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Während Georg im Kerkerturm lag, verließ der Magister mit seiner Tochter die Stadt.
Auf dem Deck des Elbingers war in der Eile eine Hütte errichtet, welche den Verbannten mit seinem Haushalt beherbergen sollte, bis er das Gebiet der Stadt Thorn geräumt hätte, dann mochte er auf dem Bordschiff weiterfahren oder aussteigen, wie es ihm gefiel. Die Hütte hatte Philipps Eske durch seinen Vater dem Schiffer anbefohlen, und der treue Knabe wich den Flüchtigen in den letzten Stunden ihres Aufenthalts nicht von der Seite. Doch nicht er allein war der Pflichten eingedenk, welche dem lateinischen Schüler gegen seinen Lehrer oblagen, auch ein Haufe der kleinen Schützen trug sich mit dem Reisegepäck des Vaters, und vor andern die Armen, welche an seinem Tische Kost und freundlichen Zuspruch gefunden hatten. Lips machte sich auf dem Schiffe bei dem Gepäck und den Schiffsleuten zu tun, um der Unterhaltung mit den Scheidenden auszuweichen, denn ihm war das Herz schwer und er fürchtete wegen des Gefangenen ausgefragt zu werden. Er hatte dem Ratsdiener und dessen Frau ernsthaft geboten, die Traurigen nicht durch Reden über die Gefahr des Freundes noch tiefer zu kränken. Aber seine Vorsicht nützte wenig, denn wenn auch der Magister für seinen Schüler noch Gutes von der vornehmen Freundschaft hoffte, Anna erkannte deutlich aus den Mienen ihrer Wirte und aus den zögernden Antworten des Pylades, daß Georg in furchtbarer Bedrängnis zurückblieb. Sie saß stumm und teilnahmlos auf dem Verdeck, hielt das Hündlein in ihrem Schoß und blickte unverwandt nach den Türmen der Stadt, welche sie in Feindschaft verlassen sollte. Nur einmal, als Philipps vorüberging, fragte sie: »Wo weilt er jetzt?« Da vergaß der Gefragte selbst die Behutsamkeit und antwortete traurig: »Ihr könnt von hier den Turm nicht sehen«, sie aber senkte das Haupt und fragte nicht mehr. Als in den letzten Stunden des Nachmittags der Schiffer alle Fremden aufforderte, das Deck zu verlassen, bot Lips dem Magister und Anna die Hand und vermochte nichts vorzubringen als: »Ich danke für alles Gute, Herr Vater; laßt mich in kurzem wissen, wohin ich Euch Nachricht senden soll;« dem Schiffer raunte er noch zu: »Sorgt für meinen Herrn Vater, wenn Euch an dem guten Willen der Thorner gelegen ist«, und schwang sich ans Land. Die Schützen aber standen gedrängt am Rande des Ufers, und als der Magister ihnen vom Deck den Scheidegruß zurief und sie aufforderte, guter Lehre eingedenk zu sein, da schrien die größeren ihre lateinischen Abschiedsworte mit heiseren Stimmen und die Kleinen schluchzten. Der Elbinger rief seine Schiffskinder zusammen, sprach die Reisebitte zur heiligen Jungfrau und drückte das Schiff vom Ufer in die Strömung. »Es ist gegen Schifferbrauch, bei sinkender Sonne an das Steuer zu treten,« sagte er im Vorübergehen zum Magister, »aber die Herren von Thorn haben es diesmal geboten.« Das Fahrzeug glitt schnell stromab, in grauem Nebel schwanden die Türme und Mauern der Stadt, die Gebannten saßen in trübem Schweigen vor ihrer Hütte und starrten hinab auf das Wasser und in die Ferne, welche undeutlich vor ihnen lag, wie ihre eigene Zukunft.
Als Anna am nächsten Morgen aus der Hütte auf das Deck trat, lag das Fahrzeug an der deutschen Uferseite und der Schiffer wies ihr eine Steinsäule auf der Höhe: »Dort ist die Grenze des Stadtgebietes.« Sie stand lange, die Augen zum Himmel gerichtet; ach, heut war bei ihren heißen Bitten das Antlitz verstört, die Augenlider vom Weinen gerötet, aber hätte Georg sie gesehen, sie wäre ihm noch ehrwürdiger erschienen als damals in der Kirche; sie dachte nur an ihn und bat für ihn. Bei dem stillen Flehen wurde ihr das Herz mutiger, und sie bot dem Vater, als er zutage kam, einen herzlichen Morgengruß.
