Egon Friedell
Wozu das Theater?
Egon Friedell

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Die Theaterstadt Wien

»Look in thy heart and write«, sagt Sidney. Hermann Bahr blickte in sein Herz und schrieb. Was er niederschrieb, war ein fünfundzwanzigjähriger Zorn über Wien; aber ein Zorn, der nicht wütet, sondern stillhält und sammelt, Fakten an Fakten reiht und ihre Erklärungen sucht; ein Zorn, der ganz szientifisch, naturwissenschaftlich geworden ist. Wie der Zoologe irgend eine Rückbildung der Genesis beschreibt, so erzählt Bahr die Geschichte Wiens:›Wien‹ (1907). wie zuerst die Kelten kamen, jene glatten, listigen, anpassungsfähigen Menschen, die bloß zu scheinen verstehen, die selbst nichts sind, aber alles werden können; wie sie dann mit dem süddeutschen Schlag eine sehr glückliche Blutmischung eingingen und in den tätigen, weltkundigen Babenbergern die rechten Fürsten fanden. Das ist die große Zeit Wiens, die Zeit Walters von der Vogelweide. Dann aber kommen die Habsburger, und ihr Grundzug ist: sie haben keinen Sinn für das Wirkliche. Die Welt soll sich nach ihnen richten, nicht sie nach der Welt. Daher können sie immer nur Geschöpfe brauchen, die keinen eigenen Willen haben, und so entsteht die ›Nation der Hofräte‹! Dann kommt die Barocke mit ihrer doppelten Umkehrung des Weltlichkeitsbegriffs: sie verneint zuerst die Welt als einen bloßen Traum; indem sie aber hiermit den Traum als das allein Wirkliche bejaht, kehrt sie auf einem Umweg wieder zur Welt zurück und wird die Philosophie der weltlichsten Weltlichkeit, denn nun fällt jede Verantwortlichkeit, da das Leben ja nur ein Traum ist. So entsteht jene seltsame Mischung von Weltflucht und Weltliebe, von Demut und Stolz, von Weihrauch und Moschus. Und dann kommt der künstlich erzeugte, erborgte, ganz neben dem Leben herlaufende österreichische Liberalismus hinzu und schließlich die Einwanderung der reformierten Juden, und in dieser vollendet sich die Geschichte Wiens.

Rein vom schriftstellerischen Gesichtspunkt betrachtet, ist dieses Buch eine kulturpsychologische Monographie allerersten Ranges, und um Schriften zu nennen, die eine ähnliche Sicherheit und Feinheit der psychologischen Vivisektion, eine ähnliche Witterung für die verborgensten und verstricktesten seelischen Komplikationen, eine ähnliche Präzision und Bildkraft des sprachlichen Ausdrucks zeigen, muß man sehr hoch hinaufsteigen, etwa bis zur ›Genealogie der Moral‹ oder zu Pascals ›Pensées‹.

