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IV

Als Zenobi das Haus seines Onkels verlassen hatte, war er ein neugieriger, blind in die Welt sich stürzender Knabe gewesen, dem das andere Geschlecht Scheu und, wenn es gleichen Alters war, eine gewisse Verachtung sogar einflößte. Es war ihm vor allem aber auch fremd, da er von Kindheit an weder Mutter noch Geschwister kannte. Das unbeaufsichtigte Leben während der Zeit des Heranreifens in der großen Stadt seiner ersten Erfolge hatte ihn wie viele seinesgleichen mit manchen Mädchen und Frauen in Berührung gebracht, welche die Scheu überwinden halfen und natürlichere Regungen seines Alters weckten. Doch sei es, daß der unwiderstehliche Zug zu jenem anderen Leben, das er suchte, ihn von dem, das sich ihm willig darbot, ablenkte und ihm das Wort Liebe, das er um sich so oft sprechen hörte, in zu weite Ferne und Verklärung hinweg zauberte, als daß er es auf die Art Verkehr, wie er ihn um sich sah, hätte passend finden können, oder auch weil einfache Herzen wie seines geheimnisvoller mit der Schönheit verbunden sind, als wir und sie selbst es wissen, – genug, die gelegentlichen Annäherungen blieben ein befangenes Spiel der Geschlechter. Die bescheidenen Reize rührten ihn kindlich, doch die größere Erfahrung, die er meist vorfand, beschämte ihn, und die Redensarten machten ihn verlegen. Hätte er sich nur selbst einsetzen können in diesem Spiel und auf seine Weise eine Eroberung machen, so wäre es ein Roman nach seinem Herzen gewesen. Doch dazu kam es gar nicht. Was er gelten wollte, galt hier nicht, und was er sah, war ein einfaches, ja banales Geben und Nehmen, meist dürftig und bald versiegend. Das schale Schmachten und das grobe Renommieren, beides stimmte durchaus nicht zu den überraschenden Ergebnissen, daß hinterher eine Hochzeit mit ihrer komischen Feierlichkeit zustande kam oder daß ein uneheliches Kind geboren wurde. So erlag er, als die Zeit erfüllt war, wie alle, die mit ungeübten Kräften nach dem Höheren streben, der ersten groben und wohlfeilen Versuchung, robust genug übrigens, um aus dieser Niederlage mehr beruhigt als ernüchtert hervorzugehen. Gleichwohl war es ein Fall, der sich gelegentlich wiederholte, und erst jenes Ereignis der Ballnacht im Stadthause lehrte ihn, daß es ihm nicht gegeben war, den Weg des Fleisches zwischen Lust und Ekel zur Gewohnheit werden zu lassen. Seitdem wurde ihm Liebe zum Traum von Schönheit, und die Gestalt der Nymphe, wenn sie sich auch mit seinen eigenen Wandlungen wandelte, blieb doch stets jenes entschwundene Frauenbild, das dem Bilde seiner Jugend zuerst wahrhaft in Liebe begegnete ...