»Wir treiben auf öder Flut, hier und dort unwirtliches Gestade, Scylla und Charybdis; aber ich bin besser daran als der alte Grieche Ulysses, denn ich habe mein liebes Kind bei mir und ich denke doch, daß wir in diesem gelben Wasser nicht auf Menschenfresser stoßen werden.« Und gegen seine eigenen reuigen Gedanken ankämpfend fuhr er fort: »Bei alledem kann ich nicht bedauern, daß ich den Obskuranten am Holzstoß meines Herzens Meinung deutlich gemacht habe.« Aber Anna, die noch in ihrer andächtigen Stimmung war, antwortete: »Ich aber, Herr Vater, habe an dem Unglückstage zu wenig daran gedacht, alles vertrauend dem lieben Gott zu überlassen, denn hätte ich mich vorher mit herzlicher Bitte an ihn gewandt, so würde ich bessere Ruhe und Bedacht genommen haben; ich hätte Euch nicht durch die Nachricht von dem Vorsatz der Feinde erschreckt, und es wäre Euch und der Schule leichter geworden, dem Feuer fernzubleiben. Jetzt sind wir beide der Gefahr entronnen, aber einer ist darin zurückgeblieben.« Da schlug der Magister die Hände zusammen und setzte sich stöhnend auf ein Faß. »Mein armer Regulus! Der römische Name, den ich ihm gegeben, ist für ihn von übler Vorbedeutung geworden. Denn wie jenen Konsul halten ihn die Feinde gefangen und wollen über ihn in scharfem Gericht erkennen. Wahrlich, auch dies war ein seltsamer Zufall: die letzte Oration, die ich ihm aufgegeben, war die hochherzige Rede, welche Regulus im römischen Senat halten mußte, da er als Gefangener der Karthager mit Urlaub nach Rom zurückkehrte; er mahnte seine Landsleute, nicht seinetwegen mit den Fremden Frieden zu machen, sondern ihn zum Tode zurückzuliefern. Georg war mit Lust bei der Arbeit, er forderte mit Begeisterung, in die Gefangenschaft zurückzukehren, und ich freute mich innig über den Vortrag.« Bei dem Gedanken verlor der Magister die Fassung und suchte in den Taschen nach seinem Tuche.
Da wagte das Hündlein zum erstenmal wieder zu bellen und eine feierliche Stimme klang hinter den Traurigen: » Adsum, patres conscripti, adsum captivus et aegre e vinculis solutus. Ich bin da, Herr Magister, dem Gefängnis entronnen, aber ich habe gar keine Lust, dahin zurückzukehren. Guten Morgen, Herr Vater, guten Morgen, liebe Jungfer Anna.« Der Redner sprang über den Bord in das Schiff, aber er vermochte nicht weiterzusprechen, denn Anna wankte, im nächsten Augenblick hielt er sie fest in seinen Armen, er fühlte ihr Haupt auf seiner Brust und zwei Arme, die sich an ihn klammerten, und er küßte sie zum erstenmal auf den bleichen Mund. Der Magister aber saß unterdes wie betäubt auf dem Tönnlein, er hörte eine vertraute Stimme, aber er sah einen wilden Polen in das Schiff klettern, und griff krampfhaft nach seiner Brille, bis er den festen Händedruck seines Schülers fühlte und die heiteren Worte vernahm: »Jetzt ist die Schule wieder beisammen, Herr Magister, und ich denke, der Rat von Thorn soll die Lektionen nicht mehr stören.« Da ging auch dem Magister alle Würde verloren und er umschloß, wie ein Kind weinend, den Geretteten.
Drei Heimatlose saßen zusammen in kalter Morgenluft über dem ungastlichen Wasser, aber sie dachten jetzt wenig an alles, was sie verloren hatten, und die Schule stimmte vergnügt bei, als Georg vorschlug: »Ist's Euch recht, Herr Magister, so bleiben wir beieinander; mein Vater will, daß ich zuerst nach Danzig fahre, von dort schreibe ich ihm und erwarte sein Gebot; Ihr aber werdet überall Schüler finden und bessere Dankbarkeit, als in unserer Stadt.« So machten sie in gutem Vertrauen Pläne für die Zukunft; nur Georg sah zuweilen mißtrauisch nach rückwärts und auf die Wege am Ufer, ob er verfolgt würde.
