Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Sechzehntes Kapitel

Die Leute dieser Gegend sind zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Stimmung in ihre Heimat zurückgekehrt, als Sieger und als Besiegte. Denn das Land Schleswig-Holstein ist von grauen Zeiten her eine rechte Wiege von Völkern und Fürsten gewesen.

In alten, grauen Zeiten, da dem wachsenden Volke das Land zu enge wurde, rüsteten sie ihre dickbäuchigen Boote mit langen Rudern von Eschenholz und mit breiten, grauen Segeln und fuhren übers Meer nach Britannia. Und einige Boote kamen mit spärlicher Besatzung zurück; die ging von Gehöft zu Gehöft, das lange Haar mit bunten Wollbändern geschmückt, und brachte Grüße von denen drüben: herrlich wäre das Land, weite Ebenen mit schönen Pferdeweiden, tiefe Seen mit guten Fischen, und besiegt wäre das Volk, das da wohnte, und sie wären gesandt, zu sagen: kommen sollte Mechtild, die mit den hellgrauen Augen, und die rothaarige Traut, und die kleine Emma und andere Mädchen, und dort drüben im fremden Lande auf breiten Höfen Herrinnen sein über viel gehorsames und flinkes Gesinde. Und als der Bote aus dem Hofthor weiter ging, warf er, in Übermut aufjauchzend, den Speer in die nächste Linde.

290 Verschieden kamen die Leute dieser Gegend heim in ihre Heimat. Das war fünfhundert Jahre später: da waren sie ostwärts hinter den Wenden hergezogen, die hatten einen Einfall in ihr Land gemacht. Aber zwischen Neumünster und Eutin, als sie um eine Waldecke biegen wollten, wurde der Wald lebendig. Da flogen flinke Wenden hin und her, daß ihnen wirr vor den Augen wurde, und noch flinkere Wendenpfeile flogen manchem guten Mann in die Seite, daß er lendenlahm wurde. Da kamen sie mit lang hängenden Schnurrbärten und mit trübseliger Miene heim zu ihren Feuerstätten.

Wieder fünfhundert Jahre: da war der Däne ins Land gebrochen: es lockte ihn des Landes Reichtum und des Bauern langhaarige Tochter. Aber sie riefen den Landsturm auf, es heulten die Glocken, es flammten auf den Deichen die Fanale; das Meer, ihr Nachbar und sonst ihr Feind, machte auf drei Tage einen Bund mit ihnen, und sie schlugen den Feind mitten in ihrem Lande, und erwürgten sein Heer und duckten es in den Schlamm der Marsch. Und als Hinnerk Wiebers nach seinem Hof heimkehrte, warf er seinem Weibe, die am Herde saß, Goldgerät vor die Füße, das er aus des Königs Wagen erbeutet hatte, und band seinen grauen Hofhund lachend an die goldene Kette, die Herzog Adolf von Holstein dem Ritter von der Wisch um den Hals gehängt hatte.

In verschiedener Stimmung kehrten sie aus der Fremde heim in dies Land. Nicht immer in Siegeslaune . . . Es wurden sich fünfundzwanzig einig aus Hemmerwurth – ist ein kleines Dorf an der Eidermündung –, bemannten zwei Schiffe und erklärten Hamburg den Krieg und lagerten in der Elbe. Hemmerwurth gegen Hamburg. Sie wurden gefangen genommen und in den Turm gesteckt, wo er am 291 finstersten war. Zuletzt wurden diejenigen freigelassen, welche zu den tausend Mark Lübsch Kostgeld, welche Hamburg verlangte, ihren Beitrag liefern konnten. Das konnten sie alle, bis auf Maas Jarring. Der hatte nichts. Es wollte aber niemand etwas für ihn thun; denn er hatte immer einen losen Mund gehabt und war ein Schelm. Da gab er in seiner Not seinen Genossen, als sie dem Turm entrannen und nach Hause reisten, eine Verschreibung mit, worin er bei der Großmutter des hochgelobten Seligmachers, der Heiligen Anna von Bösbüttel, das Gelübde that, daß er die Telse Bokel heiraten wollte; die war nicht schön. Da gab die für ihn das Lösegeld. So entrann auch er dem Turm und kam in die Heimat. Nicht in Siegerlaune.

Es ist kein Ende des Erzählens. Dies Land ist alt und hat viel erlebt.

Jörn Uhl kehrte nicht im Gefühl des Siegers heim. Er empfand durchaus nicht, daß die Heimat die Pflicht hätte, sich wegen seiner Wiederkehr in Grün und Blau und Gold zu werfen, wie sie thut, wenn sie Feier macht. Er fand es vielmehr ganz richtig, daß es trübseliges Wetter war und lange, schwere Nebelschiffe zu beiden Seiten des Weges auf den niedrigen Feldern lagen.

Er sah in der Dämmerung, daß sie schlecht gepflügt hatten, und daß das Weizenfeld ungeschickt gesät war. Das Heckthor der Weide war heruntergebrochen und lag soweit in den Weg hinein, daß die Wagenspur einen Bogen machte. Sie waren alle zu träge gewesen, das Holzwerk beiseite zu werfen. Er legte sein Bündel ins feuchte Gras und stellte das Thor wieder auf.

Als er aus dem Baumgang herauskam, sah er aus den hohen, unverhangenen Fenstern breiten, ruhigen Lichtglanz kommen, der fiel auf die Steinplatten vor der Thür und 292 streifte den Thürpfosten von Sandstein, daß das Gold der Buchstaben schimmerte, die da eingegraben waren: die Namen der Uhlen, die nacheinander auf diesem Hofe gesessen hatten. Junge Leute traten redend über die Schwelle, ins Wetter zu sehen. Jörn ging tiefer in das Dunkel der Pappeln den Weg der Knechte, um das lange Hinterhaus herum nach der Gangthür zu, die in die Dreschdiele führte. Die jungen Leute sahen ihn undeutlich gehen, und einer sagte: »Der will bei Wieten Klook am Fenster stehen.« Gleich darauf hörte er seines Bruders Stimme: »Mensch, wenn ich nicht wüßte, daß er die Ruhr im Leibe hat, so hätte ich gesagt, das ist Jörn.«

Er mühte sich, mit seinen eisenbeschlagenen Stiefeln möglichst wenig Geräusch zu machen, kam an die Thür und wunderte sich, daß sie offen stand; denn Wieten pflegte für dies alles gut zu sorgen. Die Hand zum Schutz in der Finsternis vor sich hingestreckt, ging er langsam die große Diele hinauf. Einmal rakte sein Arm an Holz: das war die Schrotkiste vor den Pferderaufen. Gleich darauf stieß sein Fuß an liegendes Stroh. Er merkte an dem weichen, vollen Rauschen, daß es Hafergarben waren. Er bückte sich und griff in den Kopf der Garbe, die gereift hatte und geerntet war, während er in Frankreich gewesen, und die nun vor dem Drescher lag. Da fing er an, sich heimisch zu fühlen.

Und wiederum wunderte er sich, daß die Thür nach der Mitteldiele offen stand und daß aus der offenen Küchenthür schwankender Feuerschein auf die Diele fiel, als sollte einer in dem Schein den Weg zur Küche finden. Er kam langsam und zögernd heran, bereit, gleich nach seiner Kammer zu gehen, wenn Fremde in der Küche wären. Aber da saß nur Wieten auf einem Stuhl und strickte beim unsicheren Licht des Herdfeuers, die Brille auf der Nase, und sah über 293 die Brille weg auf ihn, und griff nach der Brille und sagte mit verhaltener, zitternder Stimme: »Na, da bist du ja . . . Mein Junge . . . Ich habe den ganzen Tag auf dich gewartet. Ich habe Kaffee aufgesetzt. Sieh . . . der ist bald gut.«

Sie war aufgestanden und wollte sich nach der Gewohnheit unserer Leute bezwingen, und langte nach dem Kessel, der überm Feuer stand. Aber die heiße Sehnsucht und die übergroße Freude, daß sie ihn gesund wieder hatte, that der auslangenden Hand Gewalt an und drängte sie aus der Richtung. Da lag die bebende Hand auf seinem Arm.

»Wieten!« sagte er. »Mien ole Wieten!« Und er griff schüchtern nach ihrer Hand und nahm sie in die seine. »Freust dich so sehr, daß ich wieder da bin? Bist du immer gesund gewesen, Wieten? Bist du noch fix und rüstig, alte Deern?«

Sie nickte, da sie vor aufsteigenden Thränen nicht sprechen konnte. Dann legte sie den Strickstrumpf auf den Tisch, der am Fenster entlang lief, und sagte: »Bring's nach der Stube, Lena.«

Da erst sah er ein großes Mädchen, das am Aufwasch stand und nach ihm hinsah. Sie kam jetzt in den Schein des Herdfeuers, und er sah sie an, und sie gefiel ihm; denn sie war groß und stark und stattlich von Gang. Dazu war ihr Gesicht frisch von Farbe, weiß und rot und weich gerundet, und das Haar gelb und ein wenig wellig; nur an den Ohren waren kleine Locken, so groß, daß man einen Finger hineinstecken konnte. Er meinte, noch niemals so ein frisches und zugleich ordentliches Mädchen gesehen zu haben. Dazu gefiel ihm auch, wie sie ihm zunickte und »guten Abend« sagte und ihn so frei neugierig und ernst freundlich betrachtete, von oben bis unten.

294 Es war ein gutes Zeichen, daß er nach seiner Heimkehr wegen dieses Mädchens die erste Frage that: »Wo hast du die denn her, Wieten?«

»Das ist Lena Tarn,« sagte sie. »Sie ist seit November Großmädchen . . . Nun trinke. In den Vorderstuben ist wieder großer Hopphei. Hinnerk hat Pferde gekauft und muß natürlich zu dem teueren Preise auch noch den Weinkauf zahlen . . . Sie bekommt zwanzig Thaler Lohn; viel zu viel.«

»Ist sie so, wie sie aussieht?«

»Na, du weißt, Jörn: da ist immer etwas daran auszusetzen . . . Sie singt mir zu viel.«

»Die singt? Die sieht so verständig aus.«

»Du meinst: sie ist eine Heilige, weil sie so rein und ernst aussieht, nicht? Ist sie lange nicht, Jörn. Alles andere.«

»Wild?«

»Nein, das kann ich nicht behaupten, Jörn. Sie ist bloß so singig. Auch ist sie so patzig und so geradeaus mit dem Mund. Das mag ich bei einem Mädchen nicht leiden . . . Hörst du?«

Man hörte sie in der Stube vor sich hinsingen.

»Wer soll denn singen, Wieten, wenn junge Mädchen es nicht sollen? . . . Wohnt sie bei dir in der Stube?«

»Ja . . . Da schläft sie auch. Das hat sie sich ausbedungen. Sie ist von ordentlichen Eltern und hält sich ehrbar. Das muß ich ihr lassen. Ich sage: sie ist bloß zu singig und zu rechthaberisch. Weiter sage ich nichts . . . Nun trink, Jörn!«

Er trank und aß und sagte: »Setz' dich auf deinen Stuhl, Wieten, und sage: Wie kam es, daß du mich erwartetest?«

»Wie es kam? Meinst du, daß ich nicht in allen 295 Gliedern spürte, daß du unterwegs warst? Die Thüren wären die ganze Nacht offen geblieben, Jörn, und ich wäre nicht vom Herd gegangen. Das kannst du glauben.«

Sie hatte sein Bündel geöffnet, breitete die Wäsche aus und staunte über den guten Zustand derselben, und er erzählte, daß eine mitleidige Frau ihn reichlich beschenkt hatte, als er im Lazarett gelegen.

»Und dann, Jörn,« sagte sie: »es wurde hohe Zeit, daß du kamst.«

Sie ging nach der Waschküche und kam wieder, und stocherte mit der Feuerzange in der Torfglut, und nun weinte sie. »Es kann mir doch nicht einerlei sein, wie es auf einem Hofe hergeht, auf dem man alt und grau geworden ist. Elsbe ist ins Elend gegangen. Und was soll aus dir werden? Ihr beide seid mir wie leibliche Kinder. Darum muß ich dir alles sagen: Dein Vater fährt jeden Nachmittag in die Stadt, und nachher sitzt er hier im Dorf in der Wirtschaft von Torkel, und du weißt, der hat ein liederliches Weib und zwei verdorbene Töchter. Und deine Brüder sind auch mehr als Trinker und Mädchenjäger geworden: ich weiß, daß einige ihnen drohen, sie sollen Geld zurückbezahlen, das sie sich erschwindelt haben. Ich bin in Ehren grau geworden, Jörn.«

Nun stand der Jammer riesengroß vor ihm. Er trat ans Fenster, und sie trat auch hinzu, noch weinend, und sah von ungefähr aus dem Fenster. Es war aber Mond- und Sternenschein, wenn auch neblig und wolkig. Und sie fing an zu klagen, daß sie den Pflug nicht hatte fortschaffen lassen, der da an der Auffahrt lag. Man sah das blanke Eisen im Schein des Mondes. »Der Knecht war betrunken und wollte nicht in den Regen hinaus. Wenn dein Vater nun heute nacht nach Hause kommt, könnten die Pferde scheuen.«

296 »Die Pferde sind Nachtreisen gewohnt,« sagte er. »Komm, wir wollen schlafen gehen.«

»Willst du nicht nach vorne gehen und deinen Brüdern sagen, daß du wieder da bist?«

»Nein . . . Ich bin ihnen noch zu früh gekommen. Wir wollen schlafen. Ist das Mädchen schon zu Bett? Sorge dafür, daß sie den Lumpen da vorne nicht in die Hände fällt; es wäre schade. Elsbe ist dahin; laß das genug sein.«

Sie gingen still auseinander, ohne Gutenacht; denn fast ehe sie ausgeredet hatten, waren sie schon beide in tiefen Gedanken. Er legte sich angekleidet nieder, um nach alter Gewohnheit den Ausspann zu besorgen, wenn der Vater heimkäme. Aber von Unruhe getrieben, stand er wieder auf und trat ans Fenster und sah in die Nacht hinaus. Um dieselbe Zeit war auch die Haushälterin aufgestanden und stand vornübergebeugt, und spähte nach dem Pflug hinaus, und sah ihn blinken, und atmete schwer und schüttelte sich wie vor Grauen. Dann legten sich beide wieder hin. Und als sie sich hingelegt hatten, wurden ihre Seelen wider ihren Willen in schwarze Tiefen hinabgezogen, die sich grenzenlos dehnten, und hatten nicht die Kraft, wieder heraufzukommen. Und während sie stöhnend mit der Finsternis rangen, während auch das junge Mädchen in unruhigem Schlaf bei sich selber sprach, erhob sich ein Kriechen in den dunklen Ställen, ein Schleifen auf den Böden und ein schweres Schlürfen und Schleppen auf den langen Dielen; und die große Doppelthür zwischen den Staatsstuben sprang mit hohlem Stoß auf. Sie konnten aber alle nicht aus dem Schlafe kommen; sie wurden von großen, schwarzen Händen in der Tiefe gehalten.

Am Morgen, gegen sechs Uhr, als es noch dunkel war, kam 297 Jasper Krey in die Küche. Er war ein wenig verdutzt, als er Jörn neben Wieten am Herdfeuer stehen sah; aber dann sagte er ruhig, als wenn es sich um den Unfall eines Wagenpferdes handelte: »Du mußt 'mal mitkommen, Jörn. Der Wirt hat umgeschmissen und ist in den Pflug gestürzt. Ich glaube: er hat zuviel bekommen.« Er zeigte auf die Stirn.

Wieten Klook schrie laut auf und warf die Hände vors Gesicht: »Der Pflug!« jammerte sie. »Ich habe es kommen sehen; aber ich konnte keinen Finger rühren.«

Jörn Uhl sprang hinaus und fand seinen Vater. Er lag beschmutzt und durchnäßt im nassen Grase und in Wasserlachen. Das dünne Haar war ganz voll Blut. Er redete mit undeutlicher Stimme irre, er wollte hier im Bette liegen bleiben, sagte er, sie sollten nur hingehen und pflügen, er könnte es nicht. Und er sagte, er wäre beim Abfurchen unter den Pflug gekommen. Die Pferde hatten den umgeworfenen und zerbrochenen Wagen weiter geschleppt und standen vor dem Scheunenthor.

Sie trugen Klaus Uhl ins Haus und legten ihn aufs Bett. Der Arzt wurde geholt und stellte fest, daß Erschütterung und schwerer Schrecken den Schlaganfall herbeigeführt hätten, zu dem der Verunglückte seit Jahren geneigt hätte. Er könnte noch lange leben; der Zustand würde sich vielleicht etwas bessern; schwerlich werde der Kranke wieder gehen können; seinen klaren Verstand werde er wohl nicht wiederbekommen.

* * *

Am dritten Tage kam der kleine Weißkopf auf den Hof. Er kam zu Jörn, der mit stillem Gesicht die Pferde fütterte, und sagte: »Ich habe von dem Unfall deines Vaters gehört und habe jetzt ein Anliegen an dich. Wenn es dir recht ist, 298 so wollen wir beide mit deinen beiden Brüdern zusammen in der Kammer sitzen, in der du damals wohntest, als du noch ein Junge warst.«

»Da wohne ich auch heute noch,« sagte Jörn.

»So!« sagte der Alte und sah ihn aufmerksam an. »Das sieht dir ähnlich. Es thut mir leid, daß deine Schwester Elsbe, die damals so freundlich mit mir war, so unglücklich verheiratet ist, wie ich gehört habe.«

Jörn antwortete darauf nichts, und führte den Alten in die Kammer, und ging hinaus und rief die Brüder. Sie kamen widerwillig und sahen mit ihren schönen, hochmütigen Uhlgesichtern verächtlich darein. Hinrich, der auf dem Marsch nach Frankreich, auf dem Bahnhof in Düsseldorf, angetrunken und mit seinen Kameraden albernd, beim Besteigen des Wagens gestürzt war und ein Bein gebrochen hatte, war also durch sein eigenes Verschulden verhindert worden, den Feldzug mitzumachen. Da er von Natur ein Prahler war, und zwar ein größerer noch als sein Vater, da ihm des Vaters Klugheit fehlte, so wäre er schon des Prahlens wegen gern dabei gewesen. Er ertrug es nicht, daß er sich nicht in die Brust werfen konnte. Er wäre einer von denen gewesen, die in jenen ersten Jahren nach dem Kriege den Schnurrbart zwirbelten, erst den linken: »Siebzig!« dann den rechten: »Einundsiebzig!« Dann stolz lächelnd beide Seiten mit starkem Ausrufungszeichen: »Mitgemacht!« Daß er das nicht konnte, das hatte seiner zu Roheit neigenden Natur die letzte Stütze weggerissen. Geprahlt mußte werden. Jetzt erst recht. Es mußte über die anderen hinweggeprahlt werden. Also prahlte er mit liederlichem Leben und mit gemeinen Worten.

»Hören Sie genau zu!« sagte der Alte. »Ich bin von der Sparkasse hierhergeschickt und bin zugleich in eigenem 299 Namen hier. Wir beide, die Sparkasse und ich, hatten vor zwölf Jahren einen größeren Geldposten frei und boten ihn unter der Hand aus. Ihr Vater nahm ihn als erste und einzige Schuld auf seinen Hof, der sie, wenn auch mit genauer Not, tragen konnte. Wir wunderten uns, daß er seinen Hof so schwer belastete. Er sagte aber, er wolle sein Bargeld zu guten Geschäften brauchen, die er machen könnte, und wir glaubten ihm; denn er galt damals noch für klug, gewandt und wohlhabend, wenn er auch ein sehr reichliches Leben führte. Nachher aber, als wir wohl merkten, daß es bergab mit ihm ging, und als auch die erwachsenen Kinder das Ihre thaten, das Vermögen zu verringern, da haben wir auf ihn geachtet, und haben ihn vor zwei Jahren gewarnt und haben ihm endlich, als Gefahr vorhanden war, daß der Hof unter Wert kam, gekündigt. Vor drei Tagen hat er den Brief bekommen. Am selben Abend ist er verunglückt, und zwar so schwer, daß er, wie ich höre, zwar das Leben noch ziemlich lange bergen kann, den Verstand aber schwerlich wiederbekommt.«

»So?« sagte Hinrich. »Also so steht es! So, so!« Er war weiß im Gesicht geworden, und seine Augen blickten scharf.

»Ja, so ist es,« sagte der Alte und nickte mit dem Kopf. »Und nun haben Sie die Wahl. Entweder wir treiben den Hof zum Konkurs: dann ist anzunehmen, daß ihr alle drei, ohne einen Pfennig zu retten, in die weite Welt gehen müßt; oder wir überlassen dir, Jörn, für die gesamte Schuldenlast den Hof und sehen zu, was du herauswirtschaftest. Für die kleineren Schulden, die etwa noch da sind, hättest du auch aufzukommen. Euch beiden aber bieten wir jedem 2000 Mark, womit ihr abgefunden wäret und den Hof zu verlassen hättet. Das ist unser Vorschlag.«

Jörn saß und starrte auf die Lade und war glücklich: 300 »Mir der Hof! Ich der Herr!« Und er schämte sich vor seinen Brüdern.

Hinnerk gab Hans einen Wink und ging mit ihm hinaus, und wie von selbst kamen sie an das Bett des Vaters. Wieten Penn, die daneben saß, ging hinaus.

Sie waren sonst immer nur zu ihm gekommen, damit er ihnen einige Goldstücke gäbe. Jetzt standen sie da um andere Dinge. Aber er lag in schwerem Schlaf und hörte nicht.

Da fing Hinnerk an zu behaupten, daß der Weißkopf löge: es stände nicht so schlimm und man müsse vorsichtig sein. Aber wie sie noch ein wenig so redeten, merkten sie, daß sie beide an der Wahrheit des Berichts nicht zweifelten, und wurden stumm. Da fingen sie an, einer dem anderen Vorwürfe zu machen. »Du hast in diesem Winter sechshundert Mark im Spiel verloren,« und: »Du gegen zweitausend bei deinem unklugen Pferdehandel.« Sie sahen sich an, und es war nahe dabei, daß sie übereinander herfielen.

Aber da kam wieder der Gedanke der Zukunft, und sie wurden wieder grüblerisch. Sie standen an der Stelle, wo jener stand, der zu sich sagte: Graben kann ich nicht; zu betteln schäme ich mich. Und es kam sie ein Grauen an, wie einem Menschen, welcher träumt, ihm wären beide Arme abgenommen, und er solle sich nun so armlos durchs Leben schlagen. Hinnerk wandte sich zum Bett und schrie mit geballten Fäusten, was der Älteste vor fünf Jahren geschrieen hatte: »Was hast du uns gelehrt? Büßen wirst du das! Du! Allerheiligen kommt! Du sollst Pacht bezahlen, so wahr Gott lebt!« In diesem Augenblick glaubte er fest an ein Leben in einem anderen Lande, darum, weil er wünschte, daß sein Vater ins Gericht käme. Hans stand stumm und steif und sah auf des Vaters Gesicht, in dem es zuckte und wirrte.

301 Hinrich riß des Vaters Kleidungsstücke auseinander und suchte die Schlüssel und fand sie, öffnete den braunpolierten, schweren Eckschrank und suchte in der bekannten Schublade nach Geld. Es war aber nichts darin als ein Stück Papier und ein goldenes Halskettlein von guter, alter Arbeit, an welcher ein Petschaft und ein Trauring befestigt waren. Er öffnete das Papier und fand eine kurze Zahlenreihe darauf, eine Schuldenaufrechnung. Unter der großen Hypothek standen noch über zehntausend Mark Wechselschulden. Darunter hatte der Vater sauber und fein, wie einer, der sich im Schönschreiben übt, geschrieben: »Ich kann keine Luft mehr kriegen.«

»Na,« sagte Hinnerk. »So steht es. Da haben wir es schwarz auf weiß. Nun: also wird Jörn auch nicht lange auf der Uhl sitzen. Er wird gezwickt und gezwackt werden, daß er die Wechselschulden bezahlt, und dann werden sie ihn vom Hofe jagen. Es nützt nichts, Hans, wir müssen auf und davon. Hier ist nichts mehr zu haben: Es gehört uns nicht ein einziges morsches Brett auf dem ganzen Hof.« Er nahm das Kettlein an sich, riß die Anhängsel ab und gab die dem Bruder.

Hinnerk hat das Kettlein nachher beim Kartenspiel verkauft; Hans aber hat die goldene Kleinigkeit bis auf diesen Tag als Andenken an die Mutter behalten und an seiner Uhrkette getragen, auch in der Zeit, als er die Uhr verkauft hatte, um sich mit seinen Kindern satt zu essen.

Sie sahen sich noch einmal um und gingen hinaus. Auf der Mitteldiele ging der Weißkopf hin und her und sagte: »Nichts gefunden? Wollt ihr die Zweitausend annehmen?«

»Können wir sie heute bekommen?«

»Heute nachmittag vier Uhr ist unser Vertreter in 302 der Holländerei zu sprechen. Er wird mit euch zum Notar gehen.«

Da gingen sie hinaus, packten ihre Sonntagsanzüge in ihre Soldatenkoffer und befahlen, daß angespannt würde. Jasper Krey sollte sie fahren. Jörn ging ihm nach in den Pferdestall: »Das Gespann ist mein,« sagte er stolz und hart, »du bist mir verantwortlich, daß es heute abend wieder auf der Uhl ist.«

Draußen, als sie neben dem Wagen standen und noch einmal über das große Gewese hinsahen und über die breiten Felder, die westlich von Ringelshörn liegen, der beste Teil des Hofes, waren sie ernst und still. Hinnerk stand mit knirschenden Zähnen und weißem Gesicht. Hans sagte zu dem Jüngsten: »Vater hat die größte Schuld; aber wir haben auch nicht gethan, was recht war. Es ist recht so, daß du hier Bauer wirst. Sieh zu, daß es nicht in fremde Hände kommt.« Er kehrte sich um und stieg auf den Wagen.

Dann fuhren sie davon und sahen sich nicht wieder um.

Als Jörn vom Wagen zurückgetreten war und ihm lange nachgesehen hatte und sich langsam, in schweren Gedanken versunken, nach der Thür hinwandte, stand da neben dem Weißkopf die kleine, magere Gestalt von Thieß Thiessen.

»Jörn! Jörn!« sagte er. »Dieser alte Mann, den ich seit dreißig Jahren kenne, hat mich aus Hamburg hierher kommen lassen, damit ich dir in diesem Wirrwarr rate. Jörn, mein Junge: das habe ich immer gesagt: Was gehen uns vergangene Zeiten an? Laß die Toten ruhn! Was sollen wir mit Wulf Isebrand und mit Napoleon? Ja, selbst über meine Schwester, sage ich: sie ruhe in Frieden! Und damit gut. Aber was vor uns liegt, Jörn: danach müssen wir neugierig ausschauen; das muß uns Sorge machen! Der Rest der Weltgeschichte, Jörn, da liegt unsere 303 Not. Und sieh, der Rest der Weltgeschichte, soweit sie dich angeht, ist dir jetzt vor die Füße gelegt . . . Ich bin eben bei deinem Vater gewesen, und Wieten hat mir alles erzählt. Komm herein! Die Störenfriede sind weg; Vernunft regiert auf der Uhl. Komm, wir wollen eine Tasse Kaffee trinken, und zwar neben der Lade in deiner Kammer. Ich soll dich von Lisbeth grüßen; ich glaube: tausendmal.« 304

 


 


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