, Gal . . . lopp . . . So! Das klappte. Da entstand unten ein Gedränge. Ein langbeiniger Gaul, ein schönes Tier, wollte nicht länger gut thun. Er riß am Halfter, hoppte, kam zwischen die Reservisten, die da mit ihren Bündeln standen, und schien auf seinen Hinterbeinen Polka tanzen zu wollen.
»Wollen ihn kirre machen!« schrie der Hauptmann. »Den Braunen vor.«
Der Fahrer, mit starkem Schwunge hinaufgehoben; eben oben, lag er schon auf dem Rücken im Staub.
»Laß dich auf der Stelle begraben! Gefreiter Jürgens! hinauf! Mit den Kerlen nach Frankreich!? Ich gehe allein! Ich gehe ganz allein!«
Gefreiter Jürgens lag in der Höhlung im Sande, die der Fahrer gemacht hatte.
Hauptmann Gleiser sah sich um. Er sah sich um wie ein Mensch, der, im Centrum der Welt stehend, nur sich selbst als Menschen anerkennt. Er wollte das Pferd reiten. Es ist der Mühe wert, dreihundert geringwertigen Menschen zu zeigen, was Hauptmann Gleiser kann. So, mit solchen Gedanken, sah er sich um.
Unter den Reservisten, die da noch in ihren Civilkleidern standen, hundert und einigen Mann, stand einer ein wenig abseits, in einem alten, blauleinenen Anzug, auf dem große, neue Kniestücke frisch aufgesetzt waren. Er war bei 252 ziemlicher Länge und Hagerkeit eine Rassefigur, breitschulterig, gerade und von stolzem, schmalem Gesicht. Mancher Fürst im Vaterlande würde wünschen, daß Gestalt und Gesicht dieses Bauernjungen in seinem Hause erblich wäre. Auf dem hellen, fast weißen Haar hatte er eine blaue Schirmmütze, und in der Hand hielt er einen mäßigen Koffer. Den Mann entdeckte Gleiser.
»Gefreiter Uhl!« schrie er.
Der kam heran.
»Leichtfüßiger sind Sie nicht geworden,« schrie er. »Ist der Alte Holzschuhmacher?«
»Bauer, Herr Hauptmann.«
»Ist mir ganz egal! Können Sie den Deubel reiten, oder sind Sie auch so'n gebeulter Theekessel . . . Los!«
Jedermann von den Männern, der an dem Tage auf der Loher Heide gewesen – die noch leben, haben graues Haar –, der weiß, wie steif und bedächtig der Gefreite Uhl aus Wentorf den grauleinenen Koffer in den Sand stellte, und wie er sich wieder aufrichtete, als knackten ihm alle Gelenke; und wie er, als er sich wieder aufgerichtet hatte und die Hand an den Braunen legte, ein anderer war, wie seine Augen sich aufrichteten, wie aufspringende Löwen, wie er hinauf flog, wie der Braune bäumte und bockte und sich drehte und sich schüttelte, und zuletzt über den Sand jagte, daß er in einer Staubwolke verschwand, und nichts unversucht ließ, um nicht mit nach Frankreich zu kommen; wie er dann aber den Kampf aufgab, und der Gefreite Uhl, den Kopf ziemlich hoch, auf ihm wieder zurück kam.
»Uhl,« schrie Gleiser, »Sie reiten das Pferd und sind Geschützführer vom sechsten Geschütz.«
So zog Jörn Uhl als Unteroffizier in den Krieg.
* * *
253 Acht Tage später zogen sie bei strömendem Regen durch die lange Pappelallee, welche die Vierundsiebziger vor sechs Tagen durchquert hatten, als sie gegen die Spicherer Berge stürmten. Es war ein jämmerliches Wetter und alle etwas müde und geschlagen.
Wer es erzählte oder gesehen hatte, blieb unbekannt: Sie sahen den alten General reiten, und einer sagte es dem anderen: »Er hat eben gesehen, daß sie mit Trommelschlag einen Offizier begruben; dort links von den Bäumen. Da ist er herangeritten und hat gefragt: ›Wen begrabt ihr da, Leute?‹ ›Unseren Hauptmann!‹ ›Laßt mich ihn noch einmal sehen,‹ hat der Alte gesagt, ›es ist mein Sohn.‹«
Gleich nachher ritt er mit seinem Adjutanten an den Batterien, die im Regen dahinzogen, vorüber. Er war keine gute Figur zu Pferde, zu dick und zu kurz. Sie sahen ihm nach und zogen weiter.
Ein jämmerliches Wetter. »Sieh da, drei tote Pferde! Junge, die sind dick geworden!«
»Du, was bedeuten die langen Beete? Das ist ja merkwürdig: da haben sie Säbel hineingesteckt?«
»Kannst nicht sehen, Mensch? Das sind frische Gräber.«
»Für Menschen?«
»Ja, für Menschen. Für wen sonst? Nun laß dein dummes Reden!«
»Sieh! Da steckt ein Gewehr in der Erde. Das hat einer als Krücke gebraucht. Die Krücke steht noch; er nicht mehr.«
Jämmerliches Wetter. Wie der Regen durch die Bäume schlägt!
Die Geschütze rasseln und klirren langsam vorwärts. Gräber. Lauter Gräber. Und die Pappeln sind abgeschält, und zerbrochene Zweige zeigen ihre zersplitterten Knochen.