Es war keine mühelose Reise. Das große Fahrzeug trieb bald mit reißender Strömung, bald langsam in seichtem Wasser zwischen angeschwemmten Inseln und zwischen kahlen Dämmen und Lehmhügeln dahin; hier kreiste die Flut in gefährlichem Strudel, dort streifte ein Baumstamm, welcher dahinschwamm oder im Grunde festgerannt war, die Seiten und den Boden. Unablässig arbeiteten die Schiffer mit Stangen und Haken, sich die Fahrt freizuhalten, sie ließen sich gern gefallen, daß Georg Hand anlegte wie einer von ihnen. Sogar der Magister stemmte Hände und Schultern gegen das Ruderholz. Wenn der Abend kam, wurde die Reise unterbrochen, der Schiffer suchte eine Stelle in der Nähe des Ufers, wo er das Tageslicht abwarten konnte, auch in der Nacht mußte ein Wächter Ausguck halten gegen Schollen und treibendes Holz. Der Magister mit seiner Tochter fand zuweilen Herberge am Lande, Georg vermied auf dem Schiffe die Augen der Späher.
So waren sie einige Tage ohne Abenteuer gefahren und trieben mit der Strömung am Ufer eines Landstrichs, welcher im Kriege zwischen dem Hochmeister und den Polen streitig gewesen war. Am Abend kamen sie an einen Ladeplatz, zu welchem von hohem Deiche zwei Wege hinabführten; dort stand am Wasser eine Schenke und Hütten für die Schiffer. Der Elbinger sah unruhig auf die öde Stätte: »Dies gehört noch zum Land des Bischofs von Pomesanien,« sagte er zu Georg, »Polen und Ordensleute sind hier widerwärtig und beide wagen zuweilen Zoll zu fordern.« Georg sprang mit dem Schiffer ans Land, sie fragten in der Schenke, suchten in den Schoppen, bestiegen die Dämme und spähten in die dunkle Landschaft, es war nirgends etwas Unrechtes zu entdecken. Da legte der Elbinger an, der Magister und sein Kind suchten Unterkunft in der Schenke, Georg blieb mit einem Schiffsknecht als Wächter auf dem Fahrzeuge; er stand in der hellen Mondnacht lange auf dem Deck, stieg wiederholt hinab an das Ufer, umschritt die Hütten und sah von der Höhe in das Land, aber alles lag friedlich in grauem Dämmer. Als der Morgen nahte, hüllte er sich in einen Schiffermantel und legte sich in die Hütte zu kurzem Schlummer. Er erwachte von heftigem Gebell des Hundes, der bei ihm zurückgeblieben war, vernahm auf dem Lande das wilde Geschrei Zankender und erkannte in der Dämmerung auf jedem der beiden Wege, welche an den Deichen hinabliefen, Bewaffnete und Gespanne. »Wir waren die ersten,« schrie eine gebietende Stimme, »und wenn ihr nicht zurückweicht, so werfen wir euch zu den Fischen ins Wasser.«
Im nächsten Augenblick hörte er einen Angstruf Annas und sah die Jungfrau aus der Herberge dem Schiff zueilen. Da warf er sich in mächtigem Satze auf das Land und sprang mit geschwungenem Säbel einigen dunklen Gestalten entgegen, welche die Flüchtige verfolgten. Er schlug kräftig auf die Verfolger ein und schleuderte den ersten, welcher den Arm nach der Geliebten ausstreckte, durch einen Streich des Säbels zur Seite. Gleich darauf war er im Kampf gegen mehrere Feinde, aber wie wild er um sich schlug, er wurde im Rücken gepackt, entwaffnet und an den Händen gebunden. So blieb er mit Anna am Ufer unter Obhut eines finsteren Gesellen, der ihn mit der Hellebarde niederzuschlagen drohte, wenn er sich noch weiter rege. Unterdes dauerte um die Hütten der Zank und das Geschrei fort. Nicht lange, so sprangen Bewaffnete auf das Schiff, die Äxte krachten an Deck und Planken, Wagen rasselten vom Deich herunter an die Ladestelle, Laufbretter und Leitern wurden an den Schiffsbord gelegt und ein Haufe von Männern und Weibern begann die Ladung auszuräumen, welche zum größten Teil in Getreide und in einigem Kaufmannsgut bestand. Beim aufgehenden Frühlicht sah Georg, daß eine ansehnliche Zahl ausgestellter Wachen die Beraubung deckte und daß sie Tracht und Waffen deutscher Landsknechte trugen. Zuletzt vernahm er wieder die Stimme, welche herrisch in dem Tumult gerufen hatte. Ein hoher, breitschultriger Mann mit großem rundem Kopf und grauem Bart trat auf ihn zu und rief befehlend: »Potz Velten, Ihr habt's uns sauer gemacht, Mann; schüttet aus, was Ihr in der Tasche habt, denn das ist unser Recht.« Er warf seinen Hut auf die Erde. »Ihr mögt selber Eure Tasche leeren, da Ihr Euch redlich gewehrt habt. Wollt Ihr Euch ergeben und Friede geloben, so steht es bei Euch, sonst schlagen meine Gesellen Euch nieder.«
