Egon Friedell
Wozu das Theater?
Egon Friedell

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Wie ich zu Haresu kam

Vor einiger Zeit schrieb ich für das ›Neue Wiener Journal‹ einen Aufsatz über den japanischen Philosophen und Dramatiker Rennosuke Haresu. Seitdem bin ich öfters gefragt worden, wie ich denn eigentlich zu Haresu kam.

Ja, das ist eine ziemlich komplizierte Geschichte, das heißt: Im Anfang ist sie sehr einfach; aber später wird sie kompliziert.

Also, wie ich schon erwähnte: seit ein paar Monaten erscheint in Wien wieder einmal eine neue Revue, die zur Abwechslung mal von einer Dame redigiert wird. Diese kam nun, da sie den festen Vorsatz hatte, ihre Zeitschrift gleich von vornherein großzügig und bedeutend anzulegen, auf den ebenso naheliegenden wie fruchtbaren Gedanken, mir das Burgtheater-Referat anzutragen. Ich lehnte nun zunächst ab, weil ich nämlich in Erfahrung gebracht hatte, daß ein Burgschauspieler, mit dem ich seit Jahren befreundet bin, noch in dieser Saison eine große Shakespearerolle spielen werde, und dann sagte ich mir überhaupt: es ist dir bis jetzt unter ungeheuren Opfern an Intelligenz und Charakter gelungen, dich so ziemlich mit allen Leuten gut zu stellen, kaum bist du aber Kritiker, so ändert sich das sofort; denn schimpfst du auf einen Dichter oder sonstigen Zeitgenossen, so hast du ihn zum Feind, lobst du ihn aber, so hast du alle seine Kollegen zu Feinden. Die liebenswürdige Redaktrice beruhigte mich aber, indem sie sagte: »Mit Ihrer Feder dürfen Sie sich erlauben, was Sie wollen, Ihnen wird man nichts verübeln, denn Sie nimmt ja kein Mensch ernst.«

Nun hat aber diese Zeitschrift neben anderen aparten Eigentümlichkeiten auch diese, daß sie nicht dazu zu bringen ist, Korrekturen zu verschicken. Dies hatte zur Folge, daß meine kritischen Untersuchungen in zum Teil wesentlich anderer Gestalt vor den Leser traten, als sie ursprünglich von mir projektiert waren.

Ich muß hier eine kurze Bemerkung über die Psychologie des Setzers einschalten. Dieser ist nämlich nicht, wie manche Laien glauben, nachlässig oder gar dumm, sondern im Gegenteil viel zu sorgsam und zu gescheit. Er glaubt nämlich, daß er die Verpflichtung habe, den Text zu verbessern. Kommt ihm also etwas unter, das ihn befremdet, so ändert er es unerbittlich. Hat man zum Beispiel irgend ein neues Wort gebildet, auf das man nicht wenig stolz ist, so kann man sicher sein, daß er es durch ein anderes längst bekanntes und gewohntes korrigiert. Bisweilen aber ereignet sich auch das Umgekehrte. So hatte ich einmal anläßlich einer Schillerfeier den, wie ich selbst zugeben muß, nicht übertrieben originellen Satz niedergeschrieben, Schiller sei ein großer Idealist. Der Setzer machte daraus den Ausspruch: Schiller war ein großer Ikarist. Ich ließ den Druckfehler natürlich stehen und bekam am nächsten Tag allerlei Schmeichelhaftes über diese interessante Bereicherung der deutschen Sprache zu hören.

Aber kehren wir zum Faden unserer Fabel zurück. Ich bekam also meine Kritik über Rittners ›Unterwegs‹ erst gedruckt zu lesen, als sie bereits in zahllosen Exemplaren wie ein Lauffeuer durch die Stadt eilte. Sie hatte diesmal ganz besonders steile Metamorphosen durchgemacht. Ich verstand durchaus nicht alles, was darin niedergelegt war, und mußte mich in diesen etwas änigmatischen Stil erst ein wenig einlesen, ehe ich ihm zu folgen vermochte. Ein Satz war aber da, der mir ganz besonderes Kopfzerbrechen verursachte. Ich muß nämlich bemerken, daß ich die Behauptung aufgestellt hatte, der Sekretär in ›Unterwegs‹ sei Leporello, aber ein vergeistigter, seelisch gesteigerter Leporello, der Stendhal und Haresu im Blute habe. Ich fragte mich wiederholt kopfschüttelnd, wie bist du denn auf Haresu gekommen? wo hast du denn diesen Namen aufgeschnappt? Es gehört zwar zu meinen kleinen schriftstellerischen Finessen, bisweilen im Tone der Selbstverständlichkeit einen Namen einzuführen, den fast niemand kennt, aber daß ich diesen Namen dann selber nicht wiedererkenne, das war mir noch nicht vorgekommen.