»Wir kommen nicht an den Feind . . . Wir 254 Schleswig-Holsteiner? . . . Nie und nimmermehr! . . . Wir sind den preußischen Eisenfressern viel zu unerfahren und wabbelich. Wir ziehen nur zur Parade mit. Wir sind bloß da, um hinterdrein zu fahren.«
»Die Sechsundsechzig mitgemacht haben, die müssen es ausfressen.«
Wer die Meinung aufgebracht hat, und ob sie richtig ist, das fragt kein Mensch.
In der Nacht biwakierten sie auf den windigen und nassen Höhen westlich von Spichern und warfen vierzehn französische Wagen, die da standen, in die Wachtfeuer. Sie waren alle still und bedrückt, wenn auch viele laut lachten und viel sprachen. Der Feldwebel knurrte die ganze Nacht, daß die schönen Wagen verbrannt würden, und ließ gegen Morgen die Eisenteile auf den Feuerstätten zusammentragen und freute sich, daß er sieben Franken für die Batteriekasse gewann.
Die Batterien zogen weiter. Es wurde mühselig. Dies ewige: weiter, weiter. Lieber 'mal 'ran an den Feind, ihn schlagen und dann wieder nach Haus. »Wer soll sonst pflügen und säen? Der Herbst kommt heran. Vater kann nicht allein für den vollen Stall sorgen. Und die Mutter? Und das Mädchen?«
»Wir ziehen immer weiter in Frankreich hinein! Ich glaube: wir haben Weg und Steg verloren. Wenn die Geschichte man gut geht.«
Weiter, immer weiter!
Wie ist Wentorf klein geworden! Wentorf, Mittelpunkt und Nabel der Erde! Es giebt ja wohl zehntausend Dörfer in der Welt und Menschen wie Sand am Meer. Erst war ihre Batterie allein gewesen, damals, als sie auf zwei Dampfschiffen über die Elbe setzten. Dann waren sie 255 Regimenter geworden, dann ein Korps, dann ein Heer. Seit gestern waren sie ein Volk.
Die Batterie hielt am vierzehnten auf einer Anhöhe, an einem Kreuzwege. Neben Jörn Uhl hielt Hauptmann Gleiser. Da lagen und marschierten Regiment an Regiment, Kanonen und Reiter und endlose Wagenzüge, Mensch an Mensch, bis an die Höhen in dunstiger Ferne.
Da wandte Gleiser sich um: »Uhl, was sagen Sie?«
Jörn Uhl starrte hin und sagte nichts.
»Sie Bauer! Das Vaterland, Deutschland reißt sich aus alter Not!« Er warf das Pferd herum und sagte nichts.
Da sah Jörn Uhl noch einmal auf, und sah all die ziehenden Menschen, die alle nach einem Ziele strebten, und fühlte die Größe der Zeit.
In der folgenden Nacht zogen sie bei Fackelschein über einen Fluß.
Am sechzehnten hörten sie Kanonen von ferne, zur Rechten, von Höhen herunter. »Da giebt es ein wenig Geschützkampf! Sieh 'mal an! Aber zweitausend Schritt! Ein wenig Feuerlärm!« Weiter dachten sie nicht nach.
Es kam aber etwas wie Neugier über sie; und über das Ganze kam eine Unruhe, wie eine Jägerunruhe.
Der achtzehnte brach an, und sie sahen wieder, wie vor vierzehn Tagen, frische Gräber, diesmal in der hellen Sonne.
Elf ist die Uhr.
»Ein schöner Tag.«
Wenn nur die Gräber nicht wären.
Es war doch gut, daß sie in der Reserve blieben. Vorgestern und so immer. Immer hinterher. »Wir sind ja viel zu junge, frischgebackene Truppen, dazu aus der neuen Provinz. Wir kommen nicht an die Front. Und das ist gut . . . Und das ist schade . . . Nein . . . es ist doch gut. 256 Ich muß zu meinem Vater . . . Ich muß zu meinem Mädchen. So jung noch! Ich will noch 'was erleben! Zehn Jahre will ich noch leben. Dann meinetwegen.«
Elf ist die Uhr.
So still wie am Sonntag in Holstein. Nur das Klappern und Stoßen der Geschütze und das Knarren und Janken des Lederzeuges.
»Merkwürdig! . . . Da vorne rechts! . . .«
»Siehst du? . . .«
»Die Schwere biegt wahrhaftig vom Wege ab auf die Höhe!«
»Dort rechts, Mensch! Kannst nicht sehen?«
»Was will die da?«
»Weiß ich es?«
»Wie still und schön ist der Tag.«
»Wir kriegen in diesem ganzen Feldzuge kein Pulver zu riechen. Bald heißt es: umkehren in die Heimat!«
»Es ist doch dumm, so wiederkommen und nichts erlebt haben! Nachher kommen die großschnauzigen Preußen und reden hinterm Bierglas von ihren Heldenthaten, daß die Balken sich biegen, und wir müssen das Maul halten.«
»Jan Busch, wo hast du die Pfeife her?«
»Die gab mir meine Wirtin in Dingsda, und ich sollte an sie denken.«
»Sieh! Da oben die erste Reitende!«
»Siehst du?«
»Was will die da oben? . . . Mensch, was bedeutet das?«
»Gut schwenken die jungen Pferde!«
»Da stehen die sechs.«
»Das ist so ein übereifriger Hauptmann.«
»Vater sagte: bei Idstedt . . .«
»Mensch, red' nicht von Idstedt!«
»Was ist das?«
257 »Die feuern? . . .«
»Die feuern? . . .«
»Batterie . . . trr . . . aab . . .«
Hauptmann Gleiser sieht über seine Batterie hin.