»Ihr seid die Stärkeren«, versetzte Georg grimmig. »Löst mir die Bande, so will ich Euch für heut Frieden geloben.« Der Landsknecht winkte dem Wächter, Georg sprach das Gelöbnis und schleuderte sein Säcklein mit Geld in den Hut. Der Führer kniete nieder, zählte und teilte in mehrere Häuflein, das größte steckte er mit dem Beutel selbst in die Tasche. »Und jetzt antwortet auf meine Frage, aber wahrhaft, wenn Ihr Leib und Seele zusammenhalten wollt: wer seid Ihr und woher kommt Ihr?«
Georg nannte Namen und Heimat und fragte trotzig dagegen: »Und wer seid Ihr, daß Ihr es wagt, an Reisenden Gewalttat zu üben?«
»Holla,« entgegnete der andere, »Ihr seid der Gefangene, Ihr habt zu antworten und ich zu fragen, denn das Eisen hängt über Eurem Haupte. Doch da Ihr Frieden gelobt habt, sollt Ihr wissen, wem die Herrschaft über Euren Leib zugefallen ist. Ihr seid in der Hand freier Knechte aus dem Reich, und ich bin Hans Stehfest, ihr Hauptmann. Führt die Gefangenen das Ufer hinauf,« gebot er seinen Begleitern, »und haltet sie unter Wache, doch getrennt, damit sie sich nicht miteinander bereden. Zu der Frau setzt zwei von den Weibern, die ihr das Weglaufen wehren.«
Auf der Landseite des Deiches schritt Georg die kurze Strecke, welche ihm sein Wächter freigab, in heißem Zorne auf und ab. In der Ferne sah er Anna zwischen Weibern der Bande, und ihn tröstete ein wenig, daß diese der Gefangenen gegen den Morgenfrost ein Tuch um die Glieder schlugen. Ajax kam ängstlich von der Höhe gelaufen, der Landsknecht schlug mit dem Spieße nach ihm. »Der Hund gehört der Jungfrau dort«, herrschte Georg den Wächter so gebieterisch an, daß dieser dem Kleinen den Weg freiließ. So verging Stunde um Stunde, vom Wasser her klang unablässig Geschrei und mahnender Zuruf. Endlich kamen die Wagen mit dem Raube beladen über den Deich und fuhren in Reihe auf. Auf einem lag der verwundete Landsknecht, mit welchem Georg zusammengestoßen war. Als dieser den Gefangenen sah, hob er die geballte Faust und stieß einen schweren Fluch gegen ihn aus. Georg zuckte verächtlich die Achseln. Darauf stieg ein Trupp der Bewaffneten von der Höhe herab, der Hauptmann blies in ein kleines Horn, das er am Halse trug, struppige Pferde wurden vom Grunde herangeführt, die Knechte warfen sich unbehilflich über die Rücken der Gäule und der Hauptmann befahl: »Auf die Wagen mit den Weibern,« und nach Georg und einem leeren Pferde deutend: »Fort, wir haben Eile.« Der wilde Zug setzte sich, von den Landsknechten geleitet, in Bewegung; der Hauptmann ritt an den Wagen auf und nieder, unter Antreiben und Fluchen ging es vom Flusse ab in das Land hinein.
Georg, der hinter dem Hauptmann ritt, erkannte Anna auf einem Getreidewagen vor sich und er sah, daß sie sich nach ihm umwandte. »Die Jungfrau begehrt uns«, rief er befehlend dem Hauptmann zu, und bevor dieser ihn hindern konnte, jagte er an den Wagen. Anna rang die Hände gegen ihn: »Wo ist der Vater?« Er suchte vom Pferde den Zug entlang, der Magister war nirgend zu finden. Da rief er den alten Landsknecht an: »Hochgebietender Befehlshaber, ist eine Frage an Eure Ehrbarkeit erlaubt? Wir waren drei Reisende auf dem Schiff, hier sind nur zwei, was ist aus dem dritten geworden?«
»Ich denke, er reitet ebenso gemächlich nach anderer Seite im polnischen Haufen, wie Ihr mit uns deutschen Knechten, und Ihr werdet ihn schwerlich so bald wiedersehen.«
»Mein Vater«, klagte Anna, und in dem Schrecken über ihre Hilflosigkeit sank ihr das Haupt auf die Brust.