Während seiner Dienstzeit hatte das harte und zur Wachheit mahnende Leben alle solche Regungen zurückgedrängt, jetzt, in dem neuen, bequemeren Dasein tauchten sie als weiche dunkle Wellen in langsam sich andrängender Bewegung empor. Die abendlichen Schluchten der brausenden Stadt schienen ihm köstliche Abenteuer zu bergen. Über dem Lichterspiegel des nassen Pflasters huschten eilige schmale Schatten, erregend, knäulten sich unter den elektrischen Sonnen vor festlichen Eingangstüren. Lachen, Sausen der Fahrzeuge, abgerissene Klänge, Windstöße – die große Brandung eines Herbstabends in der Stadt machten Zenobis Herz sehnsüchtiger, als es Wiesen und Wälder der Jugend je vermocht hatten. Er fühlte das andrängende Leben in sich, das an allem ringsum teil hatte – und war allein. Hier schienen ihm die Menschen aufgeschlossen, die Frauen schöner und zärtlicher, alles war nah und offen. Es schien, man brauche nur die Hand auszustrecken, und doch hatte er noch immer nichts greifen können ... Zwar hätte er mit seinen Erfolgen zufrieden sein können, und er fühlte sich auch auf dem rechten Wege. Im Kino, als er an die Logenbrüstung getreten war, hatte er es um sich flüstern gehört, dann war der Name eines berühmten Darstellers gefallen, und viele Köpfe und lorgnonbewaffnete Augen waren ihm plötzlich zugewendet. Er lächelte mit abgewandtem Gesicht, als wolle er sein Inkognito nicht preisgeben, entfernte sich rasch, als es hell wurde, nicht ohne manchen dankbaren und bewundernden Blick mit kaum merklicher Neigung des Kopfes höflich zu erwidern. – Oder neulich abends im Kaffeehaus, als von einem entfernten Tisch geschickt, an dem sich eine Gesellschaft niedergelassen hatte, der Kellner zu ihm, der am Fenster allein saß, mit der Frage herantrat, ob er der Herr Kammersänger Ysop sei und den Herrschaften das Vergnügen machen wolle, ein Glas Sekt mit ihnen zu trinken. Zenobi, dem das unpassend schien, hatte ihm kurz bedeutet, er wünsche hier nicht belästigt zu werden, was auf die Haltung des Boten wie ein Druck von vielen Atmosphären wirkte, so daß er vor Hochachtung fast zusammenknickte. Einen Augenblick lang blitzte es in Zenobis Kopf vor Helligkeit auf bei diesem Anlaß: Konnten jene Leute wirklich glauben, der Mann, der Tod und Teufel zugesungen und lebensselig zur Hölle fuhr, würde sich jetzt mit ihnen gemein machen; oder jener andre Held, der das höchste Herrscheramt von sich warf, und im lebendigen Grabe mit der Geliebten vereint, im Zwiegesang der Erde entschwebte.

... Er wußte, was es um das schöne Singen sei, oder vielmehr, er hörte es plötzlich so schön, daß ihm vor Ergriffenheit die Tränen in die Augen traten; und hätte er sich entschließen können, an jenen Tisch zu gehen, so wäre es den Leuten dort schon aufgegangen, welche Begnadung dem Singenden zuteil geworden und was das sei – ein Kammersänger ... Aber er war solche Erfolge bereits gewöhnt, und vielleicht war es eben jene Sehnsucht, die, weil sie seine Empfindung für alles steigerte, ihn jetzt hemmte, das wohlfeile und erprobte Spiel zu spielen. Wo war das, was er suchte? ... Er mußte sein Gebiet erweitern.

*

In diesem Drange nach Ausdehnung wurde Zenobis Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt, das ihm bei näherer Betrachtung eigens von den Menschen geschaffen schien, um ihren Begegnungen den Reiz und den Zauber des Geheimen und Zufälligen zu geben. Wenn er sich in die dichten Spalten der kleinen Anzeigen in den Zeitungen vertiefte, geriet seine Phantasie in die angenehmste Bewegung. Hier war ein herrlicher Tummelplatz. Hier verkehrte Unbekannt mit Unbekannt vermittelst eines Systems geheimer Zeichen, die schon an sich wie ein erregendes Winken aus dem Dunkel waren. Aber nicht nur wo der Mann die Frau suchte oder umgekehrt und durch ihre Verborgenheit lockten, sondern auch aus den mannigfachen Angeboten und Wünschen, die sich hier zusammenfanden, hörte er ein Rufen von Mensch zu Mensch, das wie ein Schrei nach dem Abenteuer war. Die Frau, die ihre Nähmaschine verkaufen wollte, schien ihm, konnte das sehr wohl in ihrer Nachbarschaft ausführen, sicherlich fände sie Leute genug in ihrem Bekanntenkreis dafür, die wieder andere wußten, wenn sie selbst kein solches Bedürfnis hatten. Doch nein, sie wollte, daß eines Tages ein Fremder erscheine, der selbst eine Überraschung war und etwas Neues hinzubrachte. Nicht anders der und jener, welche angeblich bestimmte Sachen sich wünschten. Wollten sie wirklich nur das, so fanden sie in den Spalten nebenan der Hinweise genug, wo es zu erstehen war. Es gab aber auch viele, die das Abenteuer offenbar unter dem Vorwand einer geschäftlichen Anknüpfung oder einer Stellung heranzulocken suchten, und manche gar sagten es gerade heraus, daß sie nach Paraguay oder Java wollten, gleichviel was sich ihnen dort bieten mochte. Hier konnte man ungebundener sich auswirken. Zenobi überließ sich diesem Spiel mit um so größerer Hingebung, je mannigfaltiger die Stichworte waren, die ihm der Zufall in reicher Fülle hinwarf. Und er wechselte die Rollen. Einmal war er der Anbietende, ein andermal der, welcher suchte – er kam jedenfalls auf seine Kosten.