Den Blick vergißt keiner. Das ist Ernst.
Wer sieht noch etwas? Wer hört noch etwas? Wer redet noch?
»Batterie Galopp . . .«
Da hält Hans Detlef Gleiser auf seinem hohen, schönen Fuchs; die Sonne blitzt in seinem Helm und in seinen Augen. Das ist seine Freude, seine sechs Geschütze an sich vorüberjagen zu lassen und dann dem Fuchs die Sporen zu geben und noch als der Erste am Platze zu sein.
Der Major jagt ihnen entgegen. Er will wohl Stellung bezeichnen . . . Der Major sitzt gut zu Pferde, auch ohne Kopf . . . Wie grausig das . . . Nun stürzt der Tote herunter. Das Pferd rast weiter.
»Was ist das für ein Pferd, das gerade vor Jörn Uhls aufjagendem Geschütz vorüber rast? Reitet Oberst von Jagemann diesen Braunen?« Seine Seite ist naß und rot von Blut.
»Im Avancieren . . .«
Die Pferde fliegen zur Seite.
Mit Granaten geladen! Auf das feindliche Lager!
»Achtzehnhundert Schritt.«
Nun keine Gedanken mehr.
»Es ist nicht möglich.«
Keine Gedanken mehr. Ruhig Blut!
Die weißen Zelte . . . Da laufen Menschen. Tausende ziehen dort hin und her, stehen da in Rauch.
Pjj . . jj . . juu . . juu . . Ein Sausen und Pfeifen schwillt auf und ab.
258 »Ruhig Blut, Jungens! Wenn ihr's hört, ist's vorüber.«
Es fliegt hoch singend vorbei, schlägt hart vom Radreif ab . . . verkriecht sich mit kurzem, sirrenden Ton in den Leib des Stangenpferdes. Das zittert und fällt zur Seite. Der Stangenreiter sieht es mit zorniger Miene an. »Was so einem Tier einfällt?!« . . . Pjjuu . . . Sein Zorn ist verflogen. Er hebt mit langgezogenem Schrei die Hände, als hätte ihn einer mit spitzem Pfahl ins Kreuz gestoßen, macht den Rücken hohl und stürzt hinterrücks vom bäumenden Pferde.
Jörn Uhl wirft den Kopf herum und sieht auf Leutnant Hax, der hat etwas gesagt; aber es ist nicht zu verstehen. Es brüllt und lärmt und klirrt und donnert.
Ist auch nicht nötig. Er weiß schon so.
»Geschütz vor! Geschütz vor!« Eins und zwei die Fäuste in die Speichen.
Granaten auf den Arm . . . der Verschluß ist offen.
»Tschuu . . . uu.«
Die Mücken da wollen stechen; da vorne: die lange, weiße Linie. Aber keine Zeit . . . keine Zeit. Wir müssen uns die Brummer vom Leibe halten . . . dort auf den Höhen.
»Auf die Batterieen! . . . Fünfzehnhundert Schritt.«
Nummer eins zieht ab. Das Feuer fliegt.
Aus dem Knallen und Krachen ist Melodie geworden. Ein Heer von schrecklichen Tönen fliegt und rast mit wahnsinnigen Augen und verzerrten Gesichtern über die Höhen.
Von halblinks her klingt immerfort ein Quäken und Kratzen, ein niederträchtiges Geräusch, als wenn einer mit Eisen in einen Haufen Glasscherben stößt. Eine Garbe davon fliegt quer über die keuchenden Menschen.
259 »Feuer!«
Das Feuer fliegt.
Jörn Uhls Augen fliegen mit. Das war ein Treffer.
Eine Garbe fliegt. Knatternd knirscht sie vorüber. Ein Leutnant kommt im Trabe gelaufen. Jörn Uhl wirft einen Blick hin. Der Leutnant wird gemäht und fliegt zur Seite. Sein Rücken ist plötzlich in Dunkelrot getaucht.
Leutnant Hax geht von Geschütz zu Geschütz, ganz wie auf der Loher Heide.
Einer stellt sich stramm vor ihn hin; das Blut leckt ihm vorn längs dem Beine herunter und bildet eine breite Biese, als wär's ein General.
»Abtreten.«
Der Mann geht fünf Schritt; dann taumelt er.
Einer sagt den Namen: »Sieh da. Geert Dose.«
Leutnant Hax bleibt plötzlich stehen, als hörte er auf ein Kommando.
»Uhl!«
»Herr Leutnant!«
Er dreht sich um. »Sehn Sie 'mal nach. Ich bin im Rücken verwundet.«
»Nichts zu sehen.«
»Kein Loch?«
»Kein Loch!«
»Na, . . . denn nicht . . . die grobe Batterie dort an den Bäumen!«
»Feuer! . . . das war zu kurz.«
»Feuer!«
»So ist es recht.«
Nummer zwei stolpert. Gefreiter Jan Busch. Er taumelt zurück und schlägt die Hände vor den Kopf, als sähe er plötzlich etwas Schreckliches, und fällt schwer 260 aufschlagend hintenüber. Mit gehobenen Händen bleibt er auf dem Rücken liegen, mit denselben entsetzten Augen. Jörn Uhl springt ans Geschütz.