»Also Ihr seid die Tochter jenes Mannes,« fragte der Landsknecht, »und gehört zu der Freundschaft meines Gefangenen?«
Anna antwortete nicht, doch Georg versetzte ungeduldig: »Die Jungfrau und ihr Vater sind mir wohlbekannt, und ich sage Euch, an ihrem Wohl ist mehr gelegen als an uns allen.«
»Dies also ist eine Jungfer, welche von ihrem Vater abgekommen ist«, wiederholte der Kriegsmann bedächtig, und betrachtete die gebrochene Gestalt von der Seite. »Ihr könnt gemerkt haben,« fuhr er gegen Georg mitteilsamer fort, »daß wir es nicht allein waren, welche die Beute erwarteten, denn ein polnischer Haufe, bei welchem mein alter Gesell Heinzelmann mit seinen Knechten dient, lauerte gleich uns auf das Schiff und wir stießen am Ufer mit ihnen zusammen. Doch wurde der Streit gütlich vertragen, sie haben sich einen Teil der Ladung genommen und auch einen Gefangenen gefordert. Den Polen gefiel der Mann, weil er sie lateinisch anrief, sie halten jeden für vornehm, der dieser Sprache mächtig ist, und sie werden ihn nicht schlechter behandeln, als sie müssen, denn sie hoffen von ihm gutes Lösegeld.«
Anna verbarg ihr Antlitz in den Händen. »Denkt daran, liebe Jungfer,« bat Georg, hingerissen von ihrem Weh, »daß Euch ein treues Herz geblieben ist. Solange ich den Arm rühren kann, sollen sie Euch kein Leid tun.«
»Versprecht nicht mehr, als Ihr halten könnt«, warnte der Hauptmann. »Heda, wer trabt dort über das Feld?« Er wies auf einen entfernten Reiter und gebot den Bewaffneten: »Treibt den Fremden mit Euren Spießen ab. Doch halt,« verbesserte er sich unwillig, »den langen Gesellen kenne ich. Ich dachte es wohl, das Junkervolk spürt auf Meilen, wo eine Beute zu nehmen ist. Dies ist einer von den Reitern unseres Ordenspflegers. Der Pfleger gedenkt nach seiner Art sich einen Anteil von der Mahlzeit zu holen, die er nicht kochen half.«
Der Reiter kam näher, der Tatarenmantel und die weiße Feder auf der Mütze gehörten einem Adligen im Dienste des Ordens. »Gutes Glück, Hauptmann,« rief er mit rauher Stimme, »Ihr versteht das Wild schnell auszuweiden.« Sein Blick flog begehrlich über die lange Reihe der Wagen. »Hui, auch Gefangene.« Aber im nächsten Augenblick begann er hell aufzulachen, sein Pferd sprang mit allen vieren in die Höhe und schlug darauf mit den Hinterbeinen aus, gleich einem ungezogenen Knaben, der sich über fremden Schaden freut. »Ihr seid es, Jörge, in den Fäusten der Landsknechte? Wo habt Ihr Euren vergoldeten Wagen und wo sind Eure stolzen Artusbrüder? Doch ich sehe, wenigstens die Jungfer führt Ihr mit Euch über die Heide.«
Georg sah wild auf seinen alten Feind Henner, er vergaß, daß er ohne Waffen war und trieb sein Pferd heftig auf ihn zu, aber der Landsknecht fiel ihm in die Zügel. »Hängt euch an ihn und haltet ihn zurück, denn er hat den Teufel im Leibe«, gebot er seinen Leuten. Er ritt dem Ankömmling entgegen und ließ das Pferd Georgs zwischen den Fäusten zweier Knechte. Während der Zug sich vorwärtsbewegte, verhandelte er mit dem Adligen, und als Georg sich umwandte, merkte dieser, daß der Landsknecht auf ihn selbst zeigte und sich von dem zurückbleibenden Henner berichten ließ. Was er erfuhr, mußte ihm willkommen sein, denn er ritt wiederholt bei Georg vorüber, betrachtete ihn scharf und lachte still in sich hinein.
