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10.

Auch Sylvia Rickstetten gehörte zu den Menschen, denen durch den Rundfunk die auf Viktor Felsing gemünzte Bekanntgabe zu Gehör kam. Der Beschreibung nach war sie nicht im Zweifel, es handle sich um den Mann, den sie liebte und an dessen Schuldlosigkeit sie glaubte, ohne daß sie sich Rechenschaft abzulegen vermochte, was ihre Liebe erzeugt, ihren Glauben gefestigt hatte. Doch daß ihr Glaube sie nicht betrogen, davon war sie überzeugt seit ihrer Flucht aus dem Heim des Ehepaares Schulze.

An jenem Abend, als Frau Alma sie mit dem Kranken allein ließ, war Sylvia nach gut zwei Stunden erst wieder in das Schlafzimmer hinübergegangen. Der Leidende hatte seine mühselige Schreibarbeit beendet. Er lag abgemattet in den Kissen und lallte die Bitte um einen Trunk. Noch während sie ihn labte, schlief er vor Erschöpfung ihr unter den Händen ein.

Sie wollte die beschriebenen Blätter von der Steppdecke aufsammeln, als ihr Blick zwischen dem ungelenken Gekritzel einen Namen entdeckte:

Beverstorff ...

Der Name des Mannes, dessen Ermordung die Triebfeder geworden war zu Frau Almas wunderlicher Handlungsweise.

Sylvia hatte Blatt für Blatt gelesen. Eine Welt voll unwahrscheinlichster Zusammenhänge war ihr enthüllt.

Aus den herzzerreißenden Anklagen der mühsam zustandegebrachten Niederschrift drängte sich dem Mädchen das Wissen auf, wer den todbringenden Stoß geführt hatte. Sie preßte ein Aufjubeln in ihre Kehle zurück. Nun wußte sie alles! Dann aber stand ihr Wille fest: es konnte ihres Bleibens nicht sein im Hause dieser furchtbaren Frau, vor der sie sich trotz allen Betreuens stets gefürchtet hatte. Wohltat empfangen von einem schuldigen Geschöpf, das bewußt einen Schuldlosen des Mordes zieh? Unmöglich ... sie mußte fliehen.

Zwölf Stunden später betrat Sylvia Rickstetten den Boden ihrer Heimatstadt Hamburg.

Sie suchte sofort die Wohnung einer früheren Freundin auf, hörte aber von den Eltern, daß Hedwig sich verheiratet hatte. Die alten Leute versicherten tröstlich, der Schwiegersohn Gregers Delkeskamp, ein Musiker, sei ein prächtiger Mensch; er werde bestimmt nichts einzuwenden haben, wenn die Jugendfreundin seiner Frau für kurze Zeit Zuflucht suche im Heim des jungen Paares.

Das erwies sich als richtig.

Delkeskamp war erster Geiger im Rundfunkorchester. Er hatte seinem jungen Frauchen ein hübsches Unterkommen geschaffen weit draußen in Dockenhuden nahe Blankenese. Er versicherte, er sei sogar glücklich, einen Besuch aufnehmen zu können.

»Ich habe einen Dienst«, sagte er, »bei dem es häufig gar nicht lohnt, daß ich in der Tageszwischenzeit die große Entfernung heimfahre. Oft komme ich sehr spät in der Nacht vom Abenddienst nach Hause. Da ist mir's nur eine Beruhigung, wenn ich Hedwig nicht so allein weiß in dem einsamen Hause.«

Voll Stolz zeigte das Paar die traulich eingerichtete kleine Wohnung. Sie hausten als Mieter im Dachgeschoß einer Villa, deren Eigentümer den größten Teil des Jahres außer Landes weilten. Sylvia bekam eine Schlafstätte auf dem Diwan in der Wohnstube zugewiesen. Hier führte Gregers Delkeskamp Sylvia auch vor einen stattlichen Radioapparat.

»Da habt ihr Unterhaltung genug«, meinte er heiter.

»Ich stelle aber fast ausschließlich auf Hamburg ein«, gestand die junge Frau. »Spielt das Rundfunkorchester, so höre ich die Geige meines Mannes deutlich heraus.«

»Das ist ja nun bloß Einbildung«, behauptete der Musiker lachend.

»Am schönsten aber ist's, wenn Gregers ein Solo zu spielen hat«, fuhr Hedwig fort. »Dann habe ich immer das Gefühl: nun spielt er für dich. Er weiß doch, daß ich ihn höre.«

Am ersten Abend im Heim der jungen Leute bekam Sylvia die Wunder des Fernempfängers vorgeführt. Frau Hedwig bot ihr möglichstes auf. Alle fünf Minuten schaltete sie das Gerät anders ein. Doch von der neunten Stunde an ließ sie es beim Empfang der Hamburger Welle bewenden.

Das war um dieselbe Zeit, als Viktor Felsing in dem sogenannten Radiosalon des »Hotels Westminster« erschien.

Musik erklang. Dann tönte in Sylvias Ohr die Stimme aus dem Aether:

»Wie in den letzten Tagen, so richten wir auch heute an unsere Hörer eine Bitte, die durch sämtliche Rundfunksender Deutschlands weiter verbreitet wird. Es wird ersucht um das Festhalten eines gut gekleideten jungen Mannes, der gekennzeichnet ist durch ein eigenartig gebräuntes Gesicht, in dem die seltsam klaren grauen Augen als absonderlich zu bezeichnen sind. Bekleidet ist er mit einem Mantel von besonders auffällig heller Farbe. Darunter trägt er einen Anzug von rötlichem Braun. Kopfbedeckung: ein der Farbe des hellen Ueberrockes angepaßter Hut mit etwas dunklerem Band. Wer den jungen Mann trifft, wird gebeten, ihm zu sagen, seine Reisetasche befände sich bereits in den Händen der Eltern. Da die Tasche auf die Spuren seiner Fluchtrichtung leiten kann, so möge er, damit nicht die Behörden mit der Einbringung betraut werden müssen, freiwillig heimkehren. Er könne das ohne jede Gefahr tun. Telegrafische Nachrichten über den Verbleib des jungen Mannes oder über eine der Beschreibung entsprechende Persönlichkeit werden erbeten an Doktor Aurelius in D., Fürstenstraße 23. Die Eltern des Flüchtlings werden alle entstehenden Kosten gewissenhaft ersetzen, darüber hinaus auch jeden angemessenen Anspruch auf eine Belohnung erfüllen.«

Das war die Bekanntgabe durch die Rundfunksender. Dr. Aurelius hatte sie als wahrscheinlich am raschesten zum Ziel führende Maßnahme dem Vater Viktors vorgeschlagen. Kommerzienrat Felsing erwog nicht lange, ob man sich des neuesten Mittels zur allgemeinen Verbreitung einer Nachricht bedienen sollte.

»Aber was hast du denn?« fragte Frau Hedwig erschrocken, als Sylvia nach dem Abhören der Funknachricht bleich und zitternd dasaß.

»Ich kenne den Flüchtling«, sagte das junge Mädchen mit bebenden Händen.

»Und darum regst du dich so auf?« staunte die junge Frau.

»Dieser Mann wird eines Mordes verdächtigt«, gab Sylvia Bescheid. »Wahrscheinlich deshalb flüchtete er. Ich aber weiß, wer den Mord wirklich begangen hat.«

Als Gregers Delkeskamp spät in der Nacht vom Dienst nach Hause kam, fand er die beiden Frauen noch wach. Sylvia erzählte den Freunden jetzt einen Abschnitt aus ihrer Lebensgeschichte.

Sie begann mit dem Tage des Einzuges in die Bodenkammer der Frau Schurich, und sie beschrieb die Trinkorgien in jener Kneipe. Wie sie dem Fremden zwei noch frische Blutflecke vom hellen Ueberrock gewaschen hatte, beschrieb sie, und wie er am nächsten Tag gekommen war, nach seinem verlorenen Geldtäschchen zu fragen.

Dann berichtete sie, wie eine Soldatin der Heilsarmee sie aus der scheußlichen Umgebung herausriß, wie ferner die Frau sich als Gattin eines Kriminalbeamten zu erkennen gab.

»Ich faßte Vertrauen zu ihr«, erwähnte Sylvia. »Das war in meiner traurigen Lage wohl selbstverständlich. Als ich sie jedoch fragte, wie ich meine Dankbarkeit beweisen könnte, da brachte sie das Gespräch auf den jungen Mann, den sie mich gegen die Schurich verteidigen gehört hatte. Sie begann sofort mit der Behauptung, er sei der gesuchte Mörder. Dies und die Tatsache, daß sie die Frau eines Kriminalbeamten ist, veranlaßte mich, ihr eine ebenso unrichtige Beschreibung zu geben, wie ich das auf der Polizei getan hatte.«

»Auf der Polizei auch?« wunderte sich Frau Hedwig.

»Das ist strafbar«, sagte Delkeskamp voll Bedenken.

»Mit dieser Drohung beherrschte mich auch Frau Schulze«, berichtete das Mädchen. »Eines Tages kam sie und schalt mich in sehr gereizter Laune eine Lügnerin. Sie konnte mir sogar den Namen des jungen Mannes sagen.«

»Und warum wandte sie sich nicht selbst an die Behörde, um die Sache aufzuklären?« erkundigte sich der Musiker.

»Ich weiß es nicht. Sie kam einige Tags später und erzählte, wie sie den Aufenthalt des jungen Mannes ausfindig gemacht hatte, wie sie den angeblichen Mörder festnehmen lassen wollte, wie er aber in stockdunkler Nacht die Flucht ergriff. Sie war damals ganz außer sich, und es fehlte nicht viel, so hätte sie sich an mir vergriffen, weil ich den armen Menschen als schuldlos verteidigte.«

Nun malte Sylvia aus, wie eine Versöhnung zustande kam, als Frau Alma die Verlassene aus dem Hospiz der Heilsarmee an das Krankenlager Schulzes holte. Sie erzählte von den Blättern, die der halb geistig, halb körperlich gelähmte Mann mit seinen Schriftzeichen bedeckt hatte.

»Ich habe alles gelesen«, schloß Sylvia. »Und ich bin überzeugt, es waren nicht Phantasien eines Geistesgestörten. Es waren die Worte eines Menschen, den seine Verzweiflung zu Boden schmetterte, als er durch seinen Beruf erfuhr, die Missetat ließe sich nicht länger mehr verhehlen. Der Mund gehorchte nicht. So schrieb der arme Kranke für die einen Schuldlosen verdächtigende, entsetzliche Frau auf, was er nicht deutlich und zusammenhängend genug sagen konnte.«

*

Am anderen Morgen stellte Gregers Delkeskamp die Freundin seiner Frau dem Leiter des Senders vor. Selbstverständlich weigerte sich der erstaunte Herr, auf den seltsamen Wunsch Sylvias einzugehen. Er machte den Vorschlag, das junge Mädchen möge sich doch telegrafisch mit Dr. Aurelius in Verbindung setzen.

Aber Sylvia flehte standhaft: »Bitte, tun Sie es doch! Ein ganzer Tag kann über den Depeschenwechsel verloren gehen. Kann nicht gerade an diesem Tage der Gehetzte den letzten, verzweifelten Schritt tun? Ein Menschenleben ist in Gefahr.«

Doch ebenso standhaft blieb der Direktor bei seiner Weigerung: »Unmöglich, mein Fräulein. Eine Weiterverbreitung Ihrer Nachricht verbietet sich ganz von selbst, solange wir eine solche sensationelle Meldung nicht auf die Wahrheit nachprüfen können. Auch würden wir mit der öffentlichen Weitergabe Ihrer Behauptungen den Kriminalbehörden vorgreifen.«

Trostlos verließ Sylvia das Verwaltungsgebäude. In heißer Angst eilte sie nach dem Telegrafenamt. Gregers Delkeskamp begleitete sie. Eine Depesche an Dr. Aurelius sollte aufgegeben werden.

Doch als Sylvia den Inhalt der Drahtnachricht zu Papier bringen wollte, sagte sie entmutigt: »Ich finde den Wortlaut nicht zusammen. Und was nützt mein Telegramm, wenn ich nicht zugleich sagen kann, wo sich der Geflüchtete befindet!«

»Da haben Sie im Grunde genommen recht«, gab der Musiker zu. »Aber es wäre doch gut, würden Sie – etwa mit Angabe unserer Wohnung als Ihrer Adresse so drahten: Wenn Viktor Felsing gefunden, erbitte sofort Nachricht, da ich ihn betreffende wichtige kriminelle Mitteilung zu machen habe.«

Sylvia schrieb diese Worte nieder. Nun war sie ruhiger.

Als sie mit Delkeskamp das Postgebäude verließ, meinte sie seufzend: »Ich hätte dem jungen Menschen so gern durch den Rundfunk sagen lassen, er brauche sich nicht länger zu verstecken vor einer Verfolgung wegen des Mordes.«

Der Geiger mußte lachen.

»Unsinniger Gedanke«, urteilte er. »Ich sagte Ihnen gestern nacht ja gleich, wie Unmögliches Sie sich in den Kopf setzten. Man müßte bei Ihrer Absicht doch voraussetzen, daß Ihr Schützling überhaupt Rundfunk hört. Ein Flüchtender! Das vergessen Sie ganz und gar. Solch einen Zufall gibt es nicht.«

Delkeskamp verabschiedete sich.

»Ich werde zu Hedwig heimfahren«, sagte Sylvia trübselig. »Natürlich wird sie am Radio sein, um Sie bei der Mittagsmusik spielen zu hören.«

»Da hätte sie kein Glück«, scherzte der Freund. »Ich habe heute nur Orchesterprobe. Es wird die Militärmusik vom Rathausmarkt übertragen. Hören Sie sich das mit Hede an. Das ist sehr interessant, da selbstverständlich alte Straßengeräusche mit übertragen werden – das Hupen der Autos, der Stundenschlag der nahen Petrikirche, das Bimmeln der Straßenbahnen, Hundegebell, das Schwatzen und der Beifall der zuhörenden Menschen – kurz, alles, was im Umkreis des Mikrophons laut wird.«

Dann trennten sich die beiden.

*

Viktor ahnte nicht, daß sein guter Engel in Hamburg war. Vielleicht hätte er an dem jungen Mädchen einen Halt gefunden. In Furcht und Scheu ging er nach dem Speisesaal hinab, ein Gehetzter, Verfolgter – so wähnte er. Er wollte die Gelegenheit benutzen, ganz allein in dem Raume das Essen zu sich zu nehmen, mußte aber hören, es gebe vor ein Uhr nichts.

Der Kellner gab ihm auf Nachfrage die Auskunft, vor dem Mittagskonzert bringe der Sprecher des Senders außer Börsenberichten auch sonst wichtige Tagesnachrichten zu Gehör.

Viktor hoffte, die Aufforderung, ihn festzuhalten, werde auch um diese Zeit durchgegeben. Er vermutete, seine Beschreibung werde von der Kriminalbehörde verbreitet, und er wollte nochmals lauschen, ob er sich nicht verhört hatte, daß man den längst beseitigten hellen Ulster als Kennzeichen angab.

So ging er denn nach dem Radioraum hinüber. Dort war es einsam. Viktor stellte den Apparat ein.

Minuten verstrichen. Der Ansager verlas die Tageskurse. Dann berichtete er Wissenswertes über die politische Lage, endlich Nachrichten vom Produktenmarkt und zuletzt auch noch die Ergebnisse sportlicher Veranstaltungen.

Zum Schlusse sagte er: »Wir beginnen jetzt mit der Uebertragung der Platzmusik vor dem Rathause. Fünf Minuten vor eins bringen wir das Nauener Zeitzeichen.«

Enttäuscht, daß seine Beschreibung nicht durchgegeben wurde, wollte Viktor eben den Apparat abstellen, als ein Fremder den Raum betrat.

Der Mann sah sofort in eigentümlicher Weise nach dem einsamen Radiohörer hin. Dann ließ er sich nieder und blätterte in den Programmheften. Danach winkte er den Mann herbei, der den Empfangsapparat bediente und zugleich das Amt des Kellners hier versah. Leise sprachen die beiden miteinander.

Viktor sah nur die Mundbewegungen. In einer Anwandlung von Scheu wagte er nicht, seinen Platz zu Verlassen – der fremde Mann ließ kein Auge von ihm. So spielte er den aufmerksamen Radiofreund, indem er dem seitwärts von ihm sitzenden Manne jedoch sein Gesicht verbarg.

Der Fremde ließ sich jetzt von dem Diener den Apparat erklären. Entweder er spielte vorzüglich den Uneingeweihten, oder er verstand wirklich nichts davon.

Nach einem eigentümlichen Sausen und Heulen klang plötzlich Militärmusik im Lautsprecher auf. Der Schall dröhnte in voller Stärke. Viktor beobachtete, wie der Fremde schon nach wenigen Minuten mit den Gesten verdrießlichen Mißfallens den Raum verließ.

Dann hörte Viktor den Diener mit erhobener Stimme sagen: »Ist Ihnen schon so etwas vorgekommen, mein Herr? Ein Mensch, dem Rundfunksendungen böhmische Dörfer sind!«

Viktor lächelte verzweifelt. Er war überzeugt, der Gast habe sich nur verstellt und sei erschienen, bloß um ihn genauer zu mustern.«

»Kennen Sie den Herrn nicht?« fragte er.

»Kennen – nein«, lautete die Antwort. »Wenigstens weiß ich nicht, wer er ist. Im Radiosaal war er heute zum erstenmal. Aber ins Hotel kommt er öfter und hat dann so eine eigene Art, unsere Gäste anzuglotzen.«

Was der Diener noch weiter schwatzte, konnte Viktor nicht verstehen bei den neuerlichen grellen Tönen der Musik. Aber noch etwas anderes vernahm er.

Und was er hörte, das war sein Name.

»Viktor Felsing«, scholl es in die Musik hinein.

Er drehte sich hastig um, überzeugt, hinter ihm spreche der Fremde, der ihn vorhin so eigentümlich angaffte. Aber da war niemand als der Diener.

Diesmal hatte er den Eindruck, die Worte kämen aus dem Lautsprecher, gesprochen von einer Frauenstimme. Er war nahe daran, unwillkürlich zu antworten.

Doch schon verstand er: »Melden Sie sich – ich weiß, wer den Mord verübte – ich wohne –«

Die Stimme war plötzlich wie erloschen.

»Donnerwetter!« fluchte der Diener. »Da ist mir schon wieder eine Röhre durchgebrannt. Das gibt aber diesmal Krach mit dem Alten.«

Er machte sich an dem Funkgerät zu schaffen, während Viktor nicht anders glaubte, als daß er an Sinnestäuschungen litte.

»Hörten Sie, was da eben gesprochen wurde?« wandte er sich an den Diener.

»Wo – im Radio?« fragte der mit dem Apparat beschäftigte Mann. »Ich hörte etwas, aber man achtet nicht so darauf, weil bei Uebertragungen aus dem Freien immer alles mögliche mitschallt.«

In diesem Augenblick verschenkte Sylvia Rickstetten das schönste Lächeln, das je ihr Gesicht noch lieblicher gemacht hatte.

Beides war der Widerschein der Freude über einen wohlgelungenen Plan – und beides galt dem jungen Manne, der ein paar Minuten das Mikrophon unbeachtet gelassen hatte, weil er sich eine Zigarette anzündete.

Er warf das Streichholz fort und warnte: »Nicht zu dicht an das Mikrophon heran, mein Fräulein! Das ist nicht gestattet. Oder möchten Sie den Liebsten von hier aus grüßen?«

»Es ist schon geschehen«, sagte Sylvia.

Sie ahnte nicht, daß sie nicht zu Ende gehört worden war.

*

Als Dr. Aurelius nach einem Ferngespräch von fast zehn Minuten den Hörer auf die Gabel des Apparates legte, war er so verblüfft wie nie zuvor in seinem Leben. Er brauchte eine ganze Weile, um sich des Gedankens zu erwehren, es wolle ihn jemand zum Opfer einer Mystifikation machen.

Was war nun als richtig zu unternehmen? Sollte er sich mit der Kriminalbehörde in Verbindung setzen – sollte er zunächst von sich aus Schritte tun, um der Wahrheit des Sonderbaren, das ihm da soeben durchs Telefon berichtet worden war, auf die Spur zu kommen?

Er warf einen Blick auf die Uhr. Sie zeigte ein Viertel nach neun. Zu dumm auch, daß das Mädchen in Hamburg nicht sofort angerufen hatte! Spätestens um Mittag mußte sie die Depesche in Händen gehabt haben, in der er sie unter Angabe der Fernsprechnummer ersuchte, sich telefonisch mit ihm in Verbindung zu sehen.

Der Doktor zog seinen Ueberrock an. Er wollte einen Ausgang machen, um seiner Erregung Herr zu werden. Wohin der Weg ihn führen sollte, dafür setzte er sich kein Ziel. Nachdenklich durchschritt er ein paar nächtliche Gasten, fortgesetzt grübelnd, was er aus dem Bericht der unbekannten Hamburgerin machen sollte. Auf einem freien Platz der schon stiller werdenden Stadt blieb er stehen.

Hoch auf dem Giebel eines Eckhauses flirrte in glitzernden Buchstaben die Felsingsche Lichtreklame dahin.

Eine Weile sah Dr. Aurelius zu. Gedankenlos verfolgte er die Ankündigungen über das hervorragendste Motorrad, die vorzüglichsten Stiefel, das lustigste Kabarett, die schmackhafteste Schokolade, den erfolgreichsten Staubsauger und die haltbarsten Seidenstrümpfe. Dann aber flammte eine ganz andere Ankündigung grell leuchtend über den Nachthimmel hinweg:

»Dreitausend Mark Belohnung sichert die Staatsanwaltschaft dem zu, der den Täter in der Beverstorffschen Mordsache namhaft macht oder zu einer völligen Aufklärung des Falles beiträgt.«

Die wandernde Flammenschrift machte den Eindruck, als jage sie rastlos hinter dem unerreichbar bleibenden Mörder her ins regenschwangere Dunkel hinein. Welch ein furchtbarer Gegensatz! Die lodernden Worte über den Dächern riefen die Erinnerung an eine Bluttat in die Nacht, um sogleich wieder mit Anpreisungen zu beginnen, die dem Luxus und der Lebensfreude die Wege zeigen sollten.

Wo der Doktor stand, war ein Halteplatz für Droschken, von denen immer noch ein halbes Dutzend in der Stadt herumkutschierte als Ueberbleibsel einer weniger verkehrshastig gewesenen Zeit. Jenseits des Platzes aber blitzten die Scheinwerfer der dort parkenden Autodroschken.

Einer der Kutscher band seinem kniekrummen Schimmel den Futtersack ab. Dann, genau wie Dr. Aurelius, verfolgte er die lodernden Buchstaben, die zum andernmal ihr »Dreitausend Mark Belohnung« in die Schwärze über dem Dachgiebel hinwandern ließen.

»Das müßte man verdienen können«, redete der dick eingemummelte Rosselenker den Doktor an. »Dann wäre einem geholfen, und man brauchte hier nicht mehr stundenlang zu warten, ob es überhaupt noch Leute gibt, die mit dem Hafermotor fahren mögen.«

Der Doktor sprach ein paar mitfühlende Worte, auch etwas über den sein niederstäubenden Regen dieser kalten Nacht und schenkte dem Alten schließlich ein Geldstück.

»Drei Mark!« staunte der Kutscher, bespuckte abergläubisch die Münze und verbarg sie in seinem noch winterlich aussehenden Mantel.

Dann schritt Aurelius hastig über den Platz. Die Flammenschrift hatte ihn an den Kommerzienrat Felsing erinnert. In einer nahen Konditorei wollte er den alten Herrn telefonisch anrufen. Vielleicht war er zu einer noch späten Unterredung in der Villa bereit, um etwas zu hören über die merkwürdigen Nachrichten aus Hamburg.

Der Kutscher dachte nach einigem Warten, er könne mit der unverhofften Abendeinnahme zufrieden sein und brauche seinen alten Schimmel nicht mehr zu strapazieren. Vergnügt pfeifend ging er hinter seinem Wagen herum, um auf den Bock zu steigen und heimzufahren. Da sah er den freundlichen Herrn zurückkehren.

»Nun können Sie doch noch etwas verdienen«, rief Dr. Aurelius dem Alten zu. »Wissen Sie, wo die Felsingsche Villa ist? Fahren Sie mich dahin! Sie brauchen aber Ihren braven Renner nicht abzujagen. Ich soll in einer halben Stunde erst an Ort und Stelle sein. Wir haben also reichlich Zeit.«

Während der Kutscher auf seinen Sitz kletterte, nahm der Doktor auf den muffig riechenden Polstern des altertümlichen Gefährts Platz.

Er hatte nicht acht auf eine Gestalt, die ihm schon gefolgt war, als er die Fernsprechzelle der Konditorei verließ, und die jetzt einen Augenblick stehen blieb, als er dem Alten das Fahrtziel zurief.

Die Droschke rappelte von dannen.

Zwanzig Minuten später trieb der Kutscher seinen Schimmel in die Basteistraße hinein. Er fuhr Schritt, um bei der schlechten Beleuchtung des einsamen Weges die Hausnummern lesen zu können. Es gab hier nur wenige weit voneinander gelegene Gebäude, zwischen denen, wie auch vor den Hausfronten, finstere Gartengrundstücke sich breiteten.

Da wurde der Alte vom Gangsteig aus angerufen: »Fahren Sie jemanden zur Felsingschen Villa, Kutscher?«

»Stimmt«, antwortete er. »Wo ist denn das Haus? Man sieht ja hier nicht die Hand vor Augen, geschweige denn die Gartenpforten.«

»Halten Sie nur an«, kam es aus dem Dunkel. »Der Herr Kommerzienrat läßt dem Herrn in Ihrem Wagen etwas bestellen.«

Dr. Aurelius hörte den Wortwechsel und öffnete die Tür. »Wer sind Sie – was wollen Sie?«

Eine dunkel gekleidete weibliche Person kam an den Wagenschlag. Auf ihren unbedeckten Haaren glitzerten im Schein der Bocklaterne die Regentropfen.

»Herr Doktor Aurelius, nicht wahr?« sagte sie. »Ich bin das Hausmädchen. Der Herr Kommerzienrat schickt mich Ihnen entgegen. Er läßt bitten, nicht vorzufahren. Die gnädige Frau soll nicht auf einen so späten Besuch aufmerksam werden, sie ist jetzt immer so nervös. Der Herr Kommerzienrat meint, Sie möchten so liebenswürdig sein, das Stückchen zu Fuß zu gehen. Es ist nur noch fünf Minuten von hier aus.«

Aurelius stieg aus und bezahlte den Kutscher.

Währenddessen plauderte das Mädchen: »Ich wußte nicht, daß es regnet, sonst hätte ich einen Schirm mitgebracht. Ich getraute mich aber auch nicht umzukehren, um einen zu holen, weil ich Angst hatte, ich könnte mittlerweile das Auto verfehlen. Der Herr Kommerzienrat dachte nämlich, Sie kämen mit einem Auto, und deshalb sollte ich bis zur Ecke vorgehen.«

Der Kutscher wandte sein Gefährt und fuhr um die Ecke nach der Innenstadt zurück. Dr. Aurelius hatte sich dem Hausmädchen beigesellt. Ein paar Minuten schritten sie schweigend.

»Dürfte ich den Herrn Doktor etwas fragen?« erkundigte sich das Mädchen in bescheidenem Ton und blieb stehen. »Die Herrschaft ist so zurückhaltend uns gegenüber. Aber man hat doch Teilnahme für das, was im Hause vorgeht. Nicht wahr, Sie kommen um diese Zeit noch, weil der junge Herr gefunden ist?«

»Leider noch immer nicht«, gab Aurelius freundlich Auskunft.

»Ich hörte vorhin – wirklich nicht durch neugieriges Horchen – den Herrn Kommerzienrat telefonieren«, plauderte das Mädchen aus. »Habe ich richtig verstanden, daß man entdeckt hat, wer den armen Herrn Beverstorff ums Leben brachte?«

Der Doktor wunderte sich: »Wieso konnten Sie dergleichen aus den Worten Ihres Herrn heraushören? Ich selbst habe doch nur andeutungsweise gesprochen.

»Ah, Sie, Herr Doktor, waren am Telefon?«

»Allerdings, aber ich erinnere mich gar nicht, daß der Herr Kommerzienrat – – –«

Das Mädchen fiel ihm ins Wort: »Ach, Herr Doktor, unsereins gewöhnt sich an, aus kurzen Bemerkungen der Herrschaft Schlüsse zu ziehen. So ist es auch im Hause kein Geheimnis, daß sie einer Frau auf die Spur gekommen sind, die den Mord verübt haben soll.«

Aergerlich warf Aurelius hin: »Man scheint im Felsingschen Hause vorsichtig mit dem Reden sein zu müssen.«

»Bitte, verraten Sie mich nicht«, bettelte die gesprächige Person. »Dienerschaft wird immer neugierig sein. Es ist doch auch zu sonderbar, was in der letzten Zeit bei uns alles vorgeht. Frau Beverstorff wird in unserem Hause verhaftet – in derselben Nacht verschwindet der junge Herr – der Hausmeister erzählt, er habe im Radio die haargenaue Beschreibung von unserem Herrn Viktor gehört – in der Reisetasche, die plötzlich von Gott weiß woher ins Haus geschneit kommt, findet man ein blutiges Messer. O Gott, es graut einem förmlich vor dem Dienst bei diesen Leuten.«

»Kommen Sie«, befahl Dr. Aurelius und nahm den Weg auf, um dem Geschwätz ein Ende zu machen.

Doch das Mädchen blieb bei seiner zudringlichen Fragerei: »Ist denn die Frau, die den Mord begangen hat, wirklich Frau Beverstorff?«

»Nein«, versetzte der Doktor kurz angebunden.

»Warum hat man sie dann verhaftet?«

»Das müssen Sie die Polizei fragen«, polterte Aurelius in gereizter Stimmung, ungeduldig gemacht durch die Neugier des dreisten Hausmädchens, und er nahm sich vor, den Kommerzienrat gehörig aufmerksam zu machen auf den Dienerschaftstratsch in seinem Hause.

Unentwegt fuhr die Person fort: »Der gnädige Herr soll zur gnädigen Frau gesagt haben, die Frau von einem Kriminalbeamten sei die Mörderin, und Sie, Herr Doktor, hätten das Weibsbild schon aufs Korn genommen.«

»Das ist denn doch zu toll!« zürnte der Doktor los, aufs tiefste empört, weil der alte Herr offenbar nicht reinen Mund hielt.

Während er in seiner zornigen Aufwallung stehen blieb, suchte das Mädchen herauszubringen: »Und nun werden Sie die Frau vor Gericht stellen lassen?«

»Jawohl, sogar morgen schon«, versicherte Aurelius, um die Plappermühle da an seiner Seite endlich zum Verstummen zu bringen.

»Morgen schon«, wiederholte das Mädchen. »Wie entsetzlich!«

Dr. Aurelius schnauzte: »Aber nun vorwärts – der Herr Kommerzienrat erwartet mich!«

»Er wird Sie vergeblich erwarten«, sagte die vermeintliche Dienerin mit schneidender Stimme.

Bevor Dr. Aurelius sich den Sinn dieser frechen Behauptung klarmachen konnte, hatte er den Eindruck, eine Sekunde lang in einen plötzlich vor ihm aufblitzenden Lichtschein zu blicken. Zugleich verspürte er etwas, als ob der Lichtschein ihm wie ein glühend heißer Dampfstrahl ins Gesicht hauche und als ob eine Faust mit schmerzhaft zuschlagendem Griff ihn bei der Brust packte und nach vorn riß. Er konnte der Gewalt nicht widerstehen, taumelte zwei Schritte vorwärts, brach in die Knie und fiel lautlos aufs Gesicht.

In der dunklen Straße verhallte der kurze Knall des aus nächster Nähe auf den Doktor abgefeuerten Schusses. Schattenhaft glitt eine Gestalt um die Ecke, an der eine Viertelstunde zuvor eine Frau den Führer einer Autodroschke abgelohnt hatte.

Als am nächsten Abend die Kunde von einer neuen Bluttat in lodernden Lichtbuchstaben über den nächtigen Himmel wanderte, meldete sich ein Schofför auf der Polizeiwache. Er berichtete, er habe die ganze Nacht hindurch Dienst getan und den Tag über geschlafen, weshalb er erst am Abend etwas über die Tat in der Basteistraße erfuhr.

»Es wäre ja möglich, meine Fahrt hätte mit der Geschichte zu tun«, bekundete er. »Die Person, die ich bis an die Ecke der Basteistraße bringen mußte, kann ich aber nicht genau beschreiben. Man guckt sich doch die Fahrgäste nicht jedesmal erst mißtrauisch an. Die Person hatte ein dunkles Kleid an und einen großen Hut auf. Der Hut – ich glaube, man nennt das eine Schute – sah aus wie ein altmodisches Ding ... oder er saß so, als wäre er der Frau ins Genick gerutscht gewesen. Bestimmt kann ich nicht sagen, in welchen Jahren die Person gewesen sein könnte. Dem komischen Hut und dem langen Nock nach, meine ich, muß es so was wie eine unmodern gekleidete alte Jungfer gewesen sein.«


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