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Blutige Ernte – Der wilde Deutsche – Gnadenhütten – Fort Estill – Crawford – Die Frauen von Bryants Fort – Die Geister der Blauen Lecken – Eine Vision – Wildnis und Heerstraße – Der Dank – Go ahead! – Die alten Freunde
Daniel Boone wandert im Herbst dieses Jahres siebzehnhundertachtzig mit Weib und Kind zurück über die Berge und findet ein vollkommen verändertes, verfremdetes, verpöbeltes Kentucky. Die Bevölkerung verzwölffacht; überall Äxteschall, überall Räumde und Rodung, Rauch und Raub; das Urwild fast ausgerottet, der Rest vom Winter gerafft; Stümper mit Bussole und Kette, Spekulanten, lärmende Einwandererhorden durchschwärmen die entheiligte Landschaft. Hier kann es ihm nicht mehr gefallen; freilich, er selbst hatte diese Menschen geführt und gerufen – aber er hatte sich die Menschen und ihr Werk auch anders vorgestellt.
Am meisten Freude macht da noch die Wiedervereinigung mit den alten Gefährten, Bruder Squire obenan. Mit ihm unternimmt Boone gleich in den ersten Tagen einen einsamen Ausflug. Die Brüder wollen sich ungestört aussprechen, wollen wie einst in guter Zeit allein miteinander jagen, abseits vom Hauf der Vielzuvielen.
Nach den berüchtigten Blauen Lecken geht ihre Reise. Seit Vernichtung der Indianerstädte am Scioto und Miami hat man von roter Haut nichts wieder gesehen und gehört; die Gefahr scheint endlich beseitigt, ungestört birgt der Ansiedler die überreiche Ernte dieses 365 Herbstes. Und nun laufen die beiden erfahrenen Kundschafter geradeswegs in einen Hinterhalt. Ein Schuß knallt, ein brechender Schrei antwortet: Oh Danny . . . Fly, for God's sake . . . Daniel springt zu Hilfe, hat eben noch den erschütternden Anblick des treuen Bruders, todwund in seinem Blut unterm Skalpiermesser eines daraufknieenden Schawanesen – er glaubt zu träumen und ist selbst schon von einem Halbdutzend Indianern umringt. Das erweckt ihn aus gefährlicher Lähmung. Den ersten streckt seine Kugel, den zweiten sein Kolben, den anderen entrinnt er in rasendem Lauf. Drei englische Meilen weit geht die Hatz durch Wald und Rohr; immer wieder finden die Verfolger die Spur ihres hohen Wildes, zwei-, dreimal wird der ermattete Boone aus seinen Verstecken aufgescheucht. Da vernimmt er das nahende Heißhecheln eines Hundes; der also ist's, der die Fährte so sicher hält! Er schießt das Tier nieder und ist gerettet.
Aber froh wurde er seines Lebens nicht. Wie einst der Schatten des armen Stewart, so verfolgt ihn nun die Gestalt des geliebten Bruders, seine Stimme, das zuletzt gesehene gräßliche Bild. Wie sollte ers der jungen Witwe sagen? Er quälte sich mit Vorwürfen. Warum hatte er all diese Menschen, warum seine eigenen Allernächsten her ins Verhängnis gelockt, warum mußten so viele an seiner Seite fallen, was griff der Geist der dunklen blutigen Gründe nicht endlich nach ihm selbst, dem wahren Schuldigen? . . . Wenig fehlte zum Selbstmord; nur der Gedanke an die eigene, unter Mühen und Sorgen eben erst wieder eingeholte Familie, an die schutzlosen Hinterbliebenen des Bruders hielt ihn zusammen. Er blieb aufgespart für eine andere Rache, einen anderen Marterpfahl, für ein bitterer Schicksal denn Sterben. –
Die Indianer, ungebeugt durch ihr Unglück, lauern und schleichen wölfisch im Grünen Rohr; neue Verluste folgen.
Gleich der nächste Schlag trifft wieder in Boones Kreis.
William Bryant, sein Schwager, Gründer und Befehlshaber eines eigenen, später sehr wichtigen Forts im Lexingtoner Bezirk, Bryant bricht eines Frühsommertages mit zwanzig berittenen Schützen zur Fleischjagd nach dem Elkhornfluß auf. Die Gesellschaft teilt sich; Bryant mit seinen Leuten will das Gelände hüben, der junge James Hogan mit der zweiten Rotte soll die Reviere drüben hinab in breiter Schwarmlinie streifen. Für den Abend wird als Treffpunkt die Mündung eines Seitenbaches, des Cane-run, verabredet. 366
Wohlgemut setzt Hogan über den Elkhorn; doch kaum gelandet und im geschlossenen Wald sieht er sich von Indianern verfolgt, verliert den Kopf und nimmt blindlings Reißaus, ihm nach in prasselndem Galopp die Gefährten. Diese schöne Gelegenheit macht sich das ledige Packpferd zunutze, schrammt lustig auf eigenen Huf davon und muß an die Roten verloren gegeben werden. Der Feind bleibt weit zurück; man kann verschnaufen und beraten. Mit der Sammlung kommt die Scham über die kindische Flucht: vor ein paar braunen Schuften so davonzulaufen! . . . Es waren ihrer vielleicht nur ganz wenige; man hätte sie totschießen oder wenigstens mit einem tüchtigen Denkzettel heimschicken können! . . . Also zurück an den Elkhorn und wieder hinüber auf die südliche, die heimische Seite, das ist für alle Fälle doch geraten. Da, richtig, kurz nach Einbruch der Nacht kommen die Indianer nachgebirscht; deutlich hört man sie jenseits murmeln und knistern, und jetzt watet einer aus überhangendem Walddunkel ins mondhelle Wasser herein. Hogans Schuß am Ufer blitzt auf, der Getroffene klatscht schwer in die Flut, die anderen verziehen sich schleunigst. Gut; aber Bryant? Ja, der sitzt jedenfalls drunten am Cane-run wartend und muß nun doch wohl gewarnt werden.
Noch vor Tau und Tag geht es am Fluß hinab nach dem vereinbarten Lagerplatz; dichter Morgennebel webt in den Waldtälern, die Nachtschwalben klagen und spinnen, die jungen Ohreulen jammern . . . Da plötzlich wildes Schießen, brandiger Pulvergeruch, Rufe nach vorne in brauender Dämmerung, dumpfer Galopp, Schatten durch fließende Schwaden vorbei, noch ein paar Schüsse, Stille, der Spuk vorüber . . . Was war das? Die Jäger sitzen ab, behutsam kriechen sie weiter – und haben auf einmal statt der Gefährten die lagernden Indianer knapp vor sich. Gleich sind beide, Rot und Weiß, in Deckung; hinter nebeltriefenden Bäumen hervor knallen die Büchsen; eins von den abertausenden geisterhaft schaurigen Waldgefechten der Grenze. Nach halbstündigem Feuerwechsel weichen die Wilden und verschwinden wie Gespenster im Busch; bei Hogan bleiben ein Toter und drei Verwundete. Aber Bryant?
Nachdem er den ganzen Abend zuvor vergebens gewartet und gesorgt, vernimmt er gegen Morgengrauen das wandernde Klingeln und Klappern einer Schelle. Das kann doch nur Hogans Packpferd sein, denkt er, die andere Abteilung hat sich also offenbar verirrt, das erklärt ihr Ausbleiben. Er sitzt auf, reitet mit einem Begleiter dem Klang entgegen: und schnurgrad mitten hinein unter die Indianer, die 367 den unglückseligen Gaul längst gefangen mit sich führen, ihm aber aus schlauer Berechnung die Schelle am Halfter gelassen. Bryants Gefährte wird leicht verwundet, er selbst erhält eine schwere Kugel. So, den Tod im Leibe, im Sattel schwankend, sprengt er durch den Nebel meilenweit heim nach seinem Fort, rechtzeitig zu warnen, die Verteidigung vorzubereiten, um Hilfe nach Lexington zu schicken. Überflüssige Sorge, die paar Roten kommen nicht. Ein anderer nur kommt, der unerbittliche große Häuptling mit geschwärztem Gesicht. Was Hogan in bleich wallendem Morgengedunst so unheimlich dahingaloppieren gehört, war seines Führers Sterberitt. Bryant verscheidet am nächsten Tage.