Sie zogen längere Zeit dahin, so schnell die Gespanne laufen konnten, bis sich vor ihnen die Mauern und Türme einer kleinen Stadt erhoben. Auch dieser Ort war einst von deutschen Kolonisten an dem Wall eines Ordenshauses gezimmert und umschanzt worden. Jetzt hatte das Kriegsfeuer die Scheuern und Außengebäude getilgt und um die Mauern lag verkohltes Holz auf schwarzen Brandstätten. Das Innere bot ebenfalls ein Bild des Verfalls und der Zerstörung, den Kies der Gassen deckte ein Wust von Stroh und Dünger, die Mehrzahl der Häuser war beschädigt; hatten die Fenster einst Scheiben gehabt, jetzt waren sie zerschlagen, die Fensterläden hingen locker in den Angeln, sogar Haustüren waren zertrümmert und als Brennholz verbraucht. Viele Bürger hatten die Stadt verlassen, nur hier und da schlich ein altes Mütterlein oder ein Handwerksmann die Häuser entlang und sah furchtsam auf unwillkommene Gäste, welche herrisch in fremdem Eigentum geboten. Denn ein Fähnlein der Landsknechte hatte sich innerhalb der Mauern festgesetzt und führte seinen wilden Haushalt in den Bürgerhäusern. Wo einst fleißige Hände den Hammer geschwungen und den Hobel gezogen hatten, schlugen jetzt die harten Fäuste trunkener Kriegsknechte auf die Tische, und der wilde Troß des Fähnleins, Dirnen und Kinder, schrie aus den Fenstern und balgte sich vor den Türen. Mit hellem Freudenlärm empfing die Bande den heimkehrenden Haufen, Knaben und Mädchen, manche trotz der Kälte halb nackt, andere eingewurstelt in die Kleidung Erwachsener, kletterten an den Wagen hinauf, halbwüchsige Troßbuben griffen begehrlich über den Leiterbaum in die Ladungen, die Dirnen der Bande, bunt aufgeputzt, riefen die Einziehenden an und wechselten mit ihnen dreiste Scherzreden, und bewaffnete Landsknechte liefen aus den Häusern, boten den Genossen die Trinkkrüge und folgten lachend dem Zuge. Über den Markt drängte der lärmende Schwarm nach dem Schlosse, in welchem das Hauptquartier der Knechte war. Am Schloßtor machte der Hauptmann mit seinen Begleitern gegen den Haufen kehrt, gebot dem Troß mit Donnerstimme zurückzubleiben und schlug mit einem Stock unbarmherzig auf die Köpfe der Überdreisten, welche sich hinter den Wagen in den Schloßhof einschmuggeln wollten. Als das Fuhrwerk geborgen war, besetzte er das Tor mit Wächtern und ritt mit seinem Gefangenen in den Hof. Eine feste Mauer mit Scharten und einer Galerie, zur Verteidigung wohl geeignet, umfaßte den Hofraum, gegenüber dem Tor stand ein hohes Steinhaus und daneben ein dicker viereckiger Turm aus geschwärzten Ziegeln, zur Seite lagen Ställe und Scheuern und ein langes niedriges Gebäude mit Kammern und Gewölben zum Aufbewahren der Vorräte. Hans stieg schwerfällig ab und reichte seine große Hand grüßend einem Weibe, das ihm von der Schwelle des Hauses entgegentrat. Es war eine hagere ältliche Frau mit harten Zügen, die in einem verschossenen Gewand von schwerem Seidenstoff daherging, über welches sie vorsorglich eine Schürze gebunden hatte, sie trug am Gürtel neben ungeheurem Schlüsselbund ein langes Messer und schwenkte in der Hand einen großen Schöpflöffel. »Wir bringen«, grüßte der Landsknecht in guter Laune. »Gib auch du, Alte, was der Kessel faßt, denn wir sind hungrig.«
»Wer hat's dem Peter Meffert versetzt«, fragte die Frau, nach dem Wagen sehend, von welchem der verwundete Landsknecht durch schreiende Weiber herabgehoben wurde.
»Dieser,« antwortete der Hauptmann, auf Georg zeigend, und vertraulich setzte er hinzu: »Der Vogel hatte goldene Federn, er soll dafür Gutes aus deinem Kessel erhalten.«
»Die Jutta wird wohl dafür sorgen, daß er's nicht lange genießt«, sagte die Alte und wies auf eine große, üppige Dirne, welche über den Leib des Verwundeten heftige Schmähreden gegen Georg ausstieß. »Aber Blitz und Hagel, was führst du hier für ein Milchgesicht heran?«
Anna wankte, von Georg geführt, zu der Alten, sie sank, die Hand der Widerstrebenden fassend, lautlos an ihr nieder und sah so flehend und beweglich zu ihr auf, daß die Frau eine mütterliche Empfindung nicht abzuwehren vermochte. Unterdes drückte Georg heftig die andere Hand und bat: »Würdige Frau Hauptmännin, erbarmt Euch der armen Jungfrau mit gutem Herzen.«
Die Alte sah von einem zum andern und antwortete ohne Härte: »Wer im Kriege gefangen wird, muß sein Schicksal tragen, wenn es ihm auch grausam erscheint. Steht auf, Jungfer, der beste Dienst, den ich Euch hier erweisen kann, ist der, daß ich Euch einsperre.« Sie hob Anna in die Höhe, führte sie in eine Kammer des Vorratshauses und schloß sorgfältig hinter ihr ab. Als Georg folgen wollte, legte sich ihm die Hand des Hauptmanns schwer auf die Schulter: »Euer Schlupfloch ist anderswo.« Er nötigte den Widerwilligen eine kleine Treppe zum Turme hinauf und barg ihn dort in dem unteren Gemach. Bevor er die Tür schloß, rief er noch tröstend hinein: »Verhungern und verdürsten sollt Ihr nicht.«
Nach einer Weile kam die Alte aus dem Gefängnis der Jungfrau, stieß den Hauptmann vertraulich in die Seite und sprach leise in ihn hinein; er zuckte mit den Achseln, maß mit seinen großen Augen die Höhe und Breite des Hauses und lachte schlau.