Einmal hatte er mit einem Pächter, der nach Argentinien auswandern wollte und zu einem dortigen Landbesitzer Verbindung suchte, ein Zusammentreffen verabredet. Er hatte ihm geschrieben und ihn eingeladen, sich zu einer bestimmten Stunde am Abend in einem Restaurant der inneren Stadt einzufinden. Zenobi, der mit Absicht etwas später kam, erspähte schon von ferne an einem Tische den jüngeren, blondbärtigen Mann, dessen Hände und die fertig gekaufte städtische Kleidung den Landmann verrieten. Gleich bei der Begrüßung bemerkte Zenobi das Erstaunen in dem Gesicht des andern und kam seiner Frage zuvor.

»Ich bin natürlich nicht der Besitzer selbst«, sagte er nach einem Händedruck, während er es sich am Tische bequem machte. – »Ich bin der Neffe. Ich bin schon einige Jahre drüben und kehre nach Santa Fé zurück, wenn ich meine Geschäfte in Europa erledigt habe. Und nun lassen Sie uns erst etwas zu essen bestellen ...«

Während des Essens kam das Gespräch in Gang. Der junge Pächter, dem der Wein, die Behaglichkeit des hellen Raumes, die feingekleideten Leute ringsherum und die fast herzliche Teilnahme des jungen argentinischen Gutsbesitzers warm machten, wurde zutraulicher. Zögernd erst, und dann durch Zenobis Liebenswürdigkeit immer mehr Vertrauen gewinnend, erzählte er von dem Mißgeschick, das er mit seiner Verlobung hatte ... »Also, Familie habe ich keine«, erzählte er weiter. »Bei harter Arbeit Tag und Nacht, Sommer und Winter, mit Leuten, die nicht viel taugen, wirtschafte ich bei den schlechten Zeiten nichts Rechtes heraus. Gewiß, man kann leben, aber ich bin doch noch jung und habe nichts von der Welt gesehen. Und drüben, hört man, kann ein Mann, der arbeiten will, eigenes Land, Wohlstand und vielleicht noch etwas mehr erwerben.«

»Ja«, begann Zenobi, »die Welt ist weit und groß bei uns dort. Ein Erdteil mehr als ein Land ...«

Bei seinen eigenen Geschäften, dem Viehexport in Santa Fé, hielt er sich nicht lange auf, dafür erzählte er von Fahrten auf dem gewaltigen Paraná, von Ritten in den Pampas und wie er da bei einem fürchterlichen Gewitter und Staubsturm fast in eine Herde wilder, galoppierender Pferde hineingeraten wäre; von der merkwürdigen Stadt Mendoza mit ihren Silberminen und ihrem Gewühl von Indianern, Schwarzen und Mischlingen, am Fuße des gewaltigen Aconcagua ... Und erst das südliche Meer, welch ein Zauber und welch ein Schrecken! Auf einer Reise zwischen den Falklandinseln und der Küste seien sie einmal fünf Tage lang mit ihrem Schiff bald auf bis in die Wolken ragende Wellenberge hinaufgeschleudert, bald in Abgründe gestürzt worden, daß sie dachten, die Meerestiefen hätten sich gespalten, um sie zu verschlingen. Wie durch einen Engpaß von Wasserbergen mußte das Schiff sich durchdrängen. Man hatte allmählich das Gefühl verloren, auf einem von Menschenhand gelenkten Schiff zu sein. Man meinte, auf der glatten, wassertriefenden Haut eines gewaltigen Fisches zu sein, der in dem tobenden Wassergebirge nach Laune auf- und untertaucht ...

Der junge Pächter, erst befremdet, folgte mit wachsender Spannung der lebhaften Schilderung. Er stellte Fragen, die Zenobi anregten, seine Erzählung auszudehnen, zu steigern, und war schließlich fast enttäuscht, als dieser, zu der Angelegenheit, die sie zusammenführte, mit einer plötzlichen Wendung zurückkehrend, ihn in der ruhigen und fruchtbaren Landschaft zwischen dem Paraná und Uruguay absetzte.

»Hier«, sagte Zenobi, »dehnt sich unendlich das fruchtbare und gut angebaute Land, mit Wäldern und Siedlungen. Man glaubt in der Heimat zu sein ...«

Und sie sprachen noch lange von den Aussichten, die sich einem fleißigen Landwirt dort bieten.