Ein bekannter Typus ist der ›Herr aus Deutschland‹, der sich für Wien begeistert. Es ist nichts begreiflicher, aber auch nichts gegenstandsloser als diese Sympathie des Reichsdeutschen für Wien. Er kommt aus seiner nüchternen, tüchtigen, betriebsamen, ehrlichen Heimatstadt und lebt jetzt vierzehn Tage im ›lieben Wien‹. In diesen vierzehn Tagen spürt er natürlich nichts als ein gewisses Gefühl der Erholung und Erleichterung. Er sieht Menschen, die nichts arbeiten, des Tags im Kaffeehaus Billard spielen oder zwischen schönen, alten Bauten spazieren gehen, außerdem auf gute Zubereitung der Speisen halten, in eleganten Equipagen fahren und Virginia rauchen. Und da er während der kurzen Zeit seines Aufenthalts von den üblen Folgen dieser Lebensformen nichts zu spüren bekommt und ebensowenig Gelegenheit hat, diese Menschen von einer andern Seite als von der ihrer ›Leichtlebigkeit‹ kennen zu lernen, so glaubt er, hier sei eine Stadt, die noch etwas von jener antiken Lebensschönheit hat, nach der so viele Menschen sich zurücksehnen, hier sei noch ein Eckchen von jenem Paradies, aus dem der Amerikanismus uns vertrieben hat. Daß Wien unmoderne Verkehrsmittel, eine elende Pflasterung, Beleuchtung und Polizei, eine lächerliche Stadtbahn, eine miserable Post hat und so weiter, was interessiert ihn das? Die vierzehn Tage lang kommt er auch ohne das aus. Er betrachtet stattdessen die Votivkirche. Daß unter hundert Verwaltungsbeamten kaum einer seiner Aufgabe gewachsen ist, daß der Schulunterricht unter der Herrschaft des herzlosen und beschränkten Bürokratismus steht, daß in Wien der Ankauf eines Federmessers mehr Nervenkapital verschlingt als anderswo die Gründung einer Fabrik, woher sollte er das erfahren? Er hat in Wien keine Federmesser zu kaufen, keine Prozesse zu führen, keine Kinder ins Gymnasium zu schicken: er bewundert die Karlskirche. Und da außerdem einige Kellner, Fiakerkutscher und Dienstmänner gegen den ›Zugereisten‹, der sich gewöhnlich noch mehr übers Ohr hauen läßt als der Einheimische, von ausgesuchter Höflichkeit waren, so faßt er seine Eindrücke in dem Satz zusammen: »Geschafft wird bei uns mehr, aber liebenswürdiger und kunstsinniger ist der Wiener.«

Freilich: – wenn man unter einer Theaterstadt eine Stadt versteht, in der alles ›Theater‹, das heißt nichts echt und tief, sondern alles Schminke und Oberfläche ist, eine Stadt, in der Tag und Nacht Komödie gespielt wird: dann ist Wien die Theaterstadt kat exochen. Sie ist es auch insofern, als nirgends mehr der atavistische Kultus des Schauspielers so in Blüte steht, wie in Wien. Und es ist bekanntlich nur der Schauspieler, der den Wiener ins Theater zieht. Vom Stück weiß er sehr oft nicht einmal den Verfasser.

Daher haben in Wien immer die Stücke derjenigen Schriftsteller den größten Erfolg gehabt, die ihrem innersten Wesen nach selber nur Schauspieler sind: zum Beispiel Sardou, Feuillet und alle die Franzosen, mit denen das berühmte Burgtheater jahrzehntelang sein Repertoire gefüllt hat. Ein Galanteriegegenstand, ein ›Pflanz‹, eine ›Hetz‹: mehr ist das Theater dem Wiener nie gewesen. Und seine Leidenschaft für die Schauspielkunst rührt nur daher, daß diese Kunst sich noch am weitesten ungestraft vom Leben zu entfernen vermag. Der Schauspieler als Feuerfresser, als Wurstel, als Lebensverfälscher: das ist sein Ideal. Sein Instinkt für das Unechte zieht den Wiener zum Theater.

Aber wie eben am Wiener gar nichts echt ist, so ist es auch nicht dieser kindische Personenkultus, den er mit den Schauspielern treibt. Wenn er sich scheinbar für Kainz oder Girardi begeistert, so begeistert er sich in Wahrheit für sich selber. Er will sich wichtig machen: er will nie und nirgends etwas andres.

Wie übel es Beethoven, Grillparzer, Kürnberger in Wien gegangen ist, hat Bahr in seinem Buch ausführlich gezeigt. Es ist noch niemals einem, der etwas will und etwas kann, in Wien anders gegangen. Auch Bahr nicht. Seit einer langen Reihe von Jahren arbeitet er in Wien und an Wien, leidenschaftlich bemüht, den modernen Geist durchzusetzen, den Geist der verfeinertsten Impressionalität, der intellektuellen Zucht, der künstlerischen Objektivität. Er hat nichts erfahren als Verständnislosigkeit und Undank. »Er schreibt interessant«, sagen seine Freunde; »er ist ein Cabotin«, sagen seine Feinde. Mit diesem: »Er schreibt interessant« weiß der Wiener jedesmal sich seiner Erzieher zu entledigen und jeden, der etwas zu sagen hat, der von irgendeinem Pathos erfüllt ist, zum Plauderer, Jongleur und Bajazzo zu degradieren. Wird den Wienern jemand durch Wahrheitsliebe unbequem, so kommen sie mit der Verdächtigung, es sei Sensationshascherei und Pose, oder mit noch niedrigeren Anschuldigungen. Wer Universalität, Tiefe, Leidenschaft, Objektivität, Arbeitskraft, Denkschärfe hat, den hassen sie, denn alle diese Eigenschaften sind für den Wiener ebensoviele Beleidigungen.