»Sie lag wieder vor mir auf dem Boden,« sagte die Frau, »es war ein trauriger Anblick, und sie sagte, daß sie zu mir Zutrauen hätte, da ich dein eheliches Weib sei und eine ehrsame Frau.«
»Na«, sagte der Hauptmann.
»Wie darfst du grienen, du Bösewicht,« fuhr ihn das Weib an, »als wenn ich nicht mit dir vor der Kirchentür gestanden hätte, da der Pfaff unsere Hände zusammenlegte.«
»Ich weiß zwei, die damals widerwillig waren, nicht nur der Pfaffe, auch noch ein anderer.« Und besänftigend fügte er hinzu: »Gib dich zur Ruhe, Alte, es ist einmal geschehen und geschieht nimmermehr.«
»Pfui, Hans, ich habe Besseres um dich verdient. Und was soll aus dem armen Kinde werden, denn sie ist ja noch ein Kind.«
Wieder verzog er das Gesicht. »Kann sie Lösegeld schaffen in nicht zu langer Frist, so bewahren wir sie nach unserem besten Vermögen, denn wir sind Christen und keine Mohren. Kann sie nicht zahlen, so muß aus ihr werden, was aus andern geworden ist. Sie wird einem freien Landsknecht die Grütze kochen.«
»Sie wird ins Wasser springen.«
»Das hat manche gewollt, die dort den Kochlöffel rührt«, entgegnete Hans gemächlich. »Sie mag sich einen aussuchen, der sie behaupten kann, an Begehrlichen wird es ihr nicht fehlen.«
»Sie hat gute Verwandte in Meißen.«
»Was können wir dafür; soll sie deshalb als alte Jungfer sterben?«
»Ich aber sage dir, sie ist nicht von dem Schlage wie diese dort.«
»Diese sind von gutem Schlage, wie er uns Knechten wohltut. Wenn das Schuhwerk fehlt, laufen sie barfuß, und wenn ihr Herr hungert, mausen sie für ihn. Du weißt ja selbst, daß die Fremde so bei uns nicht bleiben kann, und wenn's die Knechte ertragen wollten, die Dirnen würden's nimmermehr leiden.«
Was der Hauptmann mit seiner Ehefrau besprach, blieb kein Geheimnis; die Weiber, welche im Schloßhofe wirtschafteten, verließen die Feuerstätten, fuhren aufgeregt durcheinander und verhandelten eifrig; auch die Männer traten zusammen, zuchtlose Scherzworte flogen durch den Haufen, und mancher kecke Gesell reckte sich hoch auf und schritt dem Hause näher, um durch das Fenster einen Blick auf die Fremde zu gewinnen. Der Hauptmann stand noch immer vor dem Hause, lachte zuweilen und überlegte, endlich wandte er sich kurz um, schritt hinein und schloß hinter sich die Tür. Als er wieder herauskam, war er ernst und nachdenkend und winkte einige alte Würdenträger des Haufens zu sich heran. »Eine arme weiße Maus«, sagte er.
»Kann sie zahlen, was dem Haufen lohnt?« fragte Wuz, der Locumtenens.
Hans schüttelte den Kopf. »Wenigstens ist es ganz unsicher, sie hat ihre Verwandten weit von hier in Sachsen. Sie will von den Männern nichts wissen und betet zu ihrem Gott um ein barmherziges Ende.«
»Dergleichen kommt vor«, erklärte Benz Streitenberg, ein alter Doppelsöldner. »Ich gedenke wohl, bei einem Haufen in Friesland war in meinen jungen Jahren auch eine Magd, welche sich jedem versagte, und die Sache war nicht ohne,« fügte er geheimnisvoll hinzu, »das Fähnlein hatte Glück, bis es die Magd verlor.«
»Ohne Zweifel war die Friesländerin häßlich, diese aber ist es weniger. Wer soll unseren Eisenbüchsern wehren?«
»Kommt Zeit, kommt Rat«, beruhigte der Alte. »Unterdes übergebt sie Eurer Frau, bis Ihr wegen des Lösegeldes sichere Kundschaft gewonnen habt.«
»Soll ich wegen der Jungfrau gegen unsere frechen Knaben auf der Lauer liegen und mich außerdem mit der Alten zanken?« wandte Hans ein, offenbar am meisten beunruhigt durch die letzte Möglichkeit. »Wollt Ihr die Sorge für sie übernehmen?« fragte er seinen alten Genossen.
»Lieber wollte ich einen Ameisenhaufen hüten«, versetzte Benz unwillig.
»Dann weiß ich keinen Rat,« entschied der Hauptmann, »und das Rad mag laufen, wohin es will. Aber noch ein anderes Urteil haben die Brüder zu fällen, über den Gesellen, den wir verstrickt halten. Der verwundete Peter hat ein Recht an ihm gewonnen, und er wird fordern, ihn niederzuhauen. Der Gefangene ist aber der Sohn eines reichen Kaufmanns aus Thorn und vermöchte sich hoch zu lösen.«
»Es gilt ein Sprichwort«, sagte der Alte: »Geld ist gut und Rache besser, doch die Rache dient nur einem, das Geld aber uns allen. Das erwägt.«
»Mir hat der Knabe unmäßig gut gefallen,« fuhr der Hauptmann fort, »er schlug um sich wie ein Satan, und drei von uns hatten Mühe, ihn zu bändigen. Und als ich ihn in seinen Banden betrachtete, gefiel er mir noch besser, denn hochmütig trug er seinen Kopf, ein langer Gesell mit starken Gliedern, der scharf aus seinen Augen sieht, mit roten Backen und langem Haar und säuberlich in seinem ganzen Wesen, dazu von Geburt ein Junker, und ich dachte, das wäre der Fähnrich, den wir entbehren.«
»Ein reicher Junker gibt einen schlechten Landsknecht; er schämt sich, die Brüder an seinen Herrentisch zu setzen«, wandte Benz Streitenberg ein.
»Vielleicht mag ihn die Not, in der er unter uns liegt, dazu bringen«, meinte der Hauptmann.
»Wie dürfen wir die Fahne einem überlassen, der sie aus Furcht trägt?« fragte ein anderer bedenklich.
»Der Gesell tut nichts halb,« lobte Hans, »nimmt er die Fahne, so trägt er sie uns zur Ehre. Darum, bevor ich die Brüder in den Ring lade, bitte ich euch, sie geneigt zu machen, daß sie sich nicht auf die Seite des geschädigten Peters stellen; denn dieser ist uns nicht selten zuwider gewesen, und auf seinem Kerbholz ist mancher blutige Strich, den ein redlicher Knecht ohne Freude betrachtet.«
Darauf füllte Hans eine Holzkanne mit Bier, rief einen Buben, daß er sie hinter ihm hertrage, und schritt nachdenklich zu dem Turme, in welchem er seinen Gefangenen untergebracht hatte. Er öffnete mit der Erwartung, den Jüngling in einer Lage zu finden, welche er bei ähnlichen Fällen oft beobachtet hatte, auf dem Holzklotz sitzend mit gefalteten Händen; aber er vernahm schon an der Tür Gesang vieler Stimmen und dazwischen belehrenden Zuruf. Georg hatte sich auf eine Fensternische geschwungen und verkehrte durch das Eisengitter mit Kindern des Trosses, welche draußen an der Böschung des Walles saßen und mit heller Stimme das Lied vom gefangenen Knaben absangen, wobei Georg ihnen einhalf. Auf das Geräusch wandte sich der Jüngling um und sprang dem Landsknecht entgegen. »Würdiger Hauptmann Isegrim, wie geht es der Jungfrau? Ich rate Euch, sie säuberlich zu behandeln, wenn Euch Eure Ohren lieb sind.«
»Oho,« rief Hans, verwundert über den groben Empfang, »ich rate Euch, an Eure eigenen Ohren zu denken, die wahrlich in Gefahr sind.«
»An meinem und an Eurem Kopf ist jetzt wenig gelegen, und ich gebe Euch auf Eure Rede und den Trunk in der Kanne, die Ihr mit Euch tragt, keinen Bescheid, bevor ich nicht weiß, ob Ihr an dem Kinde als redliche Leute oder als Schelme handeln wollt.«
»Ihr waret wohl noch nie Gefangener?« fragte Hans, »daß Ihr Euch unterfangt, so gegen mich aufzupochen.«
Georg zuckte die Achseln über solche Unwissenheit. »Wenigstens noch nicht in den Fäusten von Euresgleichen. Doch ich merke, ich muß Euch traben lassen, wie Ihr es gewohnt seid,« er machte eine Bewegung nach dem Holzklotz, »setzt Euch, beginnt Eure Rede und trinkt Euer Bier, aber schnell, denn ich habe nicht übermäßig Geduld.«