Sein Nachfolger wurde der kluge kernige Craigh, trotz geistlichem Beruf und gelehrter Bildung ein Waldkämpe ganz vom Hartholz der alten Urgrenzer. Die Witwe mit ihrem Kindersegen schloß sich dem berühmten Bruder an und blieb fortan bei ihm. Patriarchalisch wuchs so sein Hausstand; wie Squires hinterlassene Familie hat auch diese alle ferneren Schicksale des großen Jägers bis an dessen Ende geteilt. –
In jenen Jahren zeigte sich in den kentuckyschen Niederlassungen ein Mensch, vor dessen Wesen und Weise auch den härtesten Altgrenzern graute; die Frauen wandten sich bei seinem Anblick erblassend ab, die Kinder rannten kreischend und schluchzend vor ihm davon. Dieser Mann, in den Ansiedelungen verrufen und gemieden als der »wilde«, der »einsame Deutsche«, war Ludwig Wetzel, der furchtbarste, der unerbittlichste unter den Indianerwürgern jener Skalpzeit.
Früh erlittenes Unglück, die Hinmordung der Eltern in brandroter Schreckensnacht, die Erfüllung des jugendlichen Vergeltungsschwures hatte ihn zum Tier, zur schweifenden Bestie gemacht. Blutrache war sein ganzes Leben bis zum dunklen Ende. Kurz und knorrig von Wuchs, Haar und Bart verfilzt und verpicht, verstruppt und verwettert bis über den Gürtel herab wuchernd, flößte er dem Feinde schon durch seine böse Erscheinung, mehr aber noch durch seine unheimlichen Künste Schrecken ein. Als Schütze unfehlbar wie der Tod selbst, im Lauf ein Hirsch, an Kräften ein Bär, nahm er es oft ganz allein mit einer Horde von hundert, zweihundert und mehr Indianern auf, indem er sie zur Verfolgung reizte und dann aus der im Flüchten immer wieder neu geladenen Büchse einen nach dem andern auslöschte, ohne je gefangen zu werden. So galt er den abergläubischen 368 Roten schließlich geradezu als ein Matschi-Manitou, als Waldteufel, als der Widersacher, und er bewährte seinen Ruf. In der westvirginischen Heimat allein hatte er früher schon zweiundsiebzig Skalpe geholt, jetzt in Kentucky mag er diese Zahl verdreifacht haben. Nie sah man ihn anders als im grausigen Schmuck frischerbeuteter, triefender Kopfhäute; nie verweilte er gastlich unter irgendeinem Dach; nie beteiligte er sich an einer gemeinsamen Unternehmung der Ansiedler. Er kam, warnte kurz vor indianischer Nähe, wies die Richtung der Spur und verschwand wieder in den Wäldern. Man gewöhnte sich endlich daran, ihn als Verkündiger grauser Ereignisse, als Vorboten drohender Gefahr anzusehen. Wo er sich zeigte, da war der rote Würger nicht fern, da stieg bald düstrer Lohschein aus den Tiefen schwülruhender Sommernacht herauf. Selbst die Pferde sollen bei seiner Annäherung wie vor Blutdunst oder indianischer Witterung geschnaubt und gezittert haben. So wurde er noch zu seinen Lebzeiten zum Gespenst, zur Sage. Sein Ausgang verliert sich dämmernd im Abgrund der Wildnis.
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Diesmal bedeutete das Erscheinen des Unholds Weh und Wunden für ganz Kentucky, für die ganze Grenze. Ihm auf dem Fuße folgten Drangsal, Grauen, Brand und Tod. –
Seit John Logans gerechter Empörung und Cornstalks erbittertem Heldenkampf, seit der berühmten Schlacht am großen Kanawha hatten die Indianer vom Muskingum, Scioto, Miami und Wabash keinen ganz eigenen, keinen wirklich völkischen, keinen allroten Krieg im Geiste Pontiacs mehr geführt. Hinter allen ihren Unternehmungen, Vorstößen, Raub- und Mordzügen stand die kanadische Regierung, stand England mit seinem Geld, mit Kram, Schießpulver und Feuerwasser. Britischer Söldner war der rote Mann, weiter nichts, »coloured labour«, »farbige Arbeit« seine Menschenjagd; verachtetes Werkzeug war er, mißbrauchte Waffe der Macht, der Politik, der entzweiten weißen Habgier. An eine Wiedereroberung des ihm so teuren Grünen Rohres, seiner alten langgeschonten Jagdgründe, dachte er, so oft enttäuscht, so oft unter schwersten Verlusten zurückgeschlagen, wahrscheinlich längst nicht mehr; wenn er nun mit Beil und Bränden in Kentucky oder Westvirginien einfiel, so bezweckte das nichts anderes als eben die dem englischen Auftraggeber so sehr am Herzen liegende Beunruhigung der Grenze und ihrer Siedler, der 369 Beschäftigung, Minderung und Schädigung. Es war die Hinterwaldguerilla des großen Hauptkrieges, wobei sich für den wilden farbigen Söldner jedesmal reiche Gelegenheit zu willkommener Rache, zu Raub und lebendiger Beute bot. Dazu kamen die schönen Prämien, die England für jeden vorgezeigten oder abgelieferten Amerikanerskalp zahlte; die Amerikaner haben darüber viele Entrüstungsworte verloren und in ihrem heiligen Zorn geschickt zu vergessen verstanden, daß ihre eigenen frommen Helden, Boone und Logan und vielleicht noch den oder jenen ausgenommen, unbedenklich mit roten Kopfhäuten sich schmückten und prahlten. Nicht durch seine Trophäen, nur durch seine verbissene Abseitigkeit und den offenen Verzicht auf jede Heuchelei unterschied sich der grimmige deutsche Wetzel von den virginischen Kopfjägern, einem Whitley, McGary oder Greathouse.
Daß seine alten Freunde, die Franzosen, jetzt mit dem verhaßten Amerikaner zusammen gingen, ließ den roten Mann gleichgültig, oder er hat es nicht verstanden; wie die der Katze, galt auch seine Anhänglichkeit dem Ort, dem Hause, nicht der Person. Von Kanada aus hatten sich die Franzosen ins indianische Herz hineingepredigt, hineingepaßt; wer Kanada besaß, besaß den Indianer. Detroit das alte blieb bis zu Tecumsehs Tagen der Mittelpunkt aller indianischen Politik. Vor allen die drei mehr oder weniger ineinander verwachsenen Nachbarnationen der Lenapen (Delawaren), Schawanesen und Miami-Piankeshaws (Twightwees) hielten unter langjähriger, selten unterbrochener Führung der unversöhnlichen Shawnees mit ihrem zähen Haß gegen Amerika bis ans Ende durch. Zu ihnen kamen noch die Wyandots, die Ottawas, die Wiesen-Indianer, andere kleine Völker des Nordens, Rotten unzufriedener Radikalisten von den Peorias, Kickapoos, Sacs und Outagamis im westlichen Winkel; während die großmächtigen Ho-De-No-So-Ni, die »sechs Nationen« der Irokesen, ihre uralt überlieferte Vorliebe für England nur weiter zu pflegen brauchten, um den Amerikanern feind auf den Tomahawk zu sein. So bildete denn das ganze Indianertum vom Champlain-See bis zum Mississippi mehr als je eine geschlossene Front gegen die Marken der Vereinigten Staaten, ihre Burgen, Weiler, Landmesser und Jäger; immer noch, wiewohl westlich am Wabash schon überflügelt, umgriffen, in Flanke und Rücken bedroht, bewachten die rechtmäßigen Herren dieser schönen und reichen Landschaft voll düsterglühender Eifersucht die natürliche Schranke, die ihrer unschuldigen 370 Meinung nach dem Vordringen weißer Unersättlichkeit eine Dauergrenze ziehen mußte: das Tal des heiligen schicksalumwobenen Ohio.