Ich muß nun eine Bemerkung über die Psychologie der Lesewelt einschalten. Hat man etwas geschrieben, was geeignet ist, Bewunderung zu erwecken, so hat es regelmäßig niemand gelesen; ist einem aber eine logische Entgleisung, ein grober grammatikalischer Fehler, eine offenkundige Stupidität oder sonst etwas Blamables passiert, so hat jeder Mensch gerade diese Stelle aufmerksam studiert. So auch diesmal. Auf einmal bestand die ganze Stadt ausschließlich aus Lesern dieses Satzes. Die Reaktion fiel je nach der Gemütsanlage der einzelnen verschieden aus. Die einen sagten zu mir: »Was ist das schon wieder für eine neue Patzigmacherei mit diesem Haresu? Ich finde es geradezu lächerlich von Ihnen, daß Sie von jedem böhmischen oder jüdischen Winkelschreiber annehmen, alle Welt müsse ihn im kleinen Finger haben.« Die anderen erklärten augenzwinkernd: »Mir scheint, von dem Haresu wissen Sie auch nicht mehr, als im Kleingedruckten von irgendeiner Literaturgeschichte steht. Sie wären wohl in großer Verlegenheit, wenn Sie nähere Auskunft über ihn geben müßten.« Und einer sagte gar: »Wie Sie den Haresu mit Stendhal zusammenstellen konnten, das ist mir einfach unbegreiflich. Eine solche Urteilslosigkeit hätte ich selbst Ihnen nicht zugetraut.«

Um nun allen diesen Anschuldigungen die Spitze abzubrechen, schrieb ich den Aufsatz über Haresu. Ich ging zunächst zu Hermann Bahr und sagte zu ihm: »Ich bin fest entschlossen, an den Angaben meines Setzers festzuhalten; sind diese aber richtig, so ist es klar, daß wir die Sache so darstellen: nur Sie können Haresu entdeckt haben. Es handelt sich nun um die Frage, die allein Sie beantworten können: wo lebte Haresu? wann lebte Haresu?« Nach längeren Verhandlungen einigten wir uns auf den Kompromiß: tot, aber Gegenwart.

Im ganzen bereue ich es nicht, den Aufsatz über Haresu geschrieben zu haben. Zunächst habe ich diesmal nicht einen einzigen Brief bekommen, in dem mir allerlei krasse Fehlurteile und grundfalsche Daten nachgewiesen werden, was sicher geschehen wäre, wenn ich einen Essay über Lessing oder Jehovah verfaßt hätte. Ferner: wenn man gewußt hätte, daß ich die geistige Produktion Haresus immerhin stark beeinflußt habe, – glauben Sie, daß sich dann ein Mensch gefunden hätte, der mir geschrieben hätte, einer der Aussprüche Haresus (ich will ihn nicht nochmals zitieren) lasse alles hinter sich, was das Abendland bisher auf dem Gebiet des Aphorismus hervorgebracht hat, und es sei sehr unrecht von mir, über die mitgeteilten Dramenszenen zu sagen, sie erinnerten an Maeterlinck, während doch der viel dünnere Maeterlinck höchstens an sie erinnere? Auch haben sich meine Beziehungen zu den Theaterdirektoren seither wesentlich gefestigt. Einer telegraphierte mir mit bezahlter Rückantwort: »Erbitte umgehendste Einsendung der in Ihrem Bühnenvertriebe befindlichen Werke von Hamesie (das nähert sich ja schon wieder einigermaßen Hamsun!) und Angabe äußerster Aufführungsbedingungen. Vorschuß spielt keine Rolle.« Das hatte ich freilich schon immer gewußt, daß bei diesem Direktor der Vorschuß nie eine Rolle spielt. Aber immerhin: verlockend. Ein anderer fragte an, ob man aus ›Goethe‹ und der ›Musteroperette‹ (zwei bekannten Meisterwerken von Alfred Polgar und mir) und Haresu nicht einen Abend machen könnte. Na also, das Geschäft hebt sich. Ein anderer Theaterdirektor ging freudestrahlend auf mich zu und sagte: »Das ist ja eine famose Entdeckung, die Sie da gemacht haben! Den spiele ich unbedingt, der ist ja noch unbekannter als die Roswitha von Gandersheim. Übersetzen Sie ihn so schnell wie möglich, ich lasse dann gleich die Rollen ausschreiben.« Als ich aus begreiflichen Gründen zögerte, mißverstand er das und deutete an, er sei auch gar nicht mehr abgeneigt, der Aufführung meiner ›Judastragödie‹ näherzutreten, höchstwahrscheinlich komme sie noch in dieser Saison. (Bisher fehlten Leim, ein Bergkegel, Blech und der Darsteller des Pilatus. Auf einmal war alles da.)