Der Pächter wollte sich noch alles genau überlegen und ihm schreiben. Als er dann im dünnen Regen des späten Herbstabends durch die wimmelnden Straßen seinem Quartier zustrebte, fühlte er sich von der Unruhe, die ihm seine Pläne wochenlang verursacht hatten, plötzlich angenehm befreit, erleichtert. Dabei schien ihm sein Vorhaben, auszuwandern, jetzt übereilt. Er wußte nicht, daß er das Abenteuer Argentinien mit Hilfe Zenobis soeben vorweggenommen hatte. Doch angenehm erregt, wie er war, zog ihn das Getriebe der Stadt, in dem er sich sonst fremd fühlte, sonderbar an, und er war nicht abgeneigt, sich hereinziehen zu lassen.

Ähnlich erging es Zenobi mit manchen anderen, die ihm auf diesen Wegen begegneten. Ihre Wünsche, ihre Absichten schienen sich in der Phantasie dieses Partners zu erschöpfen, zu verflüchtigen. Und er hörte selten wieder von ihnen. Nur ein Mann, ein kleiner, vergrämter Vierziger mit gierigen Augen, der einen Teilhaber für ein Fabrikunternehmen suchte, war so hartnäckig, allen Auseinandersetzungen Zenobis über neue Absatzgebiete unerschütterlich die gleiche Frage entgegenzuhalten: mit wieviel Kapital er sich beteiligen wolle. Bis Zenobi, durch diese unliebsamen Unterbrechungen geärgert, ihm schließlich erklärte: vor solcher ausgesprochenen Habsucht und Geldgier erwache in ihm Mißtrauen. Er glaube nicht, daß dem Unternehmen mit Geld geholfen werden könne.

*

Auf diesen Wegen begegnete er endlich auch der Frau.

»Zwei Damen von auswärts« suchten einige hübsche Zimmer in einer Gartenvilla mit guter Verbindung nach der Stadt. Für diese Damen interessierte sich Zenobi lebhaft. Er wollte sie kennenlernen. Erst machte er bei einer Streife in der Umgebung, in der Nähe eines schönen Parks, ein Haus ausfindig, in welchem man geneigt war, einige Räume an »distinguierte« Personen zu vermieten. Dem Besitzer stellte er sich als Beamter der höheren Verwaltungskarriere vor, erzählte, er sei von zwei Damen seiner Bekanntschaft, die aus dem Auslande kämen und die er als zur besten Gesellschaft gehörig bezeichnete, gebeten worden, eine passende Unterkunft für sie zu suchen. Und an die Damen schrieb er unter dem gleichen Namen, er sei von dem Villenbesitzer beauftragt, ihnen ein Angebot zu machen, und lud sie unter Angabe von Tag und Stunde ein, die Räume zu besichtigen, deren Vorzüge er ins beste Licht setzte. Er erhielt darauf eine zustimmende Antwort, die mit Frau Bessener gezeichnet war. Zur bestimmten Zeit wartete er in der Nähe des Hauses, sehr gespannt, doch für den Fall, daß die Angekündigten schon nach ihrem Äußeren zu einem Fortspinnen des Fadens nicht einladen sollten, entschlossen, sich unbemerkt zu entfernen und die Angelegenheit sich selbst zu überlassen.

Es war ein frostig trockener, sonniger Nachmittag im Januar, in der kahlen Allee knackte in der Stille zuweilen ein Zweig, eilte ein Fußgänger, Hände in den Überrocktaschen, vorbei. Als die Verspäteten zögernden Schrittes und die Hausnummern an den Gittern der Vorgärten ablesend näherkamen, konnte Zenobi nichts an ihnen ausmachen, was ihm zu einer Entschließung helfen sollte. Es waren fast gleich große, in dicke, schwarze Mäntel bis zur Nasenspitze vermummte Gestalten, mit schwarzen Krepphüten und Schleiern. Die eine etwas Kleinere stattlicher, die andere nur am federnden Gang des schlanken Fußes mit dem hohen Spann als die Jüngere kenntlich. Sie waren fast vor dem Hause angelangt, wandten sich lebhaft sprechend und wie suchend um, während Zenobi auf der gegenüberliegenden Seite langsam in der gleichen Richtung ging. Länger zu zögern schien ihm nun unpassend. Er stellte sich vor und sorgte, daß sie bald ins Haus kamen. In der warmen Diele öffneten die Damen ihre Mäntel, schlugen die Schleier zurück –, und Zenobi war von der Schönheit der Jüngeren so betroffen, daß es ihm die Sprache benahm, seine zweideutige Lage zwischen dem Hausherrn und den Fremden im Gleichgewicht zu erhalten. Er verlor fast die Fassung. Während sie die Räume besichtigten und bei der Verhandlung war er bald zu ihrer Rechten, bald zu ihrer Linken, verwirrt, maßlos erstaunt, mit jedem offenen und verstohlenen Blick immer neue Schönheit zu entdecken. Unter dem vollkommenen Bogen der Brauen, hinter dem Schleier der langen Wimpern streifte ihn manchmal ein gedämpfter Blitz abwehrend, doch ruhig ...