Würden die Schafsköpfe, die an Bahrs kritischer Tätigkeit nichts zu rühmen wissen als die ›interessante Feder‹, sich einmal klar machen, warum denn eigentlich Bahr ›interessant schreibt‹, so würden sie wahrscheinlich auch diese Bemerkung unterdrücken. Denn Bahr ist ein interessanter Kritiker aus dem einfachen Grunde, weil er das Gute an den Kunstleistungen erkennt. Er hält sich an das Positive des Kunstwerks, an das Plus, an das, was daran anders ist. In seinen Mängeln und Impotenzen deckt sich nämlich der Künstler mit allen übrigen Menschen: hierüber zu reden, ist also völlig uninteressant. Kritiker, die sich vorwiegend auf diese Seite der Fehler und Unzulänglichkeiten verlegen, sind langweilig. Was einer nicht kann, das wissen wir schon alleine: im Nichtskönnen sind wir ja selber erste Fachleute. Aber von einem Kritiker, der auf versteckte Schönheiten aufmerksam macht, der womöglich neue Schönheiten, die vorher gar nicht da waren, in ein Kunstwerk hineinträgt, von einem solchen haben wir etwas, und ein solcher ist interessant. Weil er nämlich selber ein Künstler ist. Denn ein Künstler ist ja nichts andres als ein Mensch, der das Schönheitskapital der Welt vermehrt.

Und obgleich ein solcher Kritiker gar nicht ›objektiv‹ ist, wird er dennoch von einem Kunstwerk mehr verstehen als andre Menschen. Denn die Liebe, mit der er an die Kunst herantritt, erschließt ihm die Kunst. Es ist mit der Kunst nicht anders als mit allen Dingen. Kälte und Härte haben keinen Zugang zu den Geheimnissen der Welt. »Love is an eyewater«, sagt Emerson.

Für so etwas ist aber der Wiener ganz und gar nicht. Er will Kritiker, die zu allem einen Korrekturrand machen, die abstreichen und reduzieren, ›Einflüsse aufzeigen‹, beschämende Vergleichungen ziehen, für jedes begeisterte Bemühen sofort eine kalte Dusche bereit haben; er will Kritiker, die die Kunstwerke verhäßlichen.

Der Wiener ist immer bereit, hinter jedem Enthusiasmus eine Blague, hinter jeder idealen Bestrebung einen persönlichen Zweck und, wenn ihm schon gar keine andre Ausflucht bleibt, zumindest in jeder geistigen Ambition eine ›Fadesse‹ zu sehen. Daher kommt es, daß das ganze Leben in Wien so etwas seltsam Verzerrtes hat. Wien ist eine schöne Stadt mit häßlichen Menschen. Die Poesie Wiens liegt in den Steinen und Bäumen. Die Menschen aber, die zwischen diesen Steinen und Bäumen herumgehen, sind von einer giftigen, entstellenden Krankheit erfaßt, die sich im Laufe der Jahrzehnte in sie eingefressen hat: sie heißt Mangel an Idealismus. An dieser lebensgefährlichsten aller Epidemien geht Wien langsam zugrunde. Niemand kann sie lokalisieren, denn sie ist überall. Niemand kann sie heilen, denn sie beruht auf der Zusammensetzung des Wiener Bluts. Es ist damit nicht so einfach wie mit den Blattern.


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