Der einzige Mensch, der sofort erklärte: Mein Lieber, den Haresu gibts nicht!, war mein Direktor Hans Ziegler (›Volksbühne‹, Wien VII, Neubaugasse 36, das linke Haus neben dem großen Zuckerlgeschäft); der ist aber durch ein zweijähriges Zusammenarbeiten mit mir bereits so verbittert, daß er mir überhaupt nichts mehr glaubt und höchstwahrscheinlich auch Japan für eine böswillige Erfindung von mir hält. Bei dieser Gelegenheit möchte ich übrigens gleich bemerken, daß jener Stendhal (der, den der Sekretär im Blute hat) zwar auch erfunden ist, aber weder vom Setzer noch von mir, sondern von Monsieur Henri Beyle, der sich diesen Namen als literarisches Pseudonym gewählt hat. Diesen Stendhal hat es also in gewissem Sinne wirklich gegeben und er hat sogar eine Anzahl vielbewunderter Bücher geschrieben. So sagt zum Beispiel Nietzsche über ihn: – aber auch das wird jetzt sicher nicht mehr geglaubt, da der Ausspruch Oscar Wildes über Haresu, den ich zitierte, ja auch falsch war.

So weit wäre nun alles ganz gut und schön, aber jetzt beginnt die Sache etwas unheimlicher und verwickelter zu werden. Ich fange nämlich langsam an, zu bezweifeln, daß es den Haresu nicht gibt. Es glauben schon so viele Leute an ihn, daß ich irre werde. Täglich, wenn ich die Zeitung aufmache, erwarte ich eine Notiz zu lesen: »Die Werke Haresus sind in größerer Anzahl bei Buchhändler Heller eingetroffen und kosten, elegant gebunden, Kr. 86,40.« Letzthin habe ich mich sogar dabei ertappt, wie ich im großen Meyer Haresu suchte. Ich fand aber nur »Harndrang« und »Harke, siehe Rechen«. Das will aber nichts besagen, denn Debussy, Altenberg und Weininger stehen auch nicht in der neuesten Auflage des Meyer.

Kurz: solange man mir nicht das Gegenteil beweist, was sehr schwierig ist, werde ich glauben, daß Haresu keine bloße Phantasie ist, sondern eine geniale Divination. Dergleichen kommt bei mir öfters vor. So las ich einmal auf dem Plakat einer Wohltätigkeitsakademie, bei der ich mitwirken sollte: »Cäcilie Ingolstadt, Lieder zur Laute«. Dieser suggestive Name ließ mich nicht mehr los. Ich fragte mich fortwährend: Ingolstadt . . . Cäcilie Ingolstadt . . . wie muß die aussehen? Ich kam zu dem Resultat: achtundvierzig Jahre, Papageiennase, Hornzwicker, vorstehende Zähne. Auch hatte ich die Empfindung, daß Plattfüße nicht unbedingt von der Hand zu weisen seien. Als ich am Vortragsabend das sogenannte ›Künstlerzimmer‹ betrat, saß dort ein junges Mädchen von etwa neunzehn Jahren mit braunen gescheitelten Haaren und sanften blauen Augen. »Mein Fräulein«, sagte ich höflich aber streng, »hier haben nur Künstlerinnen Zutritt, und Sie dürften, da Sie offenbar unter vierzig sind, kaum zu diesen gehören.« – »Entschuldigen Sie«, erwiderte die Dame schüchtern, »mein Name ist Ingolstadt.« – »Wie?« rief ich barsch. »Sie wollen die Ingolstadt sein? Aber die hat ja vorstehende Zähne, Hornzwicker, eine Papageiennase und Plattfüße!« – »Pardon«, sagte das Fräulein errötend, »das ist meine Mama.« Man sieht also: etwas ist immer an den Sachen, die wir uns einbilden, ob sie sich nun auf Japan beziehen oder auf andere Kulturkreise.


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