Nein, es konvenierte den Damen nicht. Resolut erklärte Frau Bessener, den Schleier ordnend über die grauen Scheitel, es sei ihr zu teuer. Es sei hübsch, aber sie werden, wie es scheint, sich eben bescheidener einrichten müssen. Die Damen kamen vom Westen, das hörte man ihrer Sprache an. Zenobi folgte ihnen mitgezogen, als sie unter Entschuldigungen das Haus verließen, schloß sich ihnen an, bot ihnen eifrig seine Dienste an.

Nach einigen Tagen waren sie mit seiner Hilfe untergebracht, und er hatte die Erlaubnis, sie zu besuchen. Sie waren nicht Mutter und Tochter, wie er gemeint hatte. Frau Bessener war eine alleinstehende Verwandte des schönen Mädchens, das Helene hieß, und mit der Elternlosen seit langem beisammen. Stürmische Schicksale in der Familie, deren Spuren in gewissen Besonderheiten der beiden so verschiedenen Frauen sich ausprägten, zuletzt der Tod eines jüngeren Bruders des Mädchens, hatten die Auflösung des Hauses in einer alten Stadt am Rhein herbeigeführt und Helene bewogen, ihre in Schmerzen erworbene Freizügigkeit zu einer längeren Reise zu nutzen. An ihrem Abschluß gefiel es ihr hier so gut, daß sie beschloß, eine Zeitlang dazubleiben und vielleicht eine dauernde Niederlassung zu erwägen. Ihre Verwandte sollte bei ihr bleiben. Ihr vertrautes Verhältnis hinderte nicht eine weitgehende beiderseits respektierte Unabhängigkeit. Man hatte in ihren Kreisen eine gehobene Meinung von der neuen Stellung der Frau. Helene wollte indessen ihre an einer deutschen Hochschule begonnenen Studien hier wieder aufnehmen und auch andere Bildungsanstalten nutzen, die ihren Neigungen entsprachen.

Zenobi aber war schon von der ersten Begegnung an geblendet und hingerissen. Er hatte noch nie etwas so Schönes wie dieses Mädchen gesehen. Ein Glanz umfing ihn. Er trieb närrische Dinge, wenn er allein war. Mit geschlossenen Augen konnte er lange still stehen und versuchen, die hoheitsvolle Neigung ihres Kopfes, die Bewegung der Hand, einen unwillkürlichen Augenaufschlag, die leichte Öffnung des Mundes beim Sprechen in seiner Vorstellung nachzubilden und war beglückt, wenn ihm nur etwas davon wieder zu erhaschen gelang. Dann summte er vor sich hin oder brüllte wilde, improvisierte Gesänge in die Dunkelheit hinein. Wenn Schönheit ein Verdienst ist, so ist sie es vielleicht auch darum, weil sie ihre Verehrer kühn macht. Zenobi aber lief gleich Sturm und wußte es kaum. Bei der ersten Gelegenheit, die er fand, Helene allein zu sprechen – er begleitete sie von einer Besorgung nach Hause – schüttete er in ungeordneten Worten alles aus, was ihn bewegte, in einem Ton, als spreche er von einer Abwesenden und als heische er von einer an der Sache Unbeteiligten begeisterte Zustimmung für etwas, worüber seiner Meinung nach kein Zweifel walten konnte. Sie standen an ihrer Haustür, im Begriffe sich zu verabschieden.

