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6.

Untersuchungsrichter Dr. Aurelius hatte die Gewohnheit, auf seinem Morgenweg ins Amt einen Friseurladen aufzusuchen. Hier ließ er sich vor Beginn der Dienststunden rasieren. Es war heute etwas früher an der Zeit als gewöhnlich, und so beschloß er, die Gelegenheit zum Haarschnitt zu benutzen.

Ein unbeweibter Mann in den Dreißiger Jahren ist meist sehr auf sein Aeußeres bedacht. Dr. Aurelius ging hierin bis an die Grenze der Eitelkeit, um so mehr, als die Natur ihn nicht mit einer sehr anziehenden oder für Frauen verlockenden Erscheinung bedacht hatte.

Zwar war er ein hochgewachsener Mann, aber ihm fehlte das schwungvoll Gefällige des Junggesellen, die Flottheit des Mannes von Welt; er sah ein wenig zu derb, zu bäuerisch aus. Das sturre Haar, aufgebürstet getragen, umrahmte zwar eine kluge Stirn, aber es zeigte jene eigentümlich rostige Farbe, für die nur wenige Frauen sich erwärmen.

Und doch sind gerade die Männer mit solchen Haaren begeisterte Verehrer der Frauen. Man kann dazu bei einem »rostblonden« Manne immer darauf schwören, er besäße das, was ein spitzfindiger Verstand ist; mindestens wird er über ein vorzügliches Unterscheidungsvermögen gebieten und grüblerisch zergliedernd das Richtige vom Unrichtigen zu trennen verstehen. Männer mit dieser oft verspotteten Haarfarbe sind immer helle Köpfe, nicht nur hinsichtlich der hellen Farbe ihrer Haare.

Das war es denn auch, was den im Hinblick auf sein verantwortungsschweres Amt verhältnismäßig jungen Beamten so geeignet machte für den Posten eines Untersuchungsrichters.

Man kannte in dem Friseurladen seine Gepflogenheiten und Gewohnheiten. Vielleicht nur, weil man ihn wegen seines kriminalistischen Amtes als einen empfindlichen Kunden einschätzte, bediente man ihn mit besonderer Zuvorkommenheit. Daher hielt der Gehilfe Scheufgen sich nach Geschäftsöffnung stets die erste halbe Stunde frei, um dem täglich erscheinenden Gast sofort zur Verfügung zu stehen. Der Untersuchungsrichter wollte nur von diesem Manne bedient sein.

Während Dr. Aurelius in dem Frisierstuhl saß und vom Gehilfen Scheufgen mit dem weißen Linnenmantel umkleidet wurde, strich er über die bürstenförmig hochgekämmten Haare und meinte: »Na, Scheufgen, geben Sie sich heute mal besondere Mühe! Ich möchte die Haare nur etwas gekürzt haben, aber mehr als sonst; sie sehen mir zu schopfmäßig aus. Dann nehmen Sie mir auch das blödsinnig moderne Schnurrbartbürstchen unter der Nase fort. Das kleidet mich nicht.«

»Wollte ich dem Herrn Doktor schon längst vorschlagen«, versicherte Scheufgen. »Herrn Doktors Gesicht ist zu markant, als daß es diese Verzierung vertragen könnte. Das Bärtchen – man blickt unwillkürlich darauf hin anstatt auf das ganze Gesicht. Züge, wie Herr Doktor sie hat, muß man auf den ersten Blick und durch nichts abgelenkt in sich aufnehmen können, sonst entgeht einem das äußerst charaktervolle –«

»Ja, lieber Scheufgen, schon gut«, schnitt Aurelius dem geschwätzigen Gehilfen das Wort ab.

Aber er lächelte geschmeichelt über die Weisheiten Scheufgens. In dem ihm gegenüber befindlichen Spiegel musterte er seinen Kopf. Ja, eine Männerschönheit war er leider nicht. Doch – es erschien dem Untersuchungsrichter wenigstens so – der Mann hatte nicht unrecht, wenn er von markanten Zügen sprach.

Und warum sollte ein scharf umrissener Männerkopf nicht weit eher als ein weichlich schöner Eindruck machen auf eine Persönlichkeit wie Frau Harthilt Beverstorff?

Während der Friseurgehilfe sich mit wahrhaft künstlerischer Gewandtheit zunächst an das Verkürzen der Haare seines Kunden machte, versank Dr. Aurelius in untätiges Hindämmern. Er schloß die Augen und träumte in sich hinein.

Er sah die Gestalt der wundervoll gewachsenen rotblonden Frau, um deren Haupt sich die schweren kupferfarbenen Flechten schlangen, Flechten, die über der klaren, schneeigen Stirn sich breiteten, als sollten sie gleich einem absichtlich gewählten natürlichen Diadem wirken. Eine wahrhaft königliche Frau, wenn sie ihm während der Vernehmungen gegenüberstand (da sie das Sitzen stets schroff ablehnte).

Ach, wenn sie doch nur reden wollte! Aber sie verschanzte sich hinter überaus klug beherrschten, einsilbigen Bemerkungen. Wenige Worte, die niemals eine vollkommene Antwort, nie ein wirkliches Verneinen, ebensowenig ein ausdrückliches Bejahen der an sie gerichteten Fragen darstellten. Zeitweilig hätte er schwören mögen: sie hat die Tat begangen. Wenige Minuten später schon mußte er sich still sagen: unmöglich – diese Frau ist rein und schuldlos.

Dem Untersuchungsrichter bangte vor den nächsten Amtsstunden. Er gestand sich ein, daß er richtiger handeln würde, die Verhöre einem Amtskollegen abzutreten; denn die schöne Frau mit der gebieterischen Haltung war ihm zuviel Weib geworden, bedeutete ihm täglich weniger eine unter Mordverdacht stehende Fremde.

Dennoch – dennoch: in so mancher ihrer wortkargen Erwiderungen klang ein spöttischer Unterton, als werde die Tat gar nicht geleugnet – als dächte die Frau: erst wenn ihr mich der Tat zu überführen vermögt, erst dann werde ich sie eingestehen.

»Verzeihung, Herr Doktor«, unterbrach Scheufgen das einlullende Geklapper seiner Schere. »Ich las gestern, Frau Beverstorff sei verhaftet worden. Darf ich da mal etwas sagen? Die Dame ist seit Jahren Kundin in unserem Geschäft. Wir sind geradezu entsetzt und halten die Verhaftung für einen Mißgriff der Behörde. Ich erinnere mich ganz bestimmt: am Morgen des Tages, an dem der Mord bekannt wurde und in dessen Frühe er ja auch verübt worden sein soll, an diesem Morgen war Frau Beverstorff bei uns in der Damenabteilung. Ich selbst habe sogar die gnädige Frau bedient.«

Dr. Aurelius blickte flüchtig nach rechts und links. Außer ihm und dem Gehilfen war niemand im Raum anwesend. Er konnte sich daher auf ein den Dienst streifendes Gespräch mit dem Manne einlassen.

Scheufgen erzählte weiter: »Ich habe mir alle Mühe gegeben, das Verhalten der Frau Beverstorff mir ins Gedächtnis zurückzurufen. Herr Doktor, die Dame war sogar sehr heiter und außerdem gesprächig, was sie sonst keineswegs ist.«

»Gesprächig gegen ihre sonstige Gewohnheit«, warf Aurelius ein. »Sie sind kein Charakterforscher, Scheufgen, kein Menschenkenner. Sonst wüßten Sie, wie sehr auffällig Gesprächigkeit ist bei einem sonst schweigsamen Menschen. Ich als Kriminalist würde mir an Ihrer Stelle sofort gesagt haben: Die stets wortkarge Dame spricht heute viel – ihr Seelenzustand ist also durch irgend etwas aufgewühlt.«

»Je nun, wenn man sich das so zurechtklamüsert«, bemerkte Scheufgen tadelnd, indem er in den Spiegel hinein einen Blick des Unwillens auf das Gesicht des Untersuchungsrichters heftete. Dann fuhr er unter dem Klappern seiner Schere fort: »Ich erwähne das, weil ich durch das Nachdenken über den bewußten Vormittag mir auch andere Vorgänge jenes Morgens ins Gedächtnis zurückrief.«

»Geschah denn etwas, was Ihnen auffällig wurde?«

»Ich möchte nicht sagen: auffällig«, berichtigte der Gehilfe. »Immerhin – es war ziemlich sonderbar. Eine junge Person kam, die nie vorher im Laden gewesen war. Die Damenkabinen waren sämtlich besetzt. Die junge Person mußte warten. Sie saß dabei auf einem Stuhl gegenüber der offenen Kabine, in der ich Frau Beverstorff bediente. Das Fräulein sah meinen Hantierungen zu. Ich erinnere mich noch ganz bestimmt an das hoch aufhorchende Gesicht, das die Fremde machte, als ich an den Kabineneingang trat und meinem Kollegen zurief, er möge mir eine neue Flasche von dem Haarwasser bringen, wie Frau Beverstorff es benutze.«

Dr. Aurelius meinte: »Sie wollen sagen, das Aufhorchen der jungen Person habe dem Namen Beverstorff gegolten. Schon möglich. Vielleicht hatte die junge Person bereits von dem Morde gehört.«

»Ausgeschlossen, Herr Doktor! Das Gerücht lief erst viele Stunden später in der Stadt um.«

»Na, und was weiter?«

»Kaum hatte ich den Namen genannt, da tat die Fremde schon so, als werde ihr das Sitzen langweilig. Sie schritt auf und ab, und ich meine, sie hätte dabei eine ganz eigentümliche Unruhe bekundet. Dabei blieb sie bestrebt, dem Kabineneingang so nahe wie möglich zu kommen, um Frau Beverstorff genau in Augenschein nehmen zu können. Herr Doktor, es lag in diesem Betrachten ein Ausdruck stärkster Gehässigkeit. Ich erinnere mich dessen so genau, weil ich dachte: Aha, die ärgert sich, daß sie wegen der gnädigen Frau so lange warten muß.«

»Nun – und?« machte Dr. Aurelius, da der Gehilfe im Haarschneiden innehielt und eine Kunstpause machte, als wolle er den Höhepunkt seiner Schilderung steigern.

»Was mir durch mein Nachdenken als bemerkenswert erscheint, ist folgendes: Die junge Person hätte nun in einer freiwerdenden Kabine an die Reihe kommen können. Sie lehnte die Bedienung ab, trat an meine Kabine heran und bestand darauf, sie wolle von mir bedient sein. Dies, obwohl ich ihr sagte, es werde aber noch lange dauern, bis ich mit der sehr schwierigen Haarbehandlung der augenblicklich bedienten Dame fertig würde.«

»Sie meinen, die Fremde sei nur zum Zweck einer Beobachtung der Frau Beverstorff in den Laden gekommen?«

»Jawohl, Herr Doktor, so ähnlich; denn was soll man aus einer Kundin machen, die, nun sie endlich im Stuhle sitzt, zunächst nicht weiß, ob sie Haarwäsche wünscht, nur onduliert oder nur frisiert werden will. Ich stand ganz ratlos da. Plötzlich verlangte die junge Person, ich solle ihr einen Bubenkopf schneiden. Ich sagte so ungefähr: Sie haben wunderhübsche blonde Haare, gnädiges Fräulein. Wird es Ihnen hinterher nicht leid tun, da Sie augenscheinlich nicht mit dieser Absicht herkamen? – Gut, sie wiederholte ihren Wunsch, und meine Pflicht war also, sie wunschgemäß zu bedienen.«

»Der Einfall kann ihr ja so plötzlich gekommen sein, wie sie – Ihren Worten nach – plötzlich den Wunsch äußerte.«

»Auch das zugegeben, Herr Doktor. Aber als ich nun die wirklich schönen blonden Haare abgeschnitten hatte und mit der gesamten Bedienung fertig war, da deutete das Fräulein auf den Abreißkalender neben dem Spiegel und sagte: ›Merken Sie sich das Datum des 27. März!‹ – Ich aber sagte: ›Wir haben heute den 28. März – das Kalenderblatt ist noch nicht abgerissen worden.‹ Gleichzeitig entfernte ich das Blatt. Von da an war die Fremde, übrigens eine bildhübsche Person, merklich verstimmt. Ich habe mir nun zurechtgelegt, sie könne enttäuscht gewesen sein, weil ihr nicht gelungen war, mir ein falsches Tagesdatum einzureden.«

»Ich fange an zu verstehen, was Sie meinen, Scheufgen«, sagte der Doktor. »Sie glauben nicht an die Schuld der Frau Beverstorff, und nun konstruieren Sie sich aus der jungen Person die Tatverdächtige. Sie hörten, man habe in der Hand des Ermordeten blonde Frauenhaare von der üblichen Länge solcher Haare gefunden. Und nun ergrübeln Sie sich einen Zusammenhang: die Fremde ließ sich die Haare kurz schneiden, um sich ausweisen zu können, sie sei nicht die Täterin, da man ja lange Haare bei dem Toten entdeckte ... und um solch einen Ausweis zustande zu bringen, verwies sie den Friseur auf ein Datum, das einen vollen Tag vor dem Mordtage lag.«

»So ist es, Herr Doktor«, bestätigte Scheufgen voll Stolz. »Nicht Frau Beverstorff hat's getan, sondern die junge Person!«

»Na, na, na!« rief der Untersuchungsrichter auflachend. »Wollte man die erwähnte Absicht Ihrer geheimnisvollen Kundin voraussetzen, so müßte man ja gleichzeitig behaupten oder sogar beweisen können, sie habe vor dem Betreten des Ladens gewußt, daß der Abreißkalender ein unrichtiges Datum zeigte, ein Datum, das ihr für einen Alibibeweis zugute kommen könnte.«

Ein wenig beleidigt erzählte Scheufgen weiter: »Ich werde dem Herrn Doktor nachher beweisen, daß meine Auffassung gar nicht so weit hergeholt ist. Bei Kriminalfällen sind schon größere Wunder geschehen. Hören Sie nur! Die junge Dame bezahlte mürrisch und verließ schweigend das Geschäft. Wie bei uns gebräuchlich, hatte ich ihr den zum Zopf geflochtenen Haarabschnitt eingewickelt und mitgegeben. Kurze Zeit nach dem Weggang der Fremden kam ein Junge aus der Nachbarschaft in den Laden. Und was meinen Sie, Herr Doktor, was er brachte? Den Haarabschnitt der blonden Dame! Er sagte, das Paketchen habe mitten auf der Straße gelegen, und er meinte, eine Kundin von uns müsse es verloren haben.«

»Das finden Sie so merkwürdig?« wunderte sich Aurelius, indem er von neuem lachte.

Scheufgen sagte wichtig: »Merkwürdig allerdings, weil wir nachher erfuhren, die Fremde habe das Paketchen über einen nahen Gartenzaun geworfen gehabt. Der Gartenbesitzer hatte das zufällig beobachtet. Er ging hin und sah nach, was der Inhalt wäre. Als er die Haare vorfand, pfefferte er das Päckchen über den Zaun zurück auf die Straße, weil mittlerweile die Eigentümerin verschwunden war.«

»Ich gebe zu, alltäglich waren die Geschehnisse jenes Vormittags gewiß nicht«, äußerte der Doktor. »Doch besonders wichtig erscheinen die an sich harmlosen Vorgänge nur Ihnen, weil Sie sie steigern durch die Erinnerung an den Zufall, der Ihnen die Gattin des Ermordeten am Tage des Mordes in den Laden brachte.«

Wiederum meinte der enttäuschte Scheufgen: »Tja, es kommt wohl darauf an, wie man sich so etwas zusammenklamüsert. Aber, Herr Doktor, der abgeschnittene Zopf wird von uns aufbewahrt. Sollten Herr Doktor schließlich doch noch etwas auffällig finden an meinen Beobachtungen, so stünde der Zopf zur Verfügung. Etwa zum Vergleich, ob diese Haare mit den bei dem Toten gefundenen übereinstimmen.«

Dr. Aurelius sagte heiter: »Auffällig ist mir nur eins, mein lieber Scheufgen. Meine Besuche im Laden haben in Ihnen, meinem Leibfriseur, die kriminalistischen Instinkte geweckt. Ich hoffe, Sie versuchen nicht, mir Konkurrenz zu machen, da ich hiermit feierlich gelobe, niemals als Friseur Ihr Konkurrent zu werden.«

Ein neuer Kunde betrat den Laden, und ein anderer Gehilfe erschien zur Bedienung. Scheufgen besaß Takt genug, das Gespräch mit dem Untersuchungsrichter nicht fortzusetzen. Schweigend vollendete er sein Werk.

Zehn Minuten später erhob sich Aurelius. Er betrachtete sich eingehend im Spiegel. Die gekürzten Haare erhoben sich nun in schöner Wölbung über der Stirn. Das jetzt bartlose Gesicht, befreit von dem lächerlich fuchsigen Bürstchen, sah verjüngt aus, auch anziehender. Er wollte genau beobachten, ob der schönen Frau Harthilt die Veränderungen auffallen würden.

Ach, ließen sich doch Beweise für die Schuldlosigkeit der heimlich verehrten Frau beibringen! Dann hatte man doch eine gewisse Berechtigung, ihr zu nahen, und wer konnte zur Stunde wissen, ob die unter so tragischen Umständen geknüpften unpersönlichen Beziehungen nicht einen glücklichen Uebergang fanden zu persönlich angenehmen Beziehungen.

In dieser Stimmung nahm Aurelius den Friseurgehilfen Scheufgen beiseite und ermahnte: »Machen Sie sich immerhin genaue Notizen über die Erlebnisse, von denen Sie mir berichteten. Namentlich auch Notizen über das Benehmen der Frau Beverstorff. Kommt es wider alle meine Vermutungen zu einem Prozeß gegen die Dame, so könnte Ihr Zeugnis doch noch wertvoll werden. Einstweilen bewahren Sie tiefes Schweigen.«

Geschmeichelt durch das Vertrauen des Richters, verbeugte sich Scheufgen und flüsterte: »Und der blonde Zopf, Herr Doktor?«

»Den werfen Sie ruhig in den Müllkasten. Ihre geheimnisvolle Fremde hat mit dem Mord nicht das Geringste zu tun.«

So sagte der Untersuchungsrichter. Er konnte freilich nicht ahnen, wie gründlich er sich hinsichtlich seiner leicht hingeworfenen Ueberzeugung täuschte.

*

Während der Schnellzug in einer von Regenschauern durchjagten Aprilnacht dahingerast war, hatte Viktor Felsing sich das Unsinnige seiner Flucht überlegt. Er schalt sich feige und erbärmlich, wenn er sich den Augenblick vergegenwärtigte, in dem Frau Harthilt in stolzer Ruhe Abschied von ihm genommen hatte.

Ein Weib ... und doch hatte sie auch nicht eine Sekunde die Fassung verloren, obwohl sie gewußt zu haben schien, wer da kam, sie mitten aus einem frohen Fest herauszureißen. Er aber ... in der Furcht, durch Frau Harthilts Festnahme würden nun seine Beziehungen zu Arthur Beverstorff ans Tageslicht gebracht, er hatte in kopfloser Angst das Haus der Eltern verlassen, kaum, daß der letzte Gast von dannen war.

Und nun saß er da in dem unfreundlichen, fast armseligen Gasthaus des kleinen Nestes. Er war hier ausgestiegen, da er unterwegs erst zur Ueberlegung kam, ohne Paß und Ausweise werde man ihn die nahegelegene Staatengrenze nicht überschreiten lassen.

Daß er von dem Gasthausbesitzer schon mit mißtrauischen Augen betrachtet wurde, konnte er sich nicht verhehlen. Er benahm sich ja auch zu absonderlich. Den Tag verbrachte er in dem dürftig möblierten Stübchen, wohin er sich sogar alle Mahlzeiten bringen ließ. Nur wenn es dunkel geworden war, wagte er einen Spaziergang über die um diese Zeit fast menschenleeren Wege zwischen den Häusern.

Und wenn in den nur spärlich erhellten Gassen ein Schritt hinter ihm tappte, dann spürte er, wie Kälte ihm den Rücken entlangkroch. Die Furcht machte ihn zittern, weil er förmlich darauf wartete, nun werde ein Mensch ihn einholen, ihm die Hand auf die Schulter legen und sagen: »Sie sind erkannt.«

So trug er sich mit dem Gedanken, eine Schußwaffe zu kaufen. Der entscheidende Augenblick, vor dem er sich so ängstigte, mußte ja doch einmal kommen. Und dann – dann würde er hoffentlich den Mut finden, durch einen raschen Griff nach dem Revolver aller Qual der letzten Tage ein Ende zu bereiten.

Es war Abend. Man brachte ihm sein Essen. Er versuchte in schlecht gemimter Gleichgültigkeit, wie so ganz obenhin, bei der ihn bedienenden Magd eine Erkundigung einzuziehen, wo in dem kleinen Nest ein Waffenhändler sei. Sie konnte keine Auskunft geben, und so verfluchte er seine Torheit. Wenige Minuten später kam der Gastwirt zu ihm herauf.

»Das Hausmädchen erzählte mir soeben von Ihrer Frage«, begann der Mann in dreistem Tone. »Da muß ich mich schon nach dem Sinn Ihrer Erkundigung umtun. Man sieht Ihnen ja täglich mehr das schlechte Gewissen an. Was haben Sie vor? Es wäre mir das liebste, Sie verließen mein Haus, damit ich Sie nicht gewaltsam entfernen muß.«

Viktor versprach in seiner Angst: »Gut, Herr Wirt, ich werde mit dem Nachtschnellzug abreisen.«

Der Wirt wurde sogleich freundlicher und entschuldigte sich: »Sie dürfen mir meine Schroffheit nicht verübeln. Sehen Sie, ich habe nur drei Gastzimmerchen, und die brauche ich ständig für die durchkommenden Geschäftsreisenden. Es gibt hier ja nur in meinem Hause Gelegenheit zum Uebernachten.«

»Es bedarf keiner Entschuldigung«, unterbrach Viktor, dem in seiner Sehnsucht nach Einsamkeit das Geschwätz des Gastwirts lästig wurde. »Machen Sie mir die Rechnung! Bis zum Nachtschnellzug müssen Sie mich allerdings schon dulden.«

»Vielen Dank für Ihre Bereitwilligkeit«, sagte der Wirt. »Ich dachte nämlich obendrein, Sie erwarteten die junge Dame, die heute nachmittag ankam. Ich mußte sie abweisen, weil ich kein Zimmer entbehren kann. Ich habe meine Stammgäste, die Reisenden. Und ich will auch keine zweifelhaften Menschen in meinem Hause haben.«

»So, eine junge Dame«, äußerte Viktor, nur um etwas zu sagen. »Selbstverständlich erwarte ich niemanden.«

»Man macht sich so seine Gedanken«, redete der Mann weiter. »Sie fragen, wo man einen Revolver kaufen kann. Vor ein paar Jahren hat sich in unserem Städtchen schon einmal ein Liebespärchen umgebracht.«

»Wie gesagt, ich erwarte keine Dame«, wiederholte Viktor dringlicher, um den redseligen Menschen zum Gehen zu veranlassen.

Etwas später kam die Magd und brachte die umfangreichen Musterkoffer eines Geschäftsreisenden in Viktors Zimmer unter. Er nahm das für eine stillschweigende Aufforderung, den Raum jetzt freizugeben.

Seine Handtasche war schnell gepackt. Er bezahlte für seinen Aufenthalt und machte sich auf den Weg zu dem abseits gelegenen Bahnhof des kleinen Städtchens. Dort wollte er irgendeinen Zug besteigen, einerlei, wohin er führe.

Noch kahle Pappeln säumten die Seiten der Landstraße. Der Frühlingswind pfiff durch ihr Geäst. In der Ferne schwammen ein paar rote und grüne Tupfen in der Nachtschwärze. Es waren Signallichter des Bahnhofs.

Als Viktor den dämmerig erleuchteten, schmucklosen Warteraum erreichte, bemerkte er verängstigt, daß ihm jemand gefolgt war; denn kurz nach seinem Eintreten öffnete sich die Tür abermals, und eine weibliche Gestalt kam herein. Sie schritt auf ihn zu, gerade als er seine Handtasche auf den einzigen Tisch in der Mitte des Raumes niedergesetzt hatte.

Sogleich nahm die Frau das Wort: »Ich war ziemlich dicht hinter Ihnen und hätte Sie unterwegs schon ansprechen können. Sie haben beim Heulen des Windes meine Schritte gewiß nicht gehört. Ich dachte auch, es spreche sich leichter hier in dem geschlossenen Wartesaal als draußen auf der finsteren Landstraße.«

So heftig Viktor erschrocken war, beruhigte er sich doch, als das Halbhell in dem Raume ihm ein hübsches Frauengesicht verriet.

»Sie irren sich wahrscheinlich in der Person«, meinte er.

»Ein Irrtum ist wohl ausgeschlossen, da Sie Viktor Felsing sind«, tönte es zurück.

Er wollte leugnen, fand aber nicht den Mut. Diese Frauenaugen blickten zu ernst und eindringlich. Er schwieg.

»Es bot wenig Schwierigkeiten, Sie aufzufinden«, erklärte Frau Alma. »Vor wenigen Tagen war ich bei Ihrem Vater, um Sie kennenzulernen. Aus seinen Ferngesprächen entnahm ich, Sie müßten geflüchtet sein. Der Zug, mit dem allein Sie in der Nacht abgefahren sein konnten, war leicht zu erraten. Dieser Zug überschreitet nach einer Stunde die Grenze. Ich vermutete auf gut Glück, Sie würden keine Ausweispapiere bei sich haben, ohne die Sie nicht hinüberkommen können. So setzte ich mich der Reihe nach in Verbindung mit den zwei kleinen Zwischenstationen, an denen Ihr Nachtzug vor der Grenzstation zu halten hatte. Erst gestern abend bekam ich von hier Bescheid, ein einzelner Herr mit einem hellen Mantel sei hier ausgestiegen.«

»Der helle Ulster«, murmelte Viktor erschrocken. Daß der Mantel ihn verraten könnte, das hatte er nicht bedacht.

Die junge Frau berichtete weiter: »Heute mittag reiste ich hierher. Die Menschen einer Kleinstadt sind geschwätzig. Eine Stunde nach meiner Ankunft wußte ich bereits von dem sonderbaren Gast im Wirtshaus und von seinen abendlichen Spaziergängen. – Soll ich die Schilderung meiner Erlebnisse fortsetzen, Herr Felsing?«

»Sagen Sie mir lieber, wer Sie sind und warum Sie mich verfolgen!«

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und machte den Vorschlag: »Wir wollen uns setzen. Es ist noch über eine Stunde Zeit bis zur Ankunft des Zuges, mit dem wir heimfahren werden.«

»Ich fahre nicht heim«, lehnte er schaudernd ab.

»Ich habe keine Macht, Sie zu zwingen«, bekannte Frau Alma. »Wahrscheinlich tun Sie es freiwillig, wenn wir mit unserer Unterredung fertig sind. Wer ich bin, wollen Sie wissen? Niemand weiter als eine Frau, die sich's zur Pflicht gemacht hat, den Mörder Arthur Beverstorffs zu entdecken und zu entlarven. Damit haben Sie zugleich die Antwort auf Ihre Frage, warum ich Sie verfolge.«

Viktor sank in sich zusammen und stöhnte.

»Ich muß wissen, was in jener Mordnacht geschah und wie es geschah«, sagte Frau Alma. »Nur Sie allein können Auskunft geben. Jetzt will ich nur hören: Sie hatten einen Streit mit Beverstorff?«

»So war es.«

»Aber vor dem Streit – was war da?«

»Wegen einer wichtigen Unterredung hatte ich Beverstorff vor seinem Hause abgefangen. Er sagte, er sei müde, und bat mich, ihm in sein Schlafzimmer zu folgen. Während unseres anfangs ruhigen Gesprächs kleidete er sich zur Nacht um. Unser Wortwechsel hob erst dann an, als er – – –«

»Halt!« unterbrach Frau Alma. »Sagen Sie mir erst etwas anderes: Hatte Beverstorff eine Dame bei sich, als Sie ihn vor seinem Hause ansprachen?«

»Selbstverständlich nicht, sonst hätte ich ihn nicht angesprochen.«

»Sie hörten auch nichts in der Wohnung – eine Stimme, ein Geräusch oder Aehnliches –, was auf die Anwesenheit einer dritten, namentlich einer weiblichen Person hätte schließen lassen?«

Viktor sann nach, um dann zu erzählen: »Alles, was ich in jener Nacht erlebte, war mir nachher wie ein Traum, dessen Geschehnisse man nach dem Erwachen vergeblich in der geträumten Reihenfolge miteinander zu verbinden sucht. Ich entsinne mich, daß Beverstorff mich im Flur stehen ließ und daß er für kurze Minuten ein Zimmer betrat. Von dort kam er zurück und öffnete die Schlafzimmertür. Erst nach einer Weile knipste er dort das Licht an. Nachdem forderte er mich zum Eintreten auf. Unsere Auseinandersetzung begann, während er sich ohne Aufenthalt vor mir umzog. Wir wurden dabei allmählich lauter, da der Mann mich durch freche, verächtliche, hämische Bemerkungen erbitterte.«

»Einen Augenblick«, unterbrach Frau Alma. »Man kann sich leicht hinter den schweren Vorhängen des Schlafzimmers verbergen. Hörten Sie ihn im Dunkeln dieses Gemachs – ich meine, bevor Sie eintraten – mit jemandem ein paar kurze Worte wechseln, flüstern oder murmeln?«

»Ich habe begreiflicherweise in meiner Erregung auf nichts geachtet, nachdem ich einmal die Wohnung betreten hatte. Doch – warten Sie – es fällt mir jetzt eben etwas ein. Gleich nach Beginn unseres Gesprächs hatte ich den Eindruck, es sei auf dem Flur ein Geräusch gewesen. Da im gleichen Augenblick Beverstorff mir wegen einer Geldfrage Vorwürfe machte, auf die ich scharf erwidern mußte, entglitt mir der Eindruck wieder, daß ein Huschen hörbar wurde.«

»Beverstorff beachtete das Geräusch nicht?«

»Ich kann mich heute dessen nicht mehr entsinnen.«

Frau Alma forschte weiter: »Sahen Sie in dem Schlafzimmer Gegenstände, die einer weiblichen Person gehört haben könnten?«

Mit einem müden Lächeln erwiderte Viktor: »Ich war viel zu sehr mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um derlei nichtsbedeutende Eindrücke in mich aufzunehmen. Wenn mir das erwähnte Huschen noch zu Ohren drang, so wahrscheinlich nur deshalb, weil ich aus zwingenden Gründen den Wunsch hegen mußte, ohne Zeugen mit Beverstorff zu reden.«

»Sie wissen aber, daß man bei dem Toten Gegenstände fand, die nur eine Frau bei sich trägt?«

»Ich habe davon gelesen.«

»Und wo ließen Sie die Waffe, mit der Sie Beverstorff erstochen haben?«

Die Frage prallte so verblüffend auf Viktor ein, daß ihm in tödlichem Erschrecken der Mund weit offen klaffte. Er würgte ein zusammenhangloses Gestammel hervor und starrte mit aufgerissenen Augen auf die so kalt und ruhig fragende Frau.

»Nun ja – die Waffe!« erinnerte sie. »Die Waffe, mit der Sie dem Streit ein Ende machten, nachdem Beverstorff wiederholt gedroht hatte, Sie dem Vater als den Verräter eines Fabrikgeheimnisses zu entlarven.«

Der Erfolg dieser gnadenlos anklagenden Worte war verblüffend. Viktor stürzte mit drei raschen Sprüngen nach der Tür des Warteraumes. So schnell die behende Frau dem Flüchtenden folgte, war doch der Bahnsteig schon leer und einsam, als sie den Ausgang erreichte.

Frau Alma hatte den nur sehr unbestimmten Eindruck, als wiche drüben ein Schatten über die nächtlichen Gleise des Bahnhofs. Vergeblich sah sie sich nach einem Beamten um. Sie ging in den Warteraum zurück, wobei sie sich eingestehen mußte, es sei unnütz, in stockdunkler Nacht einen querfeldein fliehenden Menschen zu verfolgen.

Eine Stunde später trat sie mit dem durchkommenden Bummelzug die Heimfahrt an. Die Reisetasche Viktors nahm sie mit.

Ein triumphierendes Lachen entstellte das schöne Gesicht der jugendlichen Frau zu einer boshaften Maske, als sie in dem einsamen Abteil die Reisetasche gründlich untersucht hatte.


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