Nummer fünf ist am Fuße verwundet. Stöhnend hinkt er heran und legt zu Jörn Uhls Füßen neue Granaten.
Leutnant Hax schreit den Pferdehaltern zu: »Weiter zurück.« Es sind noch drei Pferde. Die anderen liegen an der Erde.
Und noch drei Mann am Geschütz. Die anderen liegen an der Erde.
Jörn Uhl steht über der Lafette, hat den Kartuschentornister hinter sich, die Granaten liegen neben ihm auf der Erde. Er nimmt sie auf. Vorstecker und Zündschraube. Mit starrem Auge über Aufsatz und Korn.
Lohmann II zieht ab und braucht den Wischer.
»Lohmann!« schreit Hax. »Nicht so langsam, Mensch! Rühr di! Wir sind nicht auf der Loher Heide.«
Lohmann kann nicht anders. »Eins . . . und . . . zwei.« Ganz wie auf der Loher Heide.
»Feuer!«
Von links her kommt es fürchterlich näher und näher, knarrend und krachend.
Leutnant Hax greift nach seinem Rücken und seufzt laut: »Dee Lohmann . . . dat ist 'n Kerl. Dee kann nie anners.«
Hauptmann Gleiser reitet heran: »Gut, Leute! So ist's gut!«
Vier oder fünf Stabsoffiziere reiten zum zweitenmal vorüber und halten dicht hinter ihnen. Gleich spüren sie es: es surrt und brüllt . . . es splittert . . . es schlägt hart auf . . . es wühlt in der Erde. Das Pferd eines Offiziers fällt in die Kniee; der Reiter fliegt über den Hals weg, 261 springt auf und rennt auf ein Pferd zu, das zwischen den Geschützen durchjagt; er greift es; Jörn Uhl hilft ihm; schon sitzt er auf der roten Schabracke. Die Reiter traben ab. Die Mütze des Generals flaggt; ein Stück des Randes ist losgerissen; ein Stück Watte hängt heraus und fliegt nach.
Sie arbeiten am Geschütz; sie arbeiten im Schweiße ihres Angesichts. Immer zu. Immer zu. Sie keuchen und zielen, stoßen und schieben, rufen und fluchen. Es geht ein sonderbar kurzatmiger, heißer Wind, hin- und zurückstoßend. Die Erde wirft Feuer auf; durch aufwallenden Rauch blinkt es gelb. Aus den undicht gewordenen Verschlüssen fliegt bei jedem Abzug eine lange, rote Feuerzunge.
Sie haben keinen Gedanken als: arbeiten, arbeiten. Sie haben keine Sorge. Sie denken nur: »Es geht heiß her. Wann nimmt es ein Ende?« Sie denken nicht daran, daß der überstarke Feind, der im weiten Halbbogen auf sie dringt, in jedem Augenblick den Ansturm wagen kann.
Da kommt Nummer fünf von der Protze gelaufen: »Keine Granaten mehr!«
Nun ist die Not da, die bittere Not.
Sie stehen wie versteinert am Geschütz, Lohmann mit erhobenem Wischer; Jörn Uhl, die eine Hand am Verschluß, die andere im Grimm geballt, starrt vor sich in das Blitzen; Leutnant Hax kommt mit schweren Füßen heran und zeigt Lohmann den Rücken:
»Ist da noch keen Lock?«
»Ja, Herr Leutnant, nun ist da ein Loch, und Blut ist da auch.«
»Stehen kann ich nicht mehr. Weggehen mag ich nicht. Ich mag nicht.« Er spuckt verächtlich aus.
Da rast ein Stabsoffizier heran. »Warum feuern Sie nicht?«
262 »Keine Granaten.«
»In drei Deuwels Namen! So feuern Sie mit Kartuschen.«
»Befehl!«
Sie feuern blind, mit Leinwandfetzen . . . immer zu . . . immer zu . . . eine ganze Weile.
Jörn Uhl, über die Lafette gebeugt, langt in Gedanken nach rechts: da liegen da wieder Granaten.
Das geht besser.
Ein blutjunger Leutnant steht hinter ihnen und lobt sie mit hoher Stimme: »Gut, Unteroffizier! Sehr gut! . . . Kamerad!« Er grüßt zu Hax hinüber, der auf der Erde sitzt, mit dem Rücken am Rad der Protze. Aber Hax sieht ihn nicht; Hax sieht unter halbgeschlossenen Augen verächtlich, mit vorgeschobener Unterlippe, nach der Richtung des Feindes.
Da schweigen links von ihnen die Geschütze. »Was machen die beiden Batterieen? Warum schießen sie nicht mehr?«
Schweres Infanteriefeuer kommt halblinks von hinten, vom Waldrande her.
Deutsche Infanterie springt auf, wirft sich hin, kommt näher.
»O . . . die wollen uns helfen . . .«
»Die Geschütze! . . . Warum schießen sie nicht?«
»Schießt doch, Brüder!«
Hier und da steht noch ein einzelner Mann . . . blitzt noch ein Rohr. Unteroffizier Heesch von Eesch bedient mit einem einzigen Mann sein Geschütz. In Rauch und Feuer steht er. Der ist ein Held. Von dem wird man in der Heimat reden noch nach fünfzig Jahren.