»Gibt es wirklich etwas so Schönes ...«, murmelte er, sie betrachtend, mit einem glücklichen Lachen. »Wie soll ich eigentlich jetzt nach Hause gehen?«

An Huldigungen üblicher Art gewöhnt, empfand das Mädchen diese Ansprache als zu formlos, vielleicht auch als zu dürftig. Sie hatte bis jetzt geschwiegen oder mit einem Worte nur abgewehrt. Nun hob sie die Schultern zu ihrem schmalen Kopf empor –, eine ausdrucksvolle Geste von Kühle und verstärkter Abwehr – und sagte halb erstaunt, halb vorwurfsvoll:

»Wie reden Sie denn zu mir, sonderbarer Mensch?«

Zenobi war auch davon hingerissen, sah auf ihren Mund, suchte ihre Augen, die sie weggewendet hielt. Er sah nur, er hörte kaum.

»Bei Gott«, sagte er treuherzig, »ich rede so, wie es mir ums Herz ist! Vielleicht fällt mir noch mehr ein. Was sage ich vielleicht? – Sicherlich, ich denke ja an nichts anderes. Sagen Sie mir, wann ich Sie wiedersehen darf. Morgen, in einem Monat, in einem Jahr ... So, wie Sie jetzt dastehen, Helene«, er skandierte den Namen langsam und freudig, »wahrhaftig, ich sage: Helene ... das wäre für ein Leben genug!«

»Aber ich kenne Sie ja kaum!« sagte sie stirnrunzelnd.

Er ließ sie nicht ausreden.

»... oder sagen Sie gar nichts. Ich werde schreiben. Ich werde kommen, wenn ich es nicht länger aushalte, Sie nicht zu sehen. Lassen Sie mir noch Ihre Hand ...«

Er küßte glühend ihre Hand, schwang seinen Hut wie eine Fahne und eilte davon, als wollte er durch keine Entgegnung oder ein störendes Wort sich von seinem Glück etwas nehmen lassen.

Er tat, wie er sagte. Er schrieb, und er kam. Ließ sie sich lange nicht treffen, dann tauchte er auf die unerklärlichste Weise überall auf, wo Helene sich hinbegab, begegnete ihr in der Tram, in Kaufläden, in Konzerten, im Theater. Er schien mit dem Spürsinn eines Tieres und der Allwissenheit eines Engels begabt, in allem, was sie betraf. Er war dabei nicht zudringlich, wartete, bis sie ihn ansprach, oder unterhielt sich mit Frau Bessener, die in ihrer Begleitung war. Er beklagte sich auch nie, war heiter und aufgeräumt und schon beglückt, ihr jedesmal eine neue Schönheit zu sagen, die er an ihr entdeckt hatte. Das alles blieb nicht ohne Eindruck. Helene war nicht im gewöhnlichen Sinne gefallsüchtig; das Leben in ihrer Umgebung und die Art, sich anzuziehen, war nicht danach gewesen, um Frauenschönheit besonders ins Licht zu stellen. Jetzt fing sie an, sich anders zu sehen, mit Zenobis Augen zu sehen. Sie fühlte sich schöner – und war dabei auch eine kleine ärgerliche Scham zu überwinden, so gab es dafür ein neues, erhöhtes Wohlgefühl, berauschend wie ein aromatisches Bad. Sie war davon auf eine eigentümlich körperliche Art gerührt und dem Urheber dankbar. Er brachte es dahin, daß sie ihm, als die Trauerzeit um war, erlaubte, sie bei ihren Einkäufen zu begleiten.

Einmal suchte sie Band und Blumen zu einem Kopfschmuck für ein Abendkleid. Die Modistin nestelte und probierte an ihr vor dem großen Stehspiegel herum, Zenobi stand diskret betrachtend beiseite.

»Unmöglich«, flüsterte er händeringend, als die Verkäuferin sich entfernte, um etwas anderes in ihren Kartons zu suchen. »Wie können Sie Rot nehmen! Weil es jeder Brünetten steht? Sind Sie denn Jede, Helene? ... Ich flehe Sie an, decken Sie doch um Gottes willen diesen göttlichen Haaransatz nicht auch noch zu ... Bitte, lassen Sie mich etwas aussuchen.«

Sie ließ ihn lächelnd gewähren. Mit einem Eifer und einer Sachkenntnis, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan, machte er sich daran, sie zu schmücken. Er nahm ein Grün, probierte, fand die richtige Nuance, unter der ihr mattgelber Teint wie eine Frucht erglühte, kombinierte es mit einem satten Orange, das aus dem blauschwarzen Haar wie eine Flamme herausschlug, fand zum Abschluß ein Samtband für den Hals, das eine kühne Harmonie ergab. Es war vielleicht etwas phantastisch, doch als sie sich damit im Spiegel sah, strahlte ihr eine so packende fremde Schönheit entgegen, daß sie eine Weile selbst gebannt blieb. Er stand dabei, und sein Herz schlug in großen Rhythmen vor Verehrung und Stolz.