Warum der Indianer gerade den abgefallenen, den neuen falschen Engländer, den Amerikaner so bitterheiß haßte und verfolgte, ist leicht nachzufühlen. Zu Pontiacs Zeiten noch überwiegend Gegner Englands – weil Freunde der Franzosen – hatten die roten Männer erkennen gelernt, daß es eben zweierlei »Agalaschima«, Engländer, gebe, gute und böse, alte und neue, erträgliche und todsgefährliche; jene an Stelle der »schwarzen Väter mit den Kreuzen« im Norden, diese im Süden und Osten. Von Kanada, dem herben Wald- und Wasser-, Jäger- und Fischerlande her sahen sie sich nicht bedroht; niemand konnte dort viel anders als nach ihrer eigenen Weise leben; die Zuwanderung unmeßbar gering, Raum und Nahrung in Fülle für alle, die allgemeine Veränderung seit Jahrzehnten, ja seit einem Jahrhundert kaum irgendwie fühlbar. Anders im Süden. Dort überm Ohio saßen jene betriebsamen, rohen, habsüchtigen Waldbauern, mit denen man sich in unaufhörlichen Kämpfen gerieben und gemessen, die »Langen Messer«, die sich jetzt Amerikaner nannten, diese Amerikaner, die ihn, den Indianer, in den schwindenden Resten seiner Väterheimat unablässig bedrängten, die einen feierlichen Vertrag um den anderen brachen, die ihre Rafftatzen unter dem nichtigsten Vorwand stets aufs neue nach heilig verbrieftem Land ausstreckten, den roten Nachbar erst durch irgendeine unmenschliche Gewalttat reizten und dann für seinen rächenden Gegenschlag mit Besetzung und Wegnahme seiner Jagdgründe, seines Nährbodens, mit Verwüstung seiner Dörfer und Felder bestraften. Und diese Leute gerade, die natürlichen Erb- und Erzfeinde, vermehrten sich jetzt in erschreckendem Maße. Während in Kanada droben alles ruhte, wuchs das kaum geborene Amerika mit reißender Schnelligkeit immer weiter, immer breiter gegen das Indianerland vor, eine Sintflut, vor der kein Mischabazho sich würde retten können. In den letzten fünf Jahren seit 1777 war die weiße Bevölkerung allein Kentuckys von 198 auf nahezu 20 000 Köpfe angeschwollen; konnte der Indianer das auch nicht nachrechnen, er sah es doch, er fühlte es nur allzu deutlich. Was immer Europa, ja das englische Musterreich selbst auswarf, ausstieß, ausspie, schwamm nach dem allbejubelten Paradies der Freiheit und »Menschenrechte«, um hier zu großem Teil weiter nach der Grenze zu strömen, wo man ja für Baumringeln, Waldbrennen, freie Jagd, einbringliche Wildschlächterei und Menschentotschießen auch noch Land geschenkt bekam, sich 371 so ziemlich alles erlauben durfte, untertauchte und von keinem Teufel mehr gefunden wurde. Und erst recht so rechneten jene, denen der östliche Boden zu heiß oder zu eng geworden, das Gesetz zu dicht auf die Haut gerückt, das Geld, der Atem oder ganz einfach der Geschmack an bürgerlicher Ordnung ausgegangen war. Das Galgengesindel zweier Welten versammelte und vermischte sich in den Hinterwäldern am Ohio und verband seine blutigen brutalen Triebe mit dem auferbaulichen Christentum jener bibelfinsteren Eiferer, die ihre roten Nächsten für Amalekiter, Midianiter, Kinder Beelzebubs, für auszutilgendes Giftgewürm, Otterngezücht, für Nichtmenschen erklärten . . . Hatte es früher schon in den Grenzniederlassungen an eisenharten Kämpfern, an wüsten Draufgängern nie ganz gefehlt, so lockten Freiheit und Menschenrechte dem Indianer jetzt tausendfache Bestialität auf den Hals. Da hatte es England mit seinem Schüreisen, mit seinen Geldern und Geschenken leicht. –
Auch jetzt noch, nach Lord Cornwallis' entscheidendem Zusammenbruch am 19. Oktober 1781. Den großen Krieg hatte die Katastrophe von Yorktown beendet, den kleinen lange nicht. Im Gegenteil. Der Kentuckyer bekam vom offiziellen Siege gar nichts zu fühlen, außer daß von Washingtons entlassenem Heer ganze Regimenter mit Weib und Kind einmarschierten, vom zugesicherten Veteranenlande sofort Besitz zu ergreifen. Vergebens drang Clark auf eine Unternehmung gegen das ungemindert bedrohliche Detroit; niemand wollte etwas von weiteren Anstrengungen hören. Es war ganz dasselbe, als ob Deutschland Paris genommen und seine Ostmarken immerwährender Kosakenguerilla offen gelassen hätte. Das alles sah und wußte man in London so gut wie in Quebec, Montreal, Detroit; Girty und andere Agenten reisten mit starken Waffenstapeln, mit Pfunden und Rum von Dorf zu Dorf, von Stamm zu Stamm, von einem Ratsfeuer zum anderen, den englischen Stahl daran zu schmieden. Erst stießen sie auf dumpfe Zurückhaltung; der rote Mann selbst glaubte nicht mehr recht an die zerfetzte Fahne, in deren Dienst er immer nur gelitten und von seinem Lebendigen zugesetzt. Aber dann auf einmal trat ein Umschwung ein. Wohin die Agenten kamen, fanden sie roten und schwarzen Wampum im Umgang, geschliffene Beile, bemalte Frühlingspfähle, die Hänptlinge in finster verhaltener Aufregung, die jungen Krieger in heißer Unruhe, die Weiber bei emsiger Zurüstung von Mundvorrat. Ihre Gaben waren willkommen, das Feuerwasser hob noch die Stimmung; allein es bedurfte all dessen so wenig wie 372 vieler Worte. Auch ohne Englands Gelder und Gewehre wären die Indianer jetzt losgebrochen, wie vor acht Jahren um ihres Logan willen, wie neunundneunzig Jahre vor Logan mit »König Philipp« von Pokanoket; nicht als gedungene Mordbrenner, nicht zu erkauftem Söldnerkrieg, sondern aus eigener Glut und verzweifelter Wut heraus zu völkischem Rachesturm, zur Abrechnung.
Wieder war ein schauerliches Verbrechen, ein Meinwerk von unerhört feiger Scheusäligkeit an ihrer Rasse verübt worden: und zwar von Amerikanern. – – –
In drei stillen Walddörfern um den Muskingum, Gnadenhütten, Salem und Schönbrunn, lebten friedlich und fleißig die Gemeinden der sogenannten Morawen, lenapischer Indianer, die von den Heidenpredigern der »mährischen Brüder« – Herrnhuter – dauernd und mit Glück für das Christentum ihrer Sekte gewonnen worden waren. Sie pflegten ihre Gärten und Äcker, unterwiesen ihre Kinder in der empfangenen Lehre, enthielten sich des Feuerwassers und heiligten den gebotenen Ruhetag. Vereinzelt unter ihren wilden Stammes- und Rassebrüdern, vorgeschoben ins einstweilen noch herrenlose Land zwischen britischem Norden und amerikanischem Süden, wehrlos »zwischen den geöffneten Rachen zweier mächtiger böser Götter«, wie der Halbkönig der Wyandots es ihnen treffend verbildlichte, hatten sie in all den bunten Wirren der verflossenen Jahre weder rechts noch links gesehen, strengste Ruhe gewahrt und in blindem Vertrauen auf die Unverletzlichkeit ihrer klaren Unschuld häufigen Warnungen zum Trotz an ihren liebgewordenen, aber gefährdeten Wohnsitzen festgehalten. Niemand taten sie etwas zuleide, kein Skalphaar krümmten sie, jeder wohlwollende Christ mußte an diesen reinen, freundlichen Mitmenschen seine Freude haben. Aber gerade ihre Friedseligkeit wurde ihnen verargt, mißdeutet, zum Verderb; Schillers Wort vom bösen Nachbar hat sich an ihnen exemplarisch bewährt.
Die Indianer, Lenapen, Schawanesen, Irokesen zumal, verachteten und verhöhnten sie als Abtrünnige. Die Engländer ärgerten sich über den stumpfen unbrauchbaren Keil, den Fremdkörper in ihrer roten Front und beargwöhnten die mährischen Dörfer als einen gegebenen Stützpunkt amerikanischer Vorstöße gegen Kanada. Die amerikanischen Grenzer vollends haßten die Morawen wie alle anderen Indianer, haßten sie mit dem ganzen gründlichen Ingrimm blind verallgemeinernder Roheit: eben auch rotes Gewürm, Diebe, Hehler, 373 Ungeziefer, das man gleich der übrigen Brut zertreten, mit Stumpf und Stiel ausrotten müsse.
Kam noch dazu, daß die unseligen Morawen ausgerechnet von Pennsylvanien aus bekehrt worden waren. Die alte virginische Abneigung gegen die geschäftstüchtigen Bürger des frommen Kaufmannsstaates hatte sich seit der selbstsüchtigen Meuterei einiger pennsylvanischer Regimenter bis zur Weißwut erhitzt. Immer und überall trat der verdammte Quäker, derselbe Quäker, der seine darbenden weißen Mitchristen in ihrer Not schamlos auswucherte, gegen die Grenzer für den lieben Bruder Indianer ein. Und warum? Nur des Nutzens, des billigen Pelzeinkaufs wegen; nur darum, weil er die indianische Kanaille als Opfer seines verführerischen Feuerwassers, weil er sie zu einbringlichem Mißbrauch brauchte, weil es ihm dienlicher schien, das rote Fell über die Ohren zu ziehen statt es zu gerben oder mit gesunden Kugeln zu durchlöchern! . . . Aber natürlich, zu Philadelphia im warmen Kontor, da wußte man nichts von den grellen Schrecken der Hinterwälder, da saß man hübsch behaglich mit ungefährdeter Perücke hinterm erfreulichen Hauptbuch, da wurde einem kein Dach überm Kopfe in Brand geschossen, da konnte man leicht Indianerpapa spielen und zum Daseinskampf anderer gelassen die Hände reiben . . . Das war die Stimmung, das allein entschied gegen die Morawen.
Einmal schon, im Sommer des Jahres 1779, waren die armen harmlosen Dörfler mit knappem Zufall dem Verhängnis entgangen. »General« Sullivan verheerte eben damals mit starkem Aufgebot das reiche Gebiet der Irokesen, zur Vergeltung für die Blutbäder von Wyoming, Cherry-Valley – Kirschental, in Nähe des durch Coopers Romane und Wohnsitz berühmt gewordenen Quellsees des Susquehannah, des Otsego – und im Schoharie-Tal. An die vierzig Siedlungen wurden den »sechs Nationen« zerstört, über 160 000 Bushel (rund 50 000 Hektoliter) Maiskorn in ihren Speichern verbrannt, ihre Felder verwüstet, ihre sehr sorgfältig gepflegten Obstpflanzungen umgehauen. Mit solcher Bestrafung seiner wildwehrhaften Königstreue bewiesen die Amerikaner dem alten Herrn des Landes ihre sittliche Überlegenheit, ihr besseres Recht. Gleichzeitig nun mit diesem Ruhmeszug brach »Oberst« Broadhead, Befehlshaber von Fort Pitt, an der Spitze wüster Grenzerbanden in die Jagdgründe der Lenapen am Muskingum ein. Ihre Dörfer gingen in Flammen auf, sechzehn herausgegriffene Häuptlinge opferte der Führer sogleich dem Haß seiner viehischen Miliz, die übrigen Gefangenen wurden nach und nach auf 374 dem Transport niedergemacht. Nicht gesättigt von soviel Blut wollten die Grenzer auch noch über die im Rückwege liegenden Morawengemeinden herfallen: let's have some more bucks skinned! . . . Dagegen hatte Broadhead nun doch starke Bedenken; aber nur mit größter Mühe konnte er die wölfische Meute von weiterem Würgen zurückhalten. Knurrend, scheeläugig, mit gesträubtem Kamm fügten sich die Bestien. Für diesmal.
Broadheads Nachfolger, Oberst Gibson, human und selten anständig, meinte es ehrlich gut mit den Morawen. Immer wieder versuchte er sie zur Aufgabe ihrer bedrohten Wohnsitze zu bewegen, zur Niederlassung im Bereich seiner schützenden Macht, im friedfertigeren Pennsylvanien zu überreden, böswilliger Verwechslung zu entziehen: – vergebens, die roten Brüdergemeinden, von ihren wackeren aber weltfremd gedankenlosen Hirten geleitet, vertrauten nun einmal auf Gott und vergaßen darüber der Verruchtheit seiner Ebenbilder. Sie hatten nichts verbrochen, weshalb sollte man sie kränken? . . . Sie waren niemand im Wege, weshalb wollte man sie vertreiben? . . . Die Antwort auf diese unschuldige Frage ist ihnen so wenig je gegeben worden wie irgendeinem Opfer des Triebes zur Macht. Über den Ohio her windeten und heulten die virginischen Bluthunde. . . .
Gleich den Engländern zum Beispiel waren sie entschieden lästig und verdächtig. Sie verständigten sich mit ihren Verbündeten und gingen an die Arbeit. Eines schönen Indianersommermorgens ist die Heimsuchung da. Der große Häuptling »Tabakspfeife« von den Lenapen und der Halbkönig der Wyandots leiten die Zwangsräumung, während ein englischer Hauptmann mit dem Sankt-Georgskreuz Militärbehörde spielt. Die unglücklichen roten Herrnhuter werden von ihren wilden Brüdern zu gründlicher Entchristung und Entlausung nach den Wigwams am Sandusky, dem damaligen Hauptquartier des Indianertums gebracht; die betrübten Missionare schafft der unbarmherzige Brite nach Detroit. Gnadenhütten, Salem und Schönbrunn stehen leer; in den verlassenen Äckern hegt sich der Elk.
Einige wenige Morawen hatten sich der Zwangsverpflanzung zu entziehen gewußt; ihrer nahmen sich jetzt die Amerikaner an. Ein Trupp Miliz unter dem ehrenwerten »Oberst« Williamson stöberte die Verschüchterten in ihren Hütten auf und verschleppte auch sie, nach der entgegengesetzten Seite, nach Fort Pitt zu Oberst Gibson. Der gute Mann hörte die flehentlichen Bitten der armen Teufel und gab sie kurzerhand wieder frei. Mochten sie denn in Gottes Namen zurück 375 an den Muskingum, in ihr Verderben wandern: hier war nichts zu machen.
Die Tragödie naht ihrem Ende. Ausgerechnet an demselben Tage, da Gibson die Morawen heimlaufen ließ, wurden in der weiteren Umgebung von Pittsburg ein paar der üblichen kleinen Raub- und Brandmorde begangen. Natürlich, da hatte man's ja! . . . Da sah man, was von der verdammten Gefühlsduselei kam, wohin das führte! . . . Der Grenzerpöbel schäumte, kläffte, forderte Rechenschaft: am vergossenen Blute war Gibson schuld, und Williamson auch – beide viel zu zahm, farbigen Kötern schlägt man am besten gleich das Beil über die Nase, damit sie nicht mehr beißen, fertig! . . . Every Indian is a bad Indian, a dead Indian only is a good Indian – jeder lebende Indianer ist ein Schuft, gut allein der tote . . . Gibson mit seinem hohen Charakter spuckte freilich auf das belfernde Gesindel; aber der feig ehrgeizigen Williamson bangte um seine Beliebtheit, sein Amt, er nahm sich die Lektion zu Herzen. Je breiter in einer Pöblokratie der Hauf, desto niedriger die Instinkte, denen man zu schmeicheln hat. Noch geschah nichts.
Nichts geschah, bis auch die anderen Morawen, hundertfünfzig an Zahl, nach ihren verödeten lieben Dörfern am Muskingum zurückkehrten. Das war im Eismonat 1782. Sie hatten es unter ihren entfremdeten Brüdern einfach nicht mehr ausgehalten. Christen und Ackerbauer wollten sie sein, ihren Frieden in Gott haben, weiter nichts; die ursprüngliche Art war ihnen verloren gegangen, der Wigwam mit den Skalpen im Rauch nicht mehr ihre Heimat. Traurig, hohl und schwach kamen sie nach schauriger Winterwanderung vom fernen Sandusky her an, aber das Wiedersehen mit den Zurückgebliebenen, mit den Stätten ihres stillen Glücks erfüllte sie mit neuer Kraft und Zuversicht. So schickten sie sich denn gleich an die notwendigste Arbeit, Wiederherstellung der Hütten, Wiederbestellung der Gärten und Felder, die das Waldgetier abgehaust. Früh brach in diesem Jahre der Frost, der Schnee zerrann, im Ahorn stieg der süße Saft, alles konnte noch gut werden.
Es wurde nicht gut. Die schöne Witterung hatte ein paar kleine unruhige Horden von den Stämmen am Sandusky auf den Raubkriegspfad herausgelockt. Die Geschichte vom Herbst wiederholte sich; es war dasselbe wie mit dem alten Cornstalk damals zu Point Pleasant. Mehrere Farmhäuser gingen in Loderasche auf, die überfallenen Familien wurden besonders scheußlich getötet, einige der Opfer an 376 begangenen Wegen zur Schau und Vergeltung gepfählt, wie die Roten es so schön von den Weißen gelernt. Das war die Rache für die hingerichteten sechzehn Häuptlinge.
Die ganze westvirginische Grenze bis nach Pittsburg hinauf widerhallte von einem einzigen Wutschrei. Da hatten die Morawen ihre schmierigen Hände im Spiel, das elende Heuchlerpack! . . . Daran war kein wahres Wort, richtig nur das eine, daß die armen »mährischen Brüder« in ihrer Schwäche auch jene Mordbrenner bewirtet und beherbergt hatten. Was sollten sie tun? . . . Wehrlos heimatlos zwischen Rot und Weiß durften sie sich's mit keinem verderben. Die Indianer mißachteten sie, die Weißen glaubten nicht an ihr Christentum. Wem sie sich feindselig erzeigten, der machte sie kalt, wem sie nicht Bruder sein wollten, der schlug ihnen den Schädel ein. So erfüllte sich ihr Geschick.
Schon jene Bande hatte auf eiligem Rückzug flüchtig einkehrend die Morawen vor drohendem Ausbruch der Grenzer gewarnt – ihnen sei nicht zu helfen, wären sie nur lieber ihren Vorfahren treu und Indianer geblieben, da säßen sie nun nicht zwischen zwei Feuern. Das verängstigte Volk nahm die Mitteilung stumpf ergeben hin; mochte schon geschehen was wollte, ihnen war alles gleich, vielleicht fand sich wenigstens im Himmel der Weißen droben bei ihrem Großen Geist ein dauernder Platz für sie. Ein vorüberkommender Jäger, der harmlosen Gemeinde wohlgesinnt, wiederholte die Mahnung, mit dem gleichen Erfolg. Endlich schickte noch Gibson in seiner redlichen Sorge von Pittsburg aus einen reitenden Boten nach Gnadenhütten und Salem: – zu spät, ein Heer von neunzig oder hundert johlenden Grenzern lagerte da, aber die mährischen Dörfer waren ein Sumpf von Blut und Asche.
Williamson der Held hatte das Meisterstück vollbracht. Mit einer Horde der wüstesten Schlächter und Schreier war er zur Vollstreckung des Volksbegehrs nach dem oberen Muskingum marschiert; ein Hauf von Unmenschheit, dagegen all die Kroaten, Schweden und Marodebrüder des Dreißigjährigen Krieges als Heilige erscheinen. Gnadenhütten wurde wie zum Hohn auf seinen Namen als Richtstätte ausersehen. Unter der Maske freundlichster Absichten hielten die Würger sich mehrere Tage lang ganz vertraut unter ihren Opfern auf, bis auch die wie zu einem Friedensfeste herbeigerufene Gemeinde von Salem eintraf. Nur die Schönbrunner Morawen schöpften rechtzeitig Wind und entwichen. 377
Die größere Zahl der todgeweihten Roten hatte man immerhin schön beisammen. Plötzlich, mitten aus der Gemütlichkeit heraus, werden sie in zwei Hütten getrieben und ohne weitere Erklärung eingerammelt. Draußen beraten die weißen Wilden; achtzehn nur stimmen für Gnade, all die siebzig oder achtzig anderen für unverzügliches Blutgericht. Die achtzehn Gerechten zogen sich unter Anrufung Gottes als Zeugen ihrer Unschuld von der tobenden Mehrheit zurück; aber von Gottes Gaben ehrlichen Gebrauch zu machen, zu mannhaftem Schutz der Wehrlosen waren sie viel zu feig. Einer von ihnen las vor dem Dorfe noch einen kleinen Indianerbuben auf und nahm ihn mit sich; das war alles.
Die Henker traten zu den eingepferchten Morawen ein und verkündeten ihnen ihr Schicksal. Darauf waren die Märtyrer schon gefaßt. Nicht um ihr verwirktes, allen lästiges Leben, nicht um Erbarmen oder Gehör flehten sie, nur um eine Stunde Frist zu letzter Sammlung, Andacht, Aussöhnung und gegenseitiger Verzeihung. Jeden wirklichen Menschen hätte solche Bitte gerührt; Wunder genug, daß man sie überhaupt gewährte. Drinnen erklangen feierlich die Choräle, wie die Missionare sie ihre roten Kinder gelehrt; draußen warteten kalt die Messer und die Beile, eines Schusses Pulver hielt man die farbigen Hunde nicht wert. Die Zeit lief ab; zum zweiten Male wurden die Türen aufgestoßen, dort standen die Schlächter mit nacktem Stahl. Die Gemeindegeschwister umarmten und küßten einander, sanken in die Knie und beugten demütig die Nacken. . . . Sechsundneunzig Menschen, Christen, Männer, Frauen und Kinder verhauchten so unterm metzelnden Eisen; mit ihren letzten Atemzügen erwachte in ihnen die eingeschläferte indianische Trotznatur; gleich ihren wilden Brüdern am funkenumstobenen, pfeilumschwirrten Marterpfahl starben sie stoisch als Helden. Über ihren weißgebluteten Leichen gingen die »Gnadenhütten« in Flammen auf. . . .
Es ist die grauenvollste, die ergreifendste, die empörendste Szene in der blutgeschriebenen, von eingetrocknetem Braunblut starrenden Chronik der Grenze. Keine Scheußlichkeit der französischen Bestialjahre übertrifft diese an Schrecken und Schuld. Mit solcher Heldentat, mit dem vielsagenden Hundertsatz von achtzehn verlogen lauen Gerechten auf siebzig oder achtzig Schwerverbrecher feierte man den Sieg der Freiheit und Menschenrechte über das alte, verderbte, tyrannische Europa. . . . 378
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Die Grenzer am oberen Ohio frohlockten; die Engländer triumphierten; die Indianer erglühten in düsterem Grimm und schwärzten ihr Antlitz zu langem Blutrachekrieg.
Nun hatte Girty, hatten britisch Feuerwasser und Geld leichtes Spiel. Die sechsundneunzig unschuldigen Häupter von Gnadenhütten kosteten die Mörder, ihre Familien, ihr Volk mindestens das Fünffache an Skalpen, Ströme von Blut und Witwentränen. Hatten sie die zahmen, schwachen Brüder Zeit ihres Lebens auch verachtet, so einfach viehisch umbringen ließen die Indianer sie nicht. So also lehrte man das Heil des Glaubens an jenen Gottmenschen am Marterpfahl, indem man seine treuen Anhänger erwürgte! . . . Was die Stämme am allertiefsten entrüstete, war die allgemeine Billigung der feigen Untat, der helle Jubel, das Schweigen jeglichen Tadels, das Ausbleiben jeder Untersuchung und Ahndung. So erhoben sie sich nun zu jahrelangem Verzweiflungskampf um ihr Dasein, Recht und Land, und wenn sie auch am Ende der Masse und ihren Mitteln erlagen: – mit ihren letzten Kräften nahmen sie Vergeltung, fügten sie Weh und Wunden zu bis zur Sättigung. –
Kein einziger Kentuckyer hatte am Gemetzel von Gnadenhütten teilgenommen. Der Ruhm dieser Schmach gebührt einzig den Westvirginiern, besonders den Ansiedlern jenes Landstriches am Ohio, der seiner schmalen Form wegen »der Pfannenstiel« genannt wird. Allein die Wut der Indianer unterschied nicht; die Kentuckyer traf der allererste Schlag.
Fünfundzwanzig Wyandots unter Führung eines Unterhäuptlings brandschatzten die Umgebung von Fort Estill, unfern Boonesborough, raubten Weidevieh, entführten einen Negersklaven, töteten und skalpierten ein Mädchen im Angesicht der Besatzung. Estill, der Wehrmeister des befestigten Platzes, machte sich mit gleichfalls fünfundzwanzig Schützen zur Verfolgung der Plünderer auf und erreichte sie an einem schmalen Waldbach, wie sie gerade jenseits den Hang erstiegen. Das jetzt entbrennende Feuergefecht wurde geradezu klassisch für den Grenzkrieg und wegen seiner sauberen Ausführlichkeit hochberühmt in den Annalen der Wildnis. Jeder Schütze hüben und drüben stand oder kauerte mit angeschlagener Büchse hinter einem schützenden Baum und lauerte nur darauf, daß jenseits eine Handbreit lebendigen Zieles sichtbar würde. Es war keine Schlacht, es war eine Belagerung, eine Art Jagd, ein Zweikampf zwischen Jägern. Der Häuptling der Wyandots war gleich anfangs schwer verwundet 379 worden; aber mit mächtiger Stimme ermahnte er seine Krieger zu kaltem Widerstand. Wirklich schossen die Indianer diesmal ebenso sicher oder noch besser als die Weißen; Estill verlor Mann um Mann, ein ungeschickter Umgehungsversuch durch ein Seitental wurde vom klugen Häuptling sofort bemerkt und mit siegreichem Nahangriff erwidert. Die Kentuckyer wurden geworfen und verfolgt, Estill fiel, weitere neun seiner fliehenden Leute blieben mit ihm liegen, vier wurden verletzt, sechs nur entkamen mit heiler Haut. Selbst die wutglühenden Grenzer stellten dem Wyandotführer das Zeugnis höchsten Heldenmuts und überlegener Waldkriegskunst aus. –
Etwa zur selben Zeit versammelte sich im alten »Mingogrund« am oberen Ohio eine Ansiedlerbande von nicht weniger als vierhundertachtzig Mann. Ziel: die Indianerdörfer am Sandusky; Zweck: Züchtigung und womögliche Ausrottung des roten Gewürms; Anlaß: ein paar Überfälle, die jene Stämme zur Rächung der armen Morawen unternommen. Immer dasselbe, Blut um Blut, Rache um Rache.
Zu diesem Hauf gehörten auch die Schlächter von Gnadenhütten. Das bequeme Gemetzel hatte ihnen Mut gemacht. Die Schönbrunner Morawen hatten sich nun doch unter den wildfreien Brüdern niedergelassen; beim Blaßgesicht war kein Quartier, ob man nun zum alten Herrn des Lebens betete oder zum Gekreuzigten, der angeblich die Menschheit zur Liebe erlöst. . . . Nun sollte es auch diesen Entkommenen noch an den Kragen. Held Williamson war ohnehin wieder mit von der Partie. In Ansehung seiner hohen menschlichen Verdienste begehrten ihn viele zum Führer, allein bei der Wahl lief ihm »Oberst« Crawford mit ein paar Mehrstimmen den Rang ab. . . .
Durch dichte, stille Wälder, dann durch die Weiten wasserreicher Prärien, durch Augehölz und Moor ging der Marsch. Die Indianer wußten sehr wohl, wer da kam. Der Grenzerpöbel war nicht zu bändigen; aus reinem Übermut knallte er nach allem Möglichen und Unmöglichen, nach allem, was da krauchte und flog. Das unheilverkündende Geschrei aufgescheuchter Kraniche begleitete das wilde Heer. Und das sollte ein Feldzug gegen die hundertäugige, allhörige Rothaut sein.
Die ersten Wyandot-Dörfer lagen verlassen. Einige Stunden später, auf einem öden Torfmoor, stieß Crawford gegen unerwartet starken Widerstand. Mit den tapferen Wyandots hatten sich Lenapen, Schawanesen, Ottawas, kanadische Reiter aus Detroit und 380 Waldläufer vereinigt; nach verlustreichem Geplänkel mußte der Amerikaner sich zurückziehen. Gleich verging dem Gesindel die Lust und die Courage. Den ganzen folgenden Tag fletzte das faul und mürrisch im Kamp herum und wartete ab, daß der Feind sich verstärkte und mit einbrechender Dämmerung von neuem angriff. Jetzt riß das Pack Hals über Kopf aus und zum Teil gerade ins dunkle Moor hinein. Crawfords ganze Bande wurde zersprengt, er selbst gefangen, Williamson blieb die Ehre, die übel zugerichteten Reste dieser virginischen Kreuzzügler zu sammeln und recht begossen nach Hause zu führen. Etwa siebzig Mann blieben vermißt, viele waren verwundet, die meisten gründlich ernüchtert. So endete dieses stolze Unternehmen.
Das Los der Gefangenen war ihren Sünden gemäß grauenvoll. Die vornehmen Wyandots machten mit ihrem Anteil wenigstens kurzen Prozeß: sie schlugen die Leute tot. Anders die grausamen Lenapen und Schawanesen. Bei ihnen stand der gute alte Marterpfahl noch in hohem Ansehen, und diesmal sollte er zu seinem Rechte, sollte er zu festlichen Ehren kommen. So viele auserlesene Bratopfer hatten die Indianer sich um elendes Feuerwasser abschwatzen lassen; das gab's sobald nicht wieder, die vermittelnden Engländer bekamen eine kalte Antwort. Die Fehde, welche die Stämme den Langen Messern geschworen, war eine völkische, keine erkaufte und bestellte; völkische Blutrache aber kennt keine Gnade.
Crawford, der persönliche Freund Washingtons, wurde furchtbar gefoltert. Simon Girty, eben bei den Lenapen, sah in indianischer Ruhe zu; zum Versuch eines Loskaufs zeigte er nicht die geringste Neigung, jedenfalls erkannte er die Zwecklosigkeit aller Unterhandlungen. Was sein Nebenbuhler Williamson an den Morawen verbrochen, mußte der unglückliche Oberst mit tausend Wunden, mit jedem Nerv seines Lebens büßen. Die Lenapen spickten ihn mit Pechpfeilen, stäupten ihn mit brennenden Reiserbesen, schossen ihm Pulver ins offene Fleisch, räucherten ihn, warfen ihm glimmende Kohlen unter die nackten Sohlen. So wankte er geröstet, von Stacheln starrend, betend und murmelnd an langer Lederleine um den Pfahl, bis er nach zweistündiger Qual hinsank. Die Indianer skalpierten ihn und bestreuten die grausig pulsende Wundblöße mit lebendiger Glut. Noch einmal erhob sich der entstellte Körper, taumelte ein paarmal im Todeskreise umher durch den heißbeizenden Qualm und brach zusammen. . . . Das war für jene sechzehn Häuptlinge, das für die mährischen Dörfer, das für den tausendfältigen Bruch des Treu- und Freundesschwures, den 381 einst die weißen schlangenfalschen Fremdlinge dem alten gastfreien Tamenund geleistet. . . . Dabei kam Crawford immer noch gnädig davon; es gab Stämme, die ihren Opfern die nackten Sohlen mit glühend gemachten Eisennägeln beschlugen, andere, die den Gefangenen die Bäuche mit knotenbesetzten Schnüren aufsägten. . . .
Damals geschah es, daß jener Slover, der viele Jugendjahre lang selbst Wahlindianer gewesen, seinen Wächtern entsprang und nach elend entbehrungsvoller Flucht als hohles Gespenst Wheeling am Ohio erreichte. Auch ein gewisser Knight, den die Schawanesen seiner Kleinheit und Schwächlichkeit wegen verachteten und vielleicht doch verschont hätten, riß aus und kam nach mancherlei Irrfahrten mit gesträubtem und ergrautem Haar in den Ansiedlungen an. Alle anderen wurden mit Muße todgemartert. –
In Kentucky drüben herrschte der massenhaft zugewanderte Pöbel. Die alten, harten Pioniere hatten kein Gewicht, keine Geltung, kein Wort mehr, sie mußten schweigen, das vorlaute Neugesindel wußte ja alles besser. Einzig Clark genoß noch einiges Ansehen, aber er hatte zum Generalstitel keine drei Soldaten, er hatte seine Traumstadt Detroit nicht nehmen dürfen, er hatte nichts zu tun, andere, jüngere wuchsen neben ihm auf, er ergab sich düsterem Suff. Selbst der alte, einst so streng gepflegte Kundschafter- und Wächterdienst verfiel; man war in einem freien Lande, man war freier Bürger, jeder tat und ließ, was ihm gerade beliebte. Niemand mehr stand in schwülatmender Sommernacht droben im balkenen Turmstübchen und spähte durch die Schießluken, Faust am Kolben, Pulver auf der Pfanne, über den Schimmer der flüsternden Maisfelder in die dumpfe Waldwildferne hinaus; niemand, der wie ehemals in täglichem Begang den Sand der Furten, die Kiesbänke und Lehmböschungen der Ufer, den Wuchs auf den vergrasenden Büffelstraßen, die Umgebung der Salzquellen abgespürt und beobachtet hätte. Martin hatte geheiratet, war bequem, heimsässig und wirtschaftlich geworden; die anderen Altgrenzer hatten Arbeit genug an der Verteidigung ihrer teuer eroberten, hart behaupteten Scholle gegen das schwarmweis hereinflutende Landmesser- und Landfresserpack, an der Förderung ihrer Pflanzungen und des angebahnten Handels nach New Orleans. Sollten sie da auch noch für die Untauglichen, die Unerwünschten, die Vielzuvielen auf Posten stehen und darüber die Ernte ihrer Aussaat vernachlässigen? Sie, die Urkentuckyer, waren immerhin noch Engländer gewesen, Engländer mit ihrer Zucht und ihren Hemmungen; die da jetzt reden und 382 regieren, ihnen den Platz streitig machen, sie verdrängen und hinwegschwemmen wollten, waren Vollblutamerikaner, kriegsverwilderte Canaille, Hefe, Abschaum, das neue Geschlecht. . . . Go ahead! . . . Fort mit dem alten Eisen! . . . Das bewirken sechs Jahre Republik.
Und doch hätten die Dörfer im Grünen Rohr der Disziplin gerade jetzt mehr denn je bedurft. Die Anzahl prahlender Hänse schützte nicht vor ernster Gefahr. Man sollte es bald verspüren. –
Eines Tages im heißen Monat August wird Fort Hoy nahe Boonesborough von plündernden Wyandots belästigt. Kapitän Holder, der Platzhauptmann, rafft in Hast zwei Handvoll Reiterschützen zusammen, setzt den Indianern nach, ereilt sie an den verrufenen Blauen Lecken und wird erbärmlich geschlagen. Die Kunde gelangt nach Bryants Fort. Eben will man zur Unterstützung der Nachbarn aufbrechen, man öffnet die Tore zum Ausritt: – und sieht und hört sich selbst von mehreren Hundert heulenden und schießenden roten Kriegern eingeschlossen. Schawanesen, Miamis, Piankeshaws, Lenapen, Ottawas, alles in allem über ein Halbtausend wolfsgrimmer Belagerer; dazu noch jene Wyandot-Huronen, kanadische Schützen und Waldläufer, unter den Bandenführern Caldwell und dem berüchtigten McKee, und als Oberleiter des ganzen Unternehmens – Simon Girty. Eine Stunde später, und die starke Horde hätte das Fort von allen waffenfähigen Männern entblößt, hätte wehrlose Weiber und Kinder angetroffen.
Craigh der vorbeigelungene Pastor und hervorragende Grenzer, traf sogleich in kalter Ruhe seine Anordnungen. Die denn doch sehr bedenkliche Lage verschaffte ihm Gehorsam. Türme und Schießscharten wurden ausgiebig besetzt, geladene Reservebüchsen bereitgestellt, ein Dutzend junger Waghälse zum Scheinausfall, zwei der kühnsten Männer zum Eilbotenritte nach dem unfern südlichen Lexington bestimmt. Vor allem aber Wasser, viel Wasser, Wasser auf guten Vorrat! Mit allem, Gewehren, Schießbedarf, Mundvorrat war das Fort reichlich versehen; es zählte vierzig große Blockhütten, neunzig Schützen, im ganzen vielleicht dreihundert Einwohner, es hatte seiner vorgeschobenen Schlüssellage gemäß die stärksten Befestigungen; nur an einem Innenbrunnen fehlte es, man schöpfte draußen aus einem Quell. Ohne Wasser aber war an längeren Widerstand nicht zu denken.
Girty und Craigh überboten einander an wilder Strategie. Ein kleinerer Trupp von Indianern sollte die Besatzung zu einem Ausfall 383 reizen, die Hauptmacht dann auf der entgegengesetzten Seite mit aller Gewalt angreifen. Die stärkere Abteilung verbarg Girty im Gehölz an eben jenem Quell; der vom Turm umspähende Craigh sah dortherum keinen Feind, also erst recht viele versteckte Feinde, erriet, und benutzte das zu seinem schnellen scharfen Plan. Die Roten in der Deckung würden ihren Hinterhalt nicht vorzeitig verlassen und verraten; folglich konnten die Weiber unbesorgt Wasser holen. Weiber vor! . . . »Ihr geht jetzt und schöpft jede ihre zwei Eimer voll. Es geschieht euch wahrscheinlich nichts. Die braunen Teufel haben es nicht auf euch abgesehen, sondern auf uns. Also vorwärts jetzt, es eilt.« Die Frauenschaft erblaßte, die Zungenfertigsten begannen zu zetern. »Warum wir? . . . Wir sind auch nicht schußfest. Die Indianer machen keinen Unterschied. Bei solcher Gefahr ist das eure Aufgabe. Und ihr wollt Männer sein?« . . . »Jawohl sind wir Männer und befehlen. Ihr geht jetzt. Verteidigen sollen wir euch mit Blut und Leben und ihr wollt für uns nicht einmal diesen Gang wagen, um uns mit dem Notwendigsten zu versorgen? Schämt euch. Denkt an Mrs. Calloway in Harrodsburg und Elisabeth Zane mit dem Pulverfaß zu Wheeling. Welcher wollt ihr gleichen?« Das wirkte. Craigh verstand überhaupt keinen Spaß. Das Wasser wurde geholt, die Lauerer im Gehölz rührten sich nicht. An den Weibern lag ihnen wirklich nichts, die waren ihnen ohnehin sicher. Mit bebenden Händen, von unsichtbaren indianischen Augen umglitzert, füllten Mütter und Mädchen ihrer Reihe nach die Eimer. Auf dem Hinweg war es von Schritt zu Schritt stockender gegangen, zurück, den Tod im kalten Nacken, drängte und sputete sich die Herde, und zum Schluß artete die Beschleunigung in Hast aus. Das Wasser spritzte, die Röcke flogen, tief in den zitternden Knien schlugen die Herzen. Dennoch lief alles soweit gut ab. Woran aber dachten die Männer zu allererst? An die Menge des verschütteten Wassers. Sie wurde gleich abgeschätzt und befriedigt auf ein knappes Fünftel festgestellt, während draußen Aberhunderte von Wilden die Skalpiermesser wetzten. Amerika. . . .
Alles war vorbereitet, die eigentliche Belagerung konnte beginnen und begann. Den vorausgesehenen Scheinangriff auf der Südseite erwiderten die dazu bestimmten jungen Leute mit einem möglichst lärmenden, aber harmlosen Scheinausfall; den gleichzeitig von Nordost her einsetzenden Hauptsturm Girtys fingen die Standschützen mit verheerendem Bleihagel auf. Die Indianer prallten zurück, das hatten 384 sie nicht erwartet, viele der Ihren waren im Feuer gefallen. In dem allgemeinen Geheul und Getümmel wischten die beiden Botenreiter zum Tore hinaus und entkamen auf dem Wege nach Lexington.
Auch dort hatte man von Holders Niederlage vernommen und zur Hilfe gerüstet; nur Greise, Weiber und Kinder befanden sich in der gefährdeten Blockstadt. Die weitersprengenden Reiter konnten Patterson mit seinem Aufgebot gerade noch einholen und atemlos von der Lage verständigen. Also kehrt euch und marsch marsch, dort hat man uns scheinbar nötiger. Ein Teil der Mannschaft blieb zum Schutz der eigenen Balken in Lexington zurück, sechzehn Berittene und vierzig Fußschützen eilten ungesäumt weiter nach Bryants »Station«.
Die Indianer erspähten den heranrauchenden Entsatz und legten ihm natürlich den gewohnten Hinterhalt. Der rohe Landweg zog zwischen dichtem Holz und hochgeschossenem Maisschilf der Felder dahin, das gab beiderseits prachtvolle Deckung. Die Reiter hielten sich notgedrungen auf der offenen Straße; gegen sie richteten die verkrochenen Roten aus dem Busch auf keine zehn Schritt ihre Gewehre. Eigentlich hätten sie alle miteinander verloren sein müssen, und doch entrannen sie dem aufknatternden Rottenfeuer in wütendem Galopp, die Köpfe vornüber auf den Pferdehälsen, die trommelnden Sporen in den Weichen der armen rettenden Tiere. Durchs vorsichtig geöffnete Tor wurden sie ins Fort eingelassen.
Schlimmer erging es den Fußschützen. Sie waren geduckt ins Maisröhricht geschlichen, kamen auf die Schießerei hin hervor und den davonrasenden Kameraden zu Hilfe, prallten dabei förmlich auf die jenseits zu Hunderten vorwimmelnden Indianer und wurden augenblicklich angenommen. Eine volle Stunde lang prasselte und stampfte, huschte und schlüpfte die unheimliche Kampfjagd durch die knackenden Schäfte und brechenden Kolben, durch rauschendes Binsenlaub und tückisches Kürbisgerank, ohne daß die Feinde einander je auf weitere Entfernung als zwei Schritte sehen konnten: gut für die Tomahawks, schlecht für die langen schwerfälligen Büchsen. Bald erschienen Weiße und Rote dicht voreinander, ebenso schnell und plötzlich war man wieder verschwunden. Die Kentuckyer hatten ihre liebe Not, in der Eile und Aufregung nicht die eigenen Gefährten totzuschießen oder zu erschlagen, denn Weiße waren ja auch bei den Indianern. Endlich ersahen sie eine Gelegenheit und brachen auf der anderen Seite nach dem offenen Walde aus, wo sie gleich im grünen Rohre untertauchten. 385
Bei hitziger Verfolgung eines Grenzers wurde Girty selbst von dessen rasch zurückgeworfenem Schuß getroffen und stürzte; allein das matte Rundblei hatte seine Kraft an einem dicken Stück Büffelleder, das er zufällig in der Weidtasche trug, mit einem Schlage erschöpft. Als er und die befreundeten Roten sich vom Schreck erholt, hatte der andere längst seinen Vorsprung und war in Sicherheit.
Nach aller überstandenen Gefahr vermißten die Lexingtonleute nur sechs Mann; aber nach Bryants Fort konnten sie sich nicht durchschlagen, unverrichteter Dinge kehrten sie nach Hause zurück. Gegossen waren die Kugeln für sie, nur noch nicht geladen; was ahnten sie vom dunklen Verhängnis der nächsten Tage? . . .
Das Fort wurde nicht weiter berannt. Die Häuptlinge erkannten die Zwecklosigkeit wiederholter Opfer; ohne Artillerie war da wenig zu wollen. Überdies befürchteten sie mit Recht die Ankunft weiterer Entsatzscharen. Einen letzten Versuch unternahm Girty selbst. Auf Händen und Füßen kroch er in Sprechnähe der Palisaden heran, erstieg einen Baumstumpf und hielt den beobachtenden Hinterwäldlern in den Luken und Turmbastionen eine Rede voll wohlklingender Zusicherungen für den einen und nachdrücklicher Drohungen für den anderen Fall: am nächsten Morgen schon träfen weitere sechshundert rachsüchtige Schawanesen ein und mit ihnen die Kanonen, die damals die Schwesterforts Ruddle und Martin auf Splitter geschossen; dann sei es zur Übergabe auf gute Bedingungen, wie solch tapfere Mannschaft sie verdiente und er sie jetzt noch anbieten könne, zu spät. . . . Die Antwort erteilte ihm ein junger Mensch aus Lexington, Aaron Reynolds, berüchtigt als Prahler und Flucher: »Dear sir, ich habe daheim einen alten, räudigen, ganz unbrauchbaren Köter, den ich schon vor Jahren Simon Girty zubenannt, weil er Euch aufs Haar gleicht. Habt Ihr Artillerie oder Verstärkung, heran damit in drei Teufels Namen, und seid verdammt. Für Euch und Eure dreckigen Rotschufte liegen schon die Ruten bereit, mit denen wir Euch zur Hölle peitschen, und bleibt Ihr noch länger als vierundzwanzig verwünschte Stunden hier vor dem Fort, dann soll Euer verfluchter Skalp samt denen Eurer Mordbrenner auf unsern