»Schießt, Brüder!«
263 Ein fremdartiges Lärmen und Tosen kommt brüllend näher.
Der junge Leutnant springt heran und schreit überlaut: »Auf die Batterie zur Linken . . . Kartätschen! Kartätschen!«
»Herr Leutnant,« schreit Uhl . . . »das ist ja unsere Batterie!«
.,Sehen Sie nicht? Sie ist voll von roten Hosen!«
»Herum!«
Sie greifen alle zu. Die Fäuste in den Speichen. Schwer fällt es herum.
»Kartätschen! . . . Vierhundert Schritt . . .«
Leutnant Hax steht wieder aufrecht, will kommandieren, langt nach seiner Seite und fällt lang hin. Von der verlorenen Batterie kommen drei oder vier Flüchtige. Einer davon fällt im Laufe, wie ein Kind fällt, und hält sich am Rade und fängt an, einzelne Bitten des Vaterunsers zu beten. Die vierte Bitte sagt er zweimal. Er war armer Leute Kind.
Deutsche Infanterie, immer neu aus dem Walde herausströmend, steht, liegt, hier und da, im Haufen und einzeln. Sie stehen und liegen zwischen den Geschützen und feuern gegen den anstürmenden, brüllenden und heulenden Feind.
Ein Füsilier, ein flinker, sehniger Mensch mit rötlich rundem Kopf, ist dicht neben Jörn Uhl gesprungen und schießt . . . und schiebt eine neue Patrone ein.
»Jörn Uhl! Junge! . . . adsum, Jörn!«
Jörn Uhl schiebt eine Kartätsche ins Rohr und schlägt den Verschluß zu . . . Warum soll Fiete Krey nicht neben ihm stehn?
»Dein Schießen nützt nichts mehr. Dat geiht to Enn.«
Eine Granate wühlt die gelblich braune Erde auf.
»Wenn Hinnerk noch so pflügen wollte!«
»Die Postkarte, die ich im Helm habe . . .«
264 »An Thieß schreiben. Elsbe noch einmal grüßen.«
»Lisbeth Junker hat . . . Hat alles keinen Zweck.«
Er wirft das Geschütz in die Richtung des Feindes. Fiete Krey hilft stoßen und werfen.
Der Kartätschenhagel fliegt . . . noch einmal . . . noch einmal.
Sie stocken da drüben. Aber es kommen mehr. Es wimmelt von fremden, roten Menschen, die in Rauch und Feuer vorwärts dringen.
Es geht zu Ende.
Pferde! Pferde!
Die Pferde liegen alle an der Erde.
Da rennt Lohmann übers Feld und holt von den Pferden, die da verlassen jagen, und traben und stehen, drei; und kommt wieder, und sie schirren mit fliegenden Händen an.
Ab! . . . ab! . . .
Ein jammervoller Rückzug.
Fiete Krey sitzt vorn auf der Protze und fährt mit der Kreuzleine. Lohmann, aufrecht neben ihm stehend, haut mit der Karbatsche auf die elenden, verwundeten Tiere. Jörn Uhl trabt neben dem Geschütz her und hält den Leutnant, der auf dem Achssitze mit krummem Rücken hin und her schwankt.
»Grade wie in Wentorf,« denkt Fiete Krey, »wenn ich in den Apfelgarten gestiegen war, und ich lief weg, und Wieten schalt hinterdrein. Gott steh' mir bei! Was schimpfen sie!«
Zwei Feuergarben teilen den Rauch; sie fegen schräg vor ihnen übers Feld.
»Die dritte ist für uns.«
Nein . . . Es ist kein Eisen für sie geworfen; es ist kein Feuer für sie aufgesprungen. Sie kommen lebend bis in den Schutz des Waldes.
265 Und da stehen zehn bis zwölf Geschütze. Andere kommen noch an, ganz wie sie: mit wankenden, strauchelnden Pferden, mit drei oder vier Mann, denen Jammer und Zorn, Angst und wilde Erregung in den schweißbedeckten Gesichtern steht.
Wie sie arbeiten!
Pferde werden herangezerrt, mit lautem Schelten und kurzen, wilden Worten. Geschosse werden herbeigeschleppt und in die Kasten gelegt. Der Batterieschlosser, ohne Mütze, mit wirrem Haar und aufgerissener Uniform, liegt vor einem kranken Geschütz in den Knieen; ein Unteroffizier stopft einem Pferde Charpiepfropfen in die tiefen Wunden, aus denen das Blut sprang. Als wenn man einen Hahn in die Biertonne stößt!
Kommandorufe dazwischen.
»Merkwürdig, daß der Feind nicht hierher kommt.«
Drei Geschütze, frisch bespannt und leidlich mit Mannschaft besetzt – darunter versprengte Infanteristen – fahren wieder vor.
Der junge Leutnant arbeitet, schreit, rennt . . . Nun kann auch er mit zwei Geschützen wieder abfahren. Ein Offizier hält oben und zeigt mit der Schwertspitze die Richtung: »Da hinüber! An den Waldrand!«
Jörn Uhl sitzt auf dem ersten Geschütz, Fiete Krey neben ihm.
Ringsum, aus der Nähe und aus der Ferne, rollt und braust in alter Furchtbarkeit das schreckliche Knattern, Dröhnen und harte Aufschlagen.
Als sie den Waldweg zu Ende traben und am Rande ankommen, klingt der Donner ferner.
»Wissen Sie, Unteroffizier?«
»Ich glaube, dahinüber.«
»Ich muß 'ran!« sagt das junge Blut und knirscht mit 266 den Zähnen . . . »Mein Vetter von der zweiten Leichten ist gefallen; morgen muß ich an seine Mutter schreiben.«
»Es sind viele gefallen, Herr Leutnant.«
»Es ist ein schrecklicher Tag.«
Als sie sich umsahen, war das andere Geschütz nicht mehr da. Der brüllende Lärm hatte nachgelassen.