Eine Abendunterhaltung, bei der getanzt wurde und zu der er sie bewogen hatte mitzugehen, brachte sie ihm näher. Sie wurde sehr gefeiert und nicht immer auf zarte Weise, war gelöst und ließ sich etwas gehen. Ihr wohllautende Stimme trat wie aus einer Deckung hervor, hatte tieferen Klang. Die vollendeten Arme und Schultern, aus der gewohnten Dezenz befreit, waren eine kühne, unbekümmerte Herausforderung. Sie stützte sich auf seinen Arm, während sie durch den musikerfüllten Saal schritten.

»Es ist etwas an Ihnen, was mir gefällt«, sagte sie. »Ich weiß nicht einmal, was es ist. Ich sehe Sie gern. Sie bringen mir etwas, was mir fehlt. Ich glaube sogar, ich könnte sehr mit Ihnen befreundet sein ...«

»Helene ...«

»... aber bedrängen Sie mich nicht!«

»Bedrängen? Womit? Helene, Angebetete, was tue ich denn? Sieh doch, ich bin nichts als Freude, jeden Augenblick ...«

»Jetzt duzen Sie mich schon wieder«, unterbrach sie ihn, nicht so unwillig, wie es klang, »und ich habe Sie doch so gebeten ... Und dann: Angebetete!«

»Verzeih... verzeihen Sie! Aber wenn ich Tage und Tage allein du zu Ihnen sage, wie soll ich denn jetzt gerade Sie zu dir, Sie zu Ihnen ... nein ...«

Sie lachte über die drollige Art, wie er aus dem Satz nicht herausfand, drückte seinen Arm:

»Bedenken Sie doch, ich bin ein einfaches Mädchen«, und mit einem tiefen Blick in seine Augen, »ein Mädchen, sonst nichts!«

»Sonst nichts!« wiederholte er in heller Entrüstung. »Was sagen Sie da? Göttliche! Alles ...« Vor Überschwang konnte er nicht weitersprechen.

»Also göttlich«, sagte sie aufgeräumt, »meinetwegen ... Jetzt aber will ich tanzen, dabei können Sie mich wenigstens nicht kniend anbeten.«

Er kam weiter in der Gunst des schönen Mädchens. Unbekümmert um die Zukunft lebte er seinen Roman, wie er ihn geträumt. Es kam ihm dabei gar nicht zum Bewußtsein, daß er auch hier eine repräsentative Rolle spielte. Denn daß er für sie nicht der Titular-Rechnungsfeldwebel Zenobi, sondern der Statthaltereibeamte Ossietzky war, mit akademischem Grad und Aussicht auf eine große Karriere, das focht ihn nicht weiter an. Wenn sie ihn liebte, was er manchmal glaubte, liebte sie eben ihn und nicht seinen Namen. Aber auch das ließ ihn unbekümmert: genügte es nicht, daß er sie liebte? ... Gegen den Abstand, den seine Anbetung immer vergrößerte, war jede Stellung, die er im Leben einnehmen mochte, wahrlich zu unbeträchtlich. Und irgendwann wird er den großen Sprung schon tun. Das Leben war ohne Anfang und ohne Ende ...

Indessen war es doch gut, daß der Fabrikantensohn Leischnigg, der ihm in seiner Kanzlei zugeteilt war, für manche Erleichterungen im Dienst und um seinen Vorgesetzten bei guter Laune zu erhalten, sich als so netter Bursche erwies, der ihn freigebig mit Zivilkleidern versorgte und ihm, wenn er knapp wurde, oft auch mit einem Darlehen beisprang. Was machte das dem steinreichen Jungen schon aus ... Dafür hatte er es ja auch gut unter ihm, durfte froh sein, in der Kanzlei des Divisionskommandos zu sitzen, statt sich auf dem Exerzierplatz kujonieren zu lassen. Er war doch ein nobler Kerl, der Zenobi ... Das war auch die Meinung der Kameraden. Mit seinem alten Obersten kam er glänzend aus. Das Amt war groß und das Gebäude weitläufig: war man einmal nicht zur Stelle, nun, so war man eben woanders mit einem Akt oder einer Rückfrage. Er hatte es sich so geschickt eingerichtet, daß er bei dem Uniformschneider um die Ecke sich im Nu umkleiden konnte. Und um Vorwände, einen Tagesurlaub zu erlangen, war er nie verlegen. Im übrigen arbeitete er seine Sachen flott auf, wenn er sich an sie machte, es war ein Kinderspiel! Er hatte die besten Aussichten auf Beförderung ...

Sie saßen an einem Sommernachmittag am Rande einer Waldwiese. Es war ein Sonntagsausflug. Sie waren früh aufgebrochen, hatten sich nach einer Stunde lärmender, heißer Bahnfahrt auf weiten Waldwegen müde gelaufen, in einer Gartenwirtschaft gegessen und waren weitergewandert. Die Luft war leicht um sie. Sie verloren sich in Gesprächen, die vom Nahen zum Fernen übersprangen, von Überraschungen des Weges unterbrochen, von Summen und Pfeifen melodischer Bruchstücke, die in Lachen und Ausrufen ausklangen. Vertraulichkeit war in Blicken, in zufälligen Berührungen der Hände, der Kleider, im Gleichtakt der Schritte. Helene, wissend, daß irgendein neuer Ansturm sie erwartete, verscheuchte mutwillig die Gelegenheiten, wie Kinder Streichhölzer auspusten, entwischte, wenn Gefahr drohte, mit Flattern ihrer hellen Röcke einige Schritte in den Wald, auf eine Wiese, bückte sich angelegentlich über eine Pflanze, brachte eine Blume zurück, einen Zweig, warf sie, wie um ein Hindernis zu verstärken, in ihren Hut, den er in der Hand trug.

Jetzt ruhte sie halb liegend, auf die Ellenbogen gestützt, die Füße im niedrigen Graben, heiß, müde, angenehm wehrlos und dachte: mag es nun kommen.

Doch es kam lange nicht. Zenobi saß auf dem Grabenrand vornübergeneigt ihr gegenüber, in ihren Anblick verloren, entrückt. Und sein ganzer Mut entsank ihm in die schmale Rinne, die sie mehr zusammendrängte als trennte und in der ihre Füße sich fast berührten, wie in einen Abgrund. Doch nicht so, daß es ihn bekümmerte oder daß er es als Verlust empfunden hätte, sondern als wenn ihm eine schwere Last entfallen wäre, die ihn niederhielt, schwang sich auf – und die Erscheinung vor ihm wandelte sich in das unsagbare, unnahbare Wunder, das sie für ihn von Anbeginn war und bei aller Nähe und Vertrautheit blieb.

Helene sah durch halbgeschlossene Lider auf sein ekstatisches Gesicht, lächelte, streckte, ohne ihre Lage zu verändern, den herabhängenden freien Arm aus, berührte mit den Fingerspitzen sein Haar, bog, als er ihre Hand zu erhaschen suchte, seinen Kopf sachte und mit sanftem Druck zu sich heran ... Da küßte er sie fremd und erschrocken auf den leicht atmenden Mund, und da sie festhielt, tat er es immer wieder und wieder.

Darauf aber folgte eine Rede, welche das schöne Mädchen mit Staunen und Stirnrunzeln hörte, da sie der Lage, wie ihr schien, so gar nicht entsprach.

»Helene, Helene, Helene!« dreimal rief er sie an, wie man eine Gottheit oder einen Dämon beschwört. »Sage mir, was ich tun soll, was ich für dich tun soll. Sage, was ich werden soll. Du allein weißt es ...« Er warf dabei den Kopf zurück, streckte die Arme in die Luft, mit einer Bewegung, als wollte er davonfliegen. Es sah sonderbar und ein wenig beängstigend aus. Unwillkürlich zog sie den Kopf zwischen die Schultern, hatte ihre hoheitsvolle Miene. Er spürte plötzlich die Veränderung und hielt inne. Er war im Begriffe, ihr alles zu sagen. In ihrer Nähe fühlte er sich auf sicherem Grund, in ihrer Schönheit wurzelte er, wenn er irgendwo wurzelte. Sie war Heimat und alles, was er nie gekannt und was er, ohne zu wissen, suchte, wenn er sich dem Leben hingab. Würde sie ihm nichts sagen? ... Doch sie lenkte ab, fand, daß es spät war, und begann dann harmlos nach seinem Amt, nach seiner Tätigkeit zu fragen. Da wurde er still, gab einsilbige Antworten. Der Heimweg war von Schweigen und Nachdenklichkeit beschattet, und Zenobis Glück war nur noch in ihm selbst.


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