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Ein glücklicher Zufall wollte es, daß Fiete Krey schon im März entlassen wurde und Jörn Uhl im Lazarett aufsuchen und den fast Genesenen nach Hamburg mitnehmen konnte.
Jörn Uhl, lang, bleich und noch etwas teilnahmslos, Fiete Krey kleiner, mit raschem Gang und flinken, spähenden Augen: so gingen sie in den abgetragenen Uniformen, die man ihnen zur Heimreise gelassen hatte, durch Hamburg, um sich ein Quartier für die Nacht zu suchen.
Wie sie so gingen, Jörn Uhl die Augen am Boden, Fiete Krey die Augen überall, kommt ihnen da ein großes, schmuckes, blondes Mädchen entgegen, hellblond, rot und weiß, so in der frischesten Jugendblüte, ein Buch unterm Arm, einfach und sehr sauber gekleidet. Und Fiete Krey sieht sie an und muß sie wieder ansehen; denn es ist etwas Besonderes in ihrem Gesicht, etwas, was ihn an die Wodansheide und an den Heeshof erinnert. Das Besondere ist, daß sie in Haltung, Haar und Augen etwas Helles und Auffliegendes hat, und daß die scheuen, grauen Augen so etwas schräg im Gesicht stehen, wie die beiden Flügel der Taube, wenn sie auffliegen will.
276 Ein unsicherer Blick fliegt hin und her. Da stutzen sie beide; da hebt auch Jörn Uhl die Augen.
»O, Jörn, Jörn! . . . Wie krank siehst du aus! O, Fiete Krey! Ich habe von Thieß gehört, daß du mit nach Frankreich gewesen und daß du verheiratet bist . . . O, Jörn! O, was wird Thieß sagen! . . . Wißt ihr, daß Thieß hier wieder in Hamburg ist?«
So sagte Lisbeth Junker und stand vor ihnen und schüttelte ihnen immerfort die Hände, und ihre Augen waren zwei strahlende Feuer, wie die Maifeuer auf Ringelshörn. Mit solchen Augen sah sie besonders Jörn Uhl an. Besonders Jörn Uhl!
»Thieß ist noch hier?«
»Ja, denkt 'mal! Er sucht immer noch nach Elsbe. Die ist nämlich damals mit dem Schiff, mit dem sie fahren wollten, nicht abgefahren. Nun behauptet einer von unseren Bekannten, daß er sie gesehen hat; ein anderer aber hält für möglich, daß Harro Heinsen über Kopenhagen vor dem Kriege weggelaufen ist.«
»Weißt du, wie es in Wentorf steht? Oder kommst du nie mehr dahin?«
»Meine Großeltern sind ja tot,« sagte sie, »aber die Frau von dem neuen Lehrer kenne ich gut. Weihnachten bin ich erst da gewesen.«
»Und was thust du hier?«
»Ich bin hier bei meiner Tante; die hat einen kleinen Buch- und Papierladen, nebenbei lerne ich Buchhaltung.«
»Kannst du uns sagen, wo Thieß wohnt?«
»Ja, und ich gehe mit euch.«
So gingen sie den weiten Weg nach Sankt Pauli hinaus, und kamen in die Marienstraße mit ihren hohen, öden Mietshäusern, und stiegen vier Treppen hinauf, und Lisbeth 277 Junker öffnete am Rande eines dunklen Ganges eine Thür. Da saß Thieß Thiessen neben einem kleinen, eisernen Stubenherd. Er hatte die Kaffeemühle zwischen den Knieen und drehte eifrig und hatte nichts gehört. Er war kleiner und trockener geworden.
»O, Jörn! . . .« sagte er und sprang steil auf. »Da bist du! . . . Fiete! Mein Junge! O, Fiete! . . . Kinder, was ist das hier für ein Elend! Ich habe die Bohnen gleich entzwei und will euch Kaffee kochen, soviel ihr wollt.«
Er war aufgesprungen und suchte seine Pantoffeln. »Sagt nichts, Kinder, sagt nichts! Dies ist nun der Heeshof, diese vier Wände. O, die arme, kleine Deern . . . Heintüüt, hast du sie nicht gesehen? Um diese Zeit gehen die armen Frauen auf die Straße und kaufen ein. Ach Gott, wenn sie bloß etwas hat, einzukaufen. Denke dir, Jörn, . . . Jörn, nun denke dir das: das kleine, kleine Menschenkind in dieser großen, schrecklichen Stadt. Fiete, ich glaube, er schlägt sie! Er will mit ihr nach Amerika; aber ich laure am Hafen, daß er nicht mit ihr fortkommt. Wie kann ein Mensch nach Amerika gehen? So weit vom Heeshof weg? Heintüüt, koch' du ihnen den Kaffee! Hier ist der Kessel! Das Wasser läuft hier aus der Wand; bei uns läuft es dagegen. Es ist eine ganz und gar verrückte Welt.«
Fiete Krey drückte ihn auf den Stuhl zurück und sagte: »Du bleibst sitzen. Glaub' doch nicht, daß sie sich schlagen läßt. Hier ist dein Pantoffel. Wenn sie sieht, daß er sie nicht mehr lieb hat, dann läuft sie ihm sofort davon. Ich denke mir, sie ist schon von ihm weg und wagt nicht, nach dem Heeshof zurückzukehren, und schlägt sich hier irgendwo durch auf eigene Faust. Sie fürchtet dich und Jörn; Scham hält sie zurück.«
Lisbeth meinte, es könnte wohl so sein; und Jörn nickte.
278 »Na, Thieß! . . . Und nun bedenke,« sagte Fiete, »daß wir eine lange Bahnfahrt hinter uns haben: sorge für Kaffee und Brot, dabei wollen wir weiter reden.«
Da wurde es fast gemütlich, dank Fiete Krey, der den Heeshofbauern zum Reden brachte, und dank Lisbeth, welche Kaffee einschenkte und Brot schnitt.
»Setz dich, alter Erdmann!« sagte Fiete Krey. »Paß auf, wir kriegen die Elsbe noch wieder.«
»Ja, Thieß, nun iß!« sagte Lisbeth. »Hier ist deine Tasse.«
»Wißt ihr,« sagte Fiete Krey und lehnte sich behaglich zurück, »es ist hier ganz wie in Wietens Märchen; ich halte sonst nicht mehr viel davon, aber heute werde ich sehr daran erinnert: Du, Thieß, bist der alte, wohlwollende Zwerg, der die beiden heruntergekommenen und müden Wanderer aufnimmt. Eine schöne, gläserne Prinzessin bedient uns, und nachher wandern wir weiter und finden unsere Schwester.«
»Bin ich gläsern?« sagte Lisbeth ein wenig schnippisch. »Du bist immer noch ein Krey, scheint mir.«
»Du bist schmuck geworden,« sagte er und lachte ihr ins Gesicht, »und ein wenig gläsern bist du mir immer vorgekommen. Nicht Jörn? Sie ging nie mit uns durch dick und dünn, wie Elsbe that; sie stand immer ein wenig bedenklich zur Seite. Dazu kommt, daß es ein Jahr her ist, daß mir ein so sauberes Frauenzimmer Kaffee reicht. Ich danke, Heintüüt.«
»Du hast dich immer um andere Leute bekümmert,« sagte sie, »immer die Augen zu beiden Seiten des Weges.« Sie warf den Kopf zurück und sah nun auch Jörn nicht mehr an, und war in der That steif, und klirrte ein wenig wie Glas.
»Erzähle!« sagte Fiete Krey und sah Thieß strenge an. »Sicher ist, daß du bei der Sache Gevatter gestanden hast.«
279 »Ja,« sagte Thieß Thiessen und stöhnte. »Was soll ich erzählen? Er hat sie da auf dem Heeshof besucht, und ich habe geschlafen und nichts bemerkt. Ich sagte: ›Kind, was bist du blaß! Hast du diese Nacht nicht geschlafen?‹ ›Fein habe ich geschlafen,‹ sagte sie, ›eine Königin schläft nicht besser.‹ Da freute ich mich. Einmal sagte sie: ›Du, Thieß, ist es nicht hier im Lande ein altes Recht der jungen Leute, wenn sie sich gegenseitig die Ehe versprochen haben, dann sind sie vor Gott und Welt wie Eheleute?‹ ›Ja,‹ sagte ich, ›Kind, ich habe irgendwo in einer Chronik gelesen, daß Wolf Isebrand, der Held von Hemmingstedt, in der Nacht vor der Schlacht bei seiner Liebsten in der Kammer gesessen hat; ich glaube, es ist alte sächsische oder friesische Sitte.‹ Na, wir kamen dann von diesem Thema ab, und ich duselte und träumte weiter. Ich sagte: ›Fahr' 'mal in die Stadt, Elsbelein.‹ Oder ich sagte: ›Flieg' 'mal in den Wald, kleine Uhl.‹ Aber sie ging ums Haus und pfiff und sang und sagte: ›Ich brauche die Stadt nicht und auch den Wald nicht. Ich habe keine Langeweile.‹ Ich merkte immer noch nichts. Dann eines Tages kam Harro Heinsen auf seinem blanken Braunen, sprang über die Latten am Heckthor und sagte, er wolle von Elsbe Uhl das Jawort holen und lachte.
»Na und da . . . fünf oder sechs Tage danach: da kam das Elend. Da kam er wieder und schimpfte auf seinen Vater und auf Klaus Uhl: Die hätten beide nichts, gar nichts; die könnten ihm keinen Hof kaufen. Da wurde die kleine Deern still und ernst. So habe ich sie nie gesehen. All ihr großes Glück war ihr zerbrochen. Ich sagte: ›Bleibt hier auf dem Heeshof: es läßt sich mehr aus dem Heeshof machen, wenn ein Mann hier ist, der arbeiten mag.‹ Ich bin zu schläfrig, Fiete, das weißt du wohl. Ich gestehe es gerade heraus. Aber der Heinsen lachte, Geestbauer würde 280 er noch lange nicht. Ich sah wohl, daß sie bittergern geblieben wäre; er hat sie vom Hof geschleppt, wie man ein Füllen am Halfter hinter sich herzieht, das sich am Heckthor mit langem Blick umsieht.«
Er schüttelte jammernd den Kopf, und fuhr mit den Füßen hin und her, und suchte nach den Pantoffeln und seine Augen liefen ihm über.
»Ich habe es alles verschlafen,« fuhr er mit hoher Stimme fort, »dafür werde ich nun bestraft: muß hier in diesem Loche sitzen, und weit von hier liegt der Heeshof breit in der Sonne, und all die schönen Torfberge stehen im hohen Grase, und die Katzkeulen in den Gräben schwanken so großartig hin und her, als hörten sie einen langsamen, feierlichen Gesang und wiegten sich danach. Und ich träume jede Nacht und suche das Kind in den Binsen, ich kann sie nicht finden und falle dabei ins Wasser, und wache auf und kann dann nicht wieder einschlafen. Daran kannst du sehen, Fiete, wie es mit mir steht: ich kann nun nicht mehr schlafen. Die alte Frau, die neben mir wohnt, sagt, es ist Heimweh, und das ist ja auch wahr: bitterlich schlimm habe ich Heimweh. Ihr kennt meine Schlafstube auf dem Heeshof, Kinder! Wenn ich noch einmal wieder in Frieden im Heeshof wohnen werde, dann will ich zu allererst die Schlafstube kalken lassen: ihr wißt! . . . Die alte Frau will mir gern helfen, sie hat mir aus der ›Deutschen Apotheke‹ Merkur und Phosphoriac gegeben, sie sagt, das ist gut gegen Heimweh. Aber es ist nicht allein Heimweh, es ist auch schlechtes Gewissen. Und sie sagt: dagegen giebt es nichts in der ›Deutschen Apotheke‹. Ich habe es verschlafen, und darum muß ich hier nun in Elend sitzen und den ganzen Tag am Hafen laufen und in den Straßen suchen, und muß nachts im Tunkmoor in den Binsen umherrennen.«
281 So klagte Thieß Thiessen, und sein vertrocknetes Webergesicht war sehr lang und seine kleinen, blinkernden Kinderaugen flehten um Hilfe, und seine Lederpantoffeln fuhren hin und her, und wenn sie aus seinem Bereiche waren, erhob er sich halb vom Sessel und holte sie wieder, und sah seine Zuhörer der Reihe nach an.
Fiete Krey hatte sich über den Tisch gebeugt und sah auf den Redner. Das ganze Behagen, das der Heeshof dem armen, abgejagten Bürstenbinderjungen so oft gebracht hatte, war über ihn gekommen.
Lisbeth sah mit traurigen, ernsten Augen auf Thieß Thiessen und warf zuweilen einen raschen Blick auf Jörn Uhl; aber der saß stumm da, die Augen auf den Tisch gerichtet, von überstandener Krankheit und von der neuen Sorge starr und still geworden. Er sah mit keinem Blick auf das Mädchen, das er von Kind an so verehrt und als Junge so geliebt hatte und das nun in strahlender Frische vor ihm saß. Es war keine Stunde, an Liebe zu denken.
»Ich gehe so um acht Uhr morgens unterwegs,« sagte Thieß weiter, »und nachmittags gehe ich auch wieder los, immer durch die Straßen, wo die kleinen Leute wohnen, und den Hafen entlang. Und fünfmal,« sagte er, und seine Stimme war wie die eines Kindes, die zum Weinen umschlägt, »bin ich unterwegs gewesen, als man ein Mädchen aus dem Wasser gezogen hatte. Ich glaube, wenn sie in Not kommt, so thut sie es.«
»Nein,« sagte Fiete Krey, und zum zweitenmal zeigte er sich als Menschenkenner. »Sie thut das nicht. Keiner hängt fester am Leben als sie. Ihr kennt sie nicht . . . Hast du den Namen Heinsen im Adreßbuch gesucht? Bist du zur Polizei gegangen?«
»Nichts gefunden,« sagte er. »Und dann ist das Schlimme, 282 daß ich manchmal, wenn ich unterwegs bin und suche sie, und sehe irgend etwas, was mir auffällt, dann komme ich ins Träumen und bleibe stehen und vergesse alles, zum Beispiel: was der Rollkutscher wohl denkt, und wie viel Kinder der Schaffner wohl hat, und wo die große Dogge wohl nachts schläft, und wem sie gehört, und wie die alte, magere Zeitungsfrau wohl ausgesehen hat, als sie noch ein junges, lustiges Ding war. Und dann am Hafen, Fiete: was wohl in den Packen und Säcken drin ist, und wie die Leute und das Land wohl aussehen, wo diese Dinge herkommen. Und dann das Puppentheater hier auf der Langenreihe. Nicht, Lisbeth? Das ist das Beste in ganz Hamburg.«
»Hast du denn gar keine Bekannte?«
»Ja,« sagte der Alte verlegen, »sie haben hier ja alle so 'was wie einen Klub.«
»Was?«
»Ja, siehst du: hier links unten in der Erde, da wohnt ein Schuster, der stammt von der Geest bei Meldorf. Und da ganz oben, da . . . siehst du es, Fiete? da, bei den Telegraphendrähten, da wohnt ein Strackelmeier, weißt du, einer von den Strackelmeiers aus Hindorf. Du kennst die Familie, Fiete: du hast 'mal einen Hund von ihnen gekauft und hast ihn an mich wieder verkauft. Es war nichts daran, Fiete: er war nicht stubenrein. Er hat eine Frau und große Kinder, aber ich glaube, seine Frau ist nicht freundlich mit ihm, und er ist nur ein kleiner, unbedeutender Mann von Person. Der freut sich, wenn er 'mal von seinen Telegraphendrähten herunterkommt.«
»Na, und die kommen hierher zu dir?«
»Ja, siehst du, Fiete: Sie haben hier alle so 'was wie'n Klub. Klub ist hier dasselbe, was bei uns 283 Feierabend ist. Na, denn sitzen wir hier so bei einander und erzählen uns 'was.«
»Immer hier bei dir?«
»Ja, immer bei mir. Das ist ja gerade die Sache: Sie haben nämlich beide Heimweh. Fiete! Fiete! Wieviel Heimweh überhaupt in dieser großen Stadt ist, das glaubst du nicht. Jeder dritte Mensch hat Heimweh, nicht bloß die, welche auf dem freien Lande geboren sind, nein, es liegt auch noch ihren Kindern im Blut. Erst das dritte Geschlecht begreift, daß es klug und schlau ist, übereinander in engen Straßen zu wohnen . . . Na, da kommen denn die beiden armen Menschen zu mir: ich heize nämlich mit Torf, Fiete, mit Torf aus dem Tunkmoor; den lasse ich mir sackweise von Eggert Witt mitbringen. Und oben auf dem Torf ist jedesmal – kein goldener Becher, Fiete, sondern ein gutes, frisches Schwarzbrot. Siehst du, auf dem Sack, darauf beruht unser Klub. Du glaubst nicht, Jörn, wie gemütlich die beiden Menschen sind. Du hast es gesehen, Lisbeth, wenn der Strackelmeier die Ofenthür aufmacht, daß ein wenig Rauch herauskommt! Bloß weil er den Torf riechen will! Fiete, du kennst das alte Strohdach zwischen Brickeln und Quickborn, da, wo der Weg nach Großenrahde abbiegt: da stammt er her. Da hatte sein Vater eine Roggenkoppel für Brot und ein kleines Moorstück, um das Brot zu backen. Einen Schornstein hatte das Haus nicht; der Rauch zog über die Diele. In dem Rauch ist er groß geworden. Er ist noch braunrunzlig davon und hält sich gut. Wenn er hereinkommt, hebt er schon die Nase hoch und ist gleich furchtbar gemütlich: du weißt es, Lisbeth.«
»So!« sagte Fiete Krey. »Nun müssen wir ins Quartier gehen. Du wirst wieder ganz schnabbelich aussehen, Jörn. Gieb dir keine Mühe, Thieß! Ich kenne 284 diese Stadt und kenne einen dicken und gemütlichen Wirt in der Königsstraße, der soll uns Quartier geben. Geht ihr noch ein Stück mit uns?«
Da gingen sie alle vier nebeneinander die Langereihe entlang, nach der Königsstraße zu. Es war Abend geworden; es hatte stark geregnet, und noch fiel ein feiner Regen. Gelbe und weißliche Lichter warfen ihren deutlichen Schein auf die dunkle Straße und die gehenden Menschen und auf die wasserblanken Spiegel der Steine. Und Thieß drehte den Kopf und blieb stehen und lief dann im steifen Trabe hinterdrein, daß seine eisenbeschlagenen Stiefel klirrten.
»Es ist so recht ein Wetter,« sagte er, »in dem sie wohl unterwegs sein könnte, so ein Wetter für alles, was sich schämt und nicht gut gekleidet und traurig ist.« Er sah verlegen lächelnd zu ihnen auf. »Ich möchte hier ein wenig hin und her gehen,« sagte er.
»Du wirst ganz naß, nimm den Schirm,« sagte Lisbeth.
»Nein, nein, ich werde leicht wieder trocken . . . Ihr beide kommt morgen noch einmal wieder her zu mir! Und bringt mir das Mädchen gut nach Hause!«
Sie versprachen es ihm, und er ging davon. Sie standen und sahen ihm nach. Das Wasser glänzte auf seinem Rücken. Die steifen Schäfte seiner Stiefel gaben der Hose einen Knick. Er ging im kurzen Trabe. Ein Paar blieb stehen und sah dem kleinen, trabenden Manne nach.
»O Thieß, o Thieß!« sagte Fiete Krey. »Du Hansnarr unserer Kindheit! Wir Kinder sahen nicht, was in dir war. Dies ist ein böser Tag für die Kinder von Wentorf! Komm mit, Lisbeth!«
Die drei gingen still weiter. Nach einer Weile sagte Fiete Krey: »Ich werde nun in diese Wirtschaft gehen und warten, bis du wieder kommst. Du bringst Heintüüt nach 285 Hause: das ist deine Sache; ihr habt immer zusammengehalten.«
Da ging Jörn neben Lisbeth bis zur Hausthür der Tante. Sie sprachen wenig miteinander. Er fragte sie des Näheren, wie sie lebte; und sie erzählte, daß die Tante gut und freundlich mit ihr wäre. Ein wenig still und einsam wäre das Leben und ein wenig ohne Hoffnung; sonst hätte sie nichts zu tragen. Das alles sagte sie in zurückhaltender, scheuer Weise, so wie sie immer gesprochen hatte. Sie fragte ihn, ob er in großer Gefahr gewesen wäre, und wie lange er krank gewesen, und ob er gute Verpflegung gehabt hätte. Er beantwortete ihre Fragen kurz und dürftig. Von ihrer Jugend redeten sie kein Wort. Als er ihr ehrerbietig die Hand gab, wurde sie ein wenig zutraulich, hielt sie lange fest und sagte: »In den Sommerferien komme ich nach Wentorf, dann will ich auch dich besuchen.« Als er aber in gleicher Weise schweigsam und zerstreut blieb, ließ sie die Hand rasch fahren und verschwand hinter der leise sich schließenden Thür.
Er fand Fiete Krey in der Wirtsstube sitzend. »O,« sagte der, »ich dachte, euer Abschiednehmen würde etwas länger dauern. Doch wie du willst! . . . Und nun will ich dir 'was sagen: Ich will Thieß Thiessen nicht erst wieder sehen, und Lisbeth Junker auch nicht, und Wentorf auch nicht, sondern ich will morgen wieder nach drüben fahren.«
»Was?« sagte Jörn Uhl. »Willst du wieder abreisen, ohne deine Eltern gesehen zu haben?«
»Meine Eltern,« sagte er, »sind mir schon teuer genug gekommen. Mach' nicht so 'n dummes Gesicht, Jörn, ich will es dir erzählen. Als ich im vorigen Sommer kurz vor Ausbruch des Krieges in Wentorf ankam, um mir mein kleines Erbe zu holen, da erfuhr ich als erstes, daß die Tante gar nicht tot wäre. Ein Schelm von einem Bauern 286 hatte einen falschen Brief an meinen Alten geschrieben, sie wäre tot, er möge kommen. Da zieht Jasper Krey seinen schönen, schwarzen Rock an und kommt in die Stadt. Und in seiner Herzensfreude, daß die Alte nun endlich tot ist, kauft er fünf bis sechs große, teure Totenkränze mit langen Schleifen und schönen Inschriften, und geht mit ihnen ins Wirtshaus und trinkt mehr als gut ist, und kommt so, seine Totenkränze über Arm und Schulter, bei der Tante an. Die sitzt am Fenster. Na, das Weitere kannst du dir nach Belieben ausmalen . . . Jasper Krey kommt also mit seinen Kränzen wieder nach Haus. Mutter weint; Jasper Krey pfeift. Er pfeift und hängt die sechs Kränze rund umher an den Wänden unserer Stube auf: Du weißt, Jörn, wir Kreyen haben Sinn für das Bunte und Schöne. Es machte sich gut, Jörn. Die großen, weißen Schleifen hingen bis auf die Stuhllehne hinunter, so daß man die Widmungen vor Augen hatte: ›Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah‹ . . . ›O lieb, so lang du lieben kannst‹ . . . ›Auf Wiedersehen‹ u. s. w. Als ich noch so sitze – mitten in der Stube, Jörn –, und Mutter mir die jämmerliche Geschichte erzählt, und ich denke: Darum also hast du Frau und Farm verlassen, darum bist du tausend Meilen gefahren, und ich mich immer so mit meinem Stuhl rundum drehe und die Inschriften lese – denn etwas wollte ich doch auch davon haben, Jörn – da kommt der Amtsdiener von Mariendonn: ›Krieg gegen Frankreich! Und du bist zur rechten Zeit gekommen, Fiete Krey! Und mußt mit!‹ . . .
»Da schrieb ich an Trina Kühl: ›So und so, und ich hoffe, daß ich gesund wiederkomme; und wenn ich wiederkomme, will ich dich vier Wochen lang auf den Armen durchs Haus tragen‹ . . . Ich wollte drei Monate fort sein, Jörn, und bin nun fast ein Jahr lang fern von ihr 287 und ohne Nachricht. Es kann dich nicht wundern, daß ich ihretwegen in Unruhe bin, obgleich ich sie in dem Schutz eines guten Freundes zurückließ. In Wentorf habe ich nichts mehr zu suchen . . . Und nun noch eins, Jörn Uhl! Wenn es dir auf der Uhl zu kraus und zu bunt wird, laß dich hier nicht am Elend festbinden, sondern dann reiß dich los und komm zu mir herüber.«
Aber Jörn Uhl legte die geballte Faust auf den Tisch und sagte: »Ich habe von meinem zwölften Jahre an um die Uhl gesorgt und gearbeitet: ich will sehen, ob ich sie nicht aus ihren Händen retten kann.«
* * *
Am anderen Morgen reiste Fiete Krey nach Amerika, Jörn Uhl nach Wentorf. Als der Zug mit Jörn Uhl abgefahren war, ging Thieß Thiessen wieder durch die Straßen und suchte.
So hat er acht Jahre lang gesucht, während Peter Suhm, der Sohn von Hans, dem Heeshof vorstand.
Oft, vom brennenden Heimweh gepeinigt, ging oder fuhr er nach dem Heeshof, stand an allen Ecken des Hauses, atmete den Wind ein, ging in den Wald hinauf und ins Moor hinunter, und besuchte Jörn Uhl in Wentorf, und ordnete vieles an und richtete sich ein, als wenn er bleiben wollte und blieb vier, und wenn's hoch kam, acht Wochen. Dann kam Unruhe und Schlaflosigkeit über ihn, und er riß sich mit immer gleichem Schmerz von der Heimat los, und saß wieder mit bitterem Heimweh in der großen Stadt, und wohnte wieder in der kleinen Stube mit dem eisernen Kochofen, mit dem Torf und mit dem Klub, und suchte wieder in den langen Straßen.
Die in jenen Jahren an der Straße gewohnt haben, 288 die über Itzehoe und Elmshorn nach Hamburg führt, die müssen sich seiner erinnern, denn meistens wanderte er zu Fuß diese lange Straße, da er sich einbildete, sie könnte ihm auf dem Wege zum Heeshof eines Tages entgegenkommen, dann hätte er ja gleich wieder mit ihr nach seinem geliebten Heeshof umkehren können. Auch die, welche die Gegend von St. Pauli und den Hafen bis zur Elbstraße oft begangen haben, die müssen sich des kleinen Mannes erinnern, der in einem kurzen, dicken, dunkelgrauen Rock und in zu kurzen und zu engen Hosen, in harten und groben Stiefeln, deren steife Schäfte sich durch die Hosen abzeichneten, und mit seinem kleinen, verklamten Webergesicht mit den suchenden Kinderaugen so oft durch diese Straßen gegangen ist. Er hatte etwas Trabendes und Fallendes in seinem Gange, wie man es oft bei Leuten sieht, die viele und gleiche Wege gehen. Es fiel aber auf, daß er nicht gleichgültig daherging, wie jene Leute zu thun pflegen, sondern daß er die flinken Augen überall zwischen den gehenden Menschen durchschießen und durchgleiten ließ, und daß er zuweilen plötzlich an die nächste Mauer zurücktrat und mit klugen, freundlichen und ziemlich verträumten Augen lange stand und betrachtete, was ihm im Getriebe der Straße plötzlich aufgefallen war. 289