Vom Himmel war der Abend gekommen.
Und es hob keiner seine Hände und beschwor Sonne und Mond, wie einst der rasende Jude: »Sonne, stehe still zu Gibeon und Mond im Thale Ajalon!«
Nein . . . nein . . .
Sie fahren weiter und kommen an der rechten Stelle aus dem Wald heraus.
Aber die Geschütze werden zurückgezogen. Frische Infanterie steht in Massen und bedeckt das Feld. Der Feind ist still geworden.
Der Abend kommt.
Und wie es stiller wird . . . ruft es in den Furchen und an den Büschen: »Hölp mi . . . O . . . Hölp mi doch.« Und auf der Höhe: »Je prie . . . ma mère . . . pitié.« Und aus dem trockenen Bachlauf: »Soo dösti . . . so dösti ^.. Mien Moder.«
Es wird stiller.
Die am Waldrand steigen von Pferd und von Eisen.
»Meine Mutter hat mir für die höchste Not ein Paket in die Brusttasche gesteckt,« . . . sagt der Leutnant . . . »aber ich kann den Arm nicht hochkriegen.«
Da nahm Jörn Uhl es ihm aus der Tasche und gab es ihm, und der bot ihm die Hälfte.
Das Stangenpferd hatte den Charpiepfropfen verloren. Das Blut schoß aus der Wunde. Jörn Uhl sprang auf und riß es zur Seite. Es stürzte. Der Leutnant, 267 vom Blutverlust ermattet, setzte sich auf die Lafette; Fiete Krey warf sich ins Gras.
»Lohmann, geh hin! Sieh zu, wo die anderen stehen.«
Er legte den Wischer, den er wieder in die Hand genommen hatte, in sein Lager und verschwand im Waldwege.
»Ach,« sagte der Leutnant, »geben Sie mir einen einzigen Schluck. Ich habe meine Flasche dem langen Johann gegeben; der hat sie in einem Hub ausgetrunken.« Er sagte sonst: »Herr Leutnant Hax«; aber in dieser Stunde sagte er: »Der lange Johann«.
»Sehen Sie, Herr Leutnant?« sagte Fiete Krey, »da kommt einer von der anderen Seite!«
Ein Soldat in weiter, roter Hose und kurzer, blauer Jacke kam langsam auf sie zugehinkt. Er hatte den zerbrochenen Unterschenkel mit seinem Seitengewehr geschient und mit der Koppel umbunden. Aber der Fuß glitt zur Seite, und er schrie laut auf.
Fiete Krey stand auf und faßte ihn an und setzte ihn auf die Erde.
»Ich bin ein Franzose,« sagte er. »O, o . . .«
»Was?« sagte Fiete Krey und sah ihn verblüfft an.
»Ich bin von Straßburg.«
»Na, dann tröste dich! Bleib' sitzen und laß dein Quasseln.« Er holte Tauwerk aus der Tasche und richtete das Bein wieder gerade.
Das Tauwerk, das Fiete Krey aus der Tasche holte, löste Jörn Uhls Seele: »Du . . .« sagte er . . . »Wie kommst du hierher?«
»Ich kam gerade an dem Tage, als der Krieg erklärt wurde, in Hamburg an. O, meine Farm! Meine schöne Butterfarm! Nicht weit von Chicago, Jörn! O, meine Frau, und meine beiden schönen Stuten! . . . Schweig' 268 still davon! . . . Laß dein Stöhnen, Straßburger: ich kann nicht mehr für dich thun.«
Lohmann kam wieder und meldete, daß da . . . da drüben . . . die Batterieen wären. Er stotterte und wankte.
Der Leutnant hatte trübsinnig vor sich hin gestarrt und dann und wann mit schwerem Wehruf nach seinem blutenden Arm gegriffen. »Sind Sie verwundet?« fragte er.
»Nee, Herr Leutnant.«
Wenn er nun geschwiegen hätte, wäre alles gut gegangen; aber er griff nach dem Wischer und fing an zu prahlen: »Mit dem Wischer wolle er gegen die Franzosen gehen, ganz allein!«
Da stellte sich heraus, daß er über einen französischen Marketenderwagen, der verlassen am Wall gestanden hatte, gestolpert war.
»Wir wollen aufbrechen,« sagte der Leutnant.
Sie hoben den Elsässer auf die Protze und zogen ab.
»Sie sind auch Holsteiner?« sagte der Leutnant.
»Aus Dithmarschen.«
»Ich wohne nicht weit von Plön, und mein Vetter wohnt im nächsten Dorfe. Nun ist er tot. Gesehen habe ich ihn nicht; aber ich weiß es: die von seinen Geschützen sind alle tot . . . Das wird ein schrecklicher Jammer werden. Ich muß es schreiben . . . und ich kann es nicht. Grethe weint sich die Augen aus. Es war so ein lieber, tapferer und kluger Mensch.«
»Grethe ist seine Schwester?«
»Ja, wir haben alle zusammen gespielt. Wir sind alle in einem Pott groß geworden, pflegte Onkel zu sagen.«
Fiete Krey tröstete: »Es geht mancher Pott entzwei, Herr Leutnant.«
»Das Fräulein Grethe ist nämlich meine Braut,« sagte 269 das junge Blut. »Wir haben uns verlobt, als wir Abschied nahmen; das ist lange her.«
»Ja,« sagte Jörn Uhl, »das ist lange her.«
»Es sind drei Wochen her, schätze ich,« sagte Fiete Krey.
Da schüttelten sie alle die Köpfe.
»Drei Wochen? . . . Das ist nicht möglich.«
»Vor drei Wochen habe ich noch Häcksel für die Kühe geschnitten?«
»Eine endlose Zeit ist es her . . . Mehr als sieben Jahre.«
So hatte die weite Reise, der mühselige Marsch und dieser furchtbare Tag sich in ihren Gehirnen breit gemacht und alles andere, was dahinter lag, in blaue Ferne zurückgedrängt.
Sie trafen wirklich in einer Senkung am Walde die anderen Batterieen. Und wieder war keine Ruhe.
Das ist ein Arbeiten gewesen am Rande des Bois de la Cusse, diese ganze Nacht hindurch! Und als die Morgenröte kam, da standen vierzig Geschütze nebeneinander, wie auf der Loher Heide; zwei waren in Feindeshände gefallen. Pferde und Mannschaft, von den Staffeln ergänzt, standen wieder neben den schwarzen Rohren, bereit, wenn die Sonne kam, wieder auf dasselbe gelbliche, mit kleinen Steinen übersäte Feld zu fahren, das von Pferden und Rädern zertreten, von Granaten zerwühlt, und mit Leichen und dunklen Blutflecken, zerrissenem Lederwerk, zerbrochenen Waffen und gesplittertem Holz übersät war.
Aber der Feind kam nicht. Der Feind war kein Tiger mehr in brüllendem Ansprung. Er war ein gebundener Stier, der stöhnend mit den Hörnern in der Erde wühlt.
* * *
270 Am Vormittag wurde Jörn Uhl ausgeschickt, um sich nach einigen Verwundeten zu erkundigen. Er fand nach vielem Suchen den Leutnant Hax, der im hellen Fieber auf seinem Mantel lag.
»Mutter war eben hier,« sagte er. »Sie sagte, ich soll nicht immer so laufen, daß ich nicht so heiß werde. ›Du wilder Junge!‹ sagte sie und gab mir eine Ohrfeige. Das thut sie immer, aus Spaß, wenn ich so toll gelaufen habe. Dann lache ich und gehe nach dem Spiegel und sage: ›Nun sieh! Nun sind die Backen noch röter.‹ Aber hier ist ja kein Spiegel. Hier, wie sieht es hier überhaupt aus! Ihr Kerls, ihr sollt mir auf Ordnung halten . . . Ach, Sie sind es, Uhl . . . Das war ein schlimmer Tag, und ich glaube, ich habe genug.«
»Herr Leutnant . . . es steht nicht schlecht . . .«
»Die Luft ist so heiß, die kann kein Mensch atmen, namentlich nicht, wenn man so laufen muß. Sagen Sie 'mal, warum laufen Sie nicht? Sie sind immer so steif und ruhig . . . Ach, ich weiß schon: das kommt vom Pflügen . . . Ich habe heute im Traum den rothaarigen Jungen gesehen, den ich einmal mit seinem Hundefuhrwerk von unserem Hof gejagt habe.«
»Nicht im Traum, Herr Leutnant. Er war wirklich in der Batterie und hat geholfen.«
»Braver Kerl. Damals auf der Hofstelle hatte er gleich die Hand geballt und schlug auf mich los. Ist nicht christlich, ist aber menschlich.«
»Ist auch wohl christlich, Herr Leutnant: wenn man gegen alles Böse angeht.«
»Recht! Ja: gegen das Böse! Ich will's auch thun. So wahr mir Gott hilft! Immer die Hand geballt und drein gehauen, wie heute. Und wenn man nicht mehr 271 hauen kann, dann muß man spucken. Christlich und menschlich ist all eins. Ich glaube, Mutter baut im Ahlbeker Moor schlechten Hafer. Wenn ich wieder nach Hause komme, will ich so lange pflügen, bis ich so steif bin wie der Unteroffizier beim sechsten Geschütz . . . wie heißt er doch?«
»Uhl.«
»Dann soll alles in Flor kommen, und ich will ein neues Haus bauen; aber die Turngeräte im Hof sollen stehen bleiben. So, nun wollen wir nicht weiter darüber reden. An die Geschütze! . . . Dose, was stehst du da und grienst? Wunderst dich, daß ich so redselig bin? Du sollst wieder beim langen Sott in den Dienst, du Greuel. So, nun protzt ab . . . Es nützt alles nichts. Die Franzosen sind tüchtige Kerle und kriegen das eiserne Kreuz, und wir kriegen ein Grabkreuz.«
»Was soll ich in der Batterie bestellen, Herr Leutnant?«
»Sie sollen mir nicht immer gerade in die Augen feuern. Ist das eine Weise? ›In drei Deuwels Namen‹, sagt er? Sie sollen mit Runkelrüben schießen, das hat mehr Zweck, als mit dem Dreck von Kartuschen; und Hauptmann Gleiser soll seine Lackstiebel ausziehen.«
Hax mochte den Hauptmann nicht leiden.
Jörn Uhl suchte auch Geert Dose, konnte ihn aber nicht finden. Er ging auch am zweiten Tage hin und suchte ihn und fand ihn noch nicht. Es lagen Tausende in ihrem Jammer.
Aber am dritten Tage fand er ihn in derselben engen Stube, in der Hauptmann Straudiger lag, der durch die Brust geschossen war. Beide waren von den Ärzten überhaupt nicht angefaßt worden. Es war ja zwecklos.
Jörn Uhl stand stramm vor dem Hauptmann. Der sah ihn aus großen, fiebrigen Augen verständnislos an. Du 272 dummer, steifer Jörn Uhl. Dann bückte er sich über den Todwunden auf feuchtem, rötlichem Stroh.
Geert Dose war klar und ruhig. Er grüßte mit den Augen. Er grüßte mit demselben Augenausdruck, mit dem er einst in der Kaserne in Rendsburg gegrüßt hatte: »Jörn, wir beide, wir sind die einzigen Vernünftigen auf der ganzen Stube.« Aber nun war es bitterer Ernst.
»Kann ich etwas für dich thun, Geert?«
»Nein, Jörn, ich muß hier sterben. Ich verstehe nicht, daß ich noch immer lebe.«
»Kann ich nichts für dich thun? Hast du viele Schmerzen?«
»Schmerzen? Der Rücken hat keine Schmerzen; der ist nicht mehr da. Hier vorn nach der Brust hin bis zum Hals . . . Aber das ist auch alles einerlei. Ich wollte bloß, ich könnte noch einmal wieder bei Vater und Mutter sein . . . Mutter legte Sonnabends immer das frische Hemd zurecht, und ich muß hier so liegen . . . Es stinkt so, Jörn.«
»Fein ist mein Hemd nicht, Geert; aber es ist besser als deins.«
Er warf den Rock ab und zog sein Hemd aus und faßte den Oberkörper des Verwundeten. Da stieß er einen Schrei aus; sein Kopf fiel zurück, und er war tot. Jörn Uhl stand bis zum Knie im blutigen Stroh.
Er sah auf den Toten und zur Seite auf den Hauptmann, der, den Kopf zurück, mit weit anfgerissenen Augen nach Atem rang, und es packte ihn Grauen vor dem furchtbaren Jammer der Menschheit.
Als er zur Batterie zurückkam, war Fiete Krey dagewesen und wieder fortgegangen. Wilhelm Lohmann aber wurde gerade auf zwei Stunden ans Rad gebunden, weil 273 er am Achtzehnten betrunken gewesen war. Es war ihm aber zur Tröstung das eiserne Kreuz in Aussicht gestellt, weil er an demselben Tage gewischt hatte, wie auf der Loher Heide: eins – und – zwei.
Das war der Tag von Gravelotte für die Kinder von Wentorf.
* * *
Es kam das Lager vor Metz, in nassem Stroh, in bösem Geruch. Ungeziefer die schwere Menge. Mancher wurde krank und mußte nach Haus. Jörn Uhl blieb gesund, that seine Pflicht und dachte an die Uhl, wo Erntezeit war und der Pflug lief.
Es kam der schwerste Teil des Krieges: die langen Märsche in den Bauch von Frankreich hinein, und im Marschieren ein Kampf nach dem anderen, den ganzen Winter hindurch. Heute kein Wasser, morgen kein Brot; heute kein Feuer, morgen keinen Atem; heute kein Haus, morgen kein Hemd.
Und die Bauern des Landes wurden jeden Tag kommandiert: »Dort unterm Nußbaum! Grab ein Grab, paysan! C'est mon bon camarade, cochon!«
Da kam es soweit, daß sie zum Hauptmann sagten: »Herr Hauptmann, aus diesem schrecklichen Kriege kommt keiner von uns wieder nach Haus.« Und der Hauptmann ging zur Seite, stand lange und sah nach Osten in die Ferne. »Und kommen wir nicht bald wieder nach Haus, so sind wir auf der Welt nicht mehr zu brauchen. Wir sind keine Menschen mehr. Wir sind wie unreine Tiere geworden.« Sein Haar war in diesen Monaten grau geworden.
Jörn Uhl zog mit, hielt sein Geschütz blank, hielt seine 274 Leute in leidlicher Zucht und dachte: »Wenn die Pflugzeit wiederkommt, muß ich auf der Uhl sein.«
Im Anfang Februar, an einem regnerischen Abende in einer kleinen Stadt, fehlte der Unteroffizier Uhl beim Appell. Die Nachtpatrouille fand ihn in einer Nebenstraße im Rinnstein liegen. Als sie ihn in die Mitte nahmen und ins Lazarett brachten, jammerte er nach der Weise Fiebernder über Nebensachen: über den Schmutz auf seinem Rock, und daß er seine Mütze verloren hatte. Sie brachten ihn ins Bett und gingen davon. Da die Lazarettgehilfen ihn aber nicht bewachten, so stand er in derselben Nacht auf, zog sich wieder marschbereit an und ging wieder auf die Straße. Man fand ihn morgens an einer Mauer gelehnt, im traumschweren Schlaf. Er wurde ins Lazarett geschafft, wo er an Typhus krank lag. Es quälte ihn die Einbildung, daß der neusilberne Geschützaufsatz abhanden gekommen wäre, und daß seine Leute meinten, er, Jörn Uhl, hätte ihn heimlich beiseite geschafft, aus Feigheit, um nicht mehr gegen den Feind zu müssen. Diesen quälenden Traum hat der Kranke über hundert Meilen weit mit sich getragen. Der Traum wich erst, als er in Straßburg im Lazarett in sorgsame Pflege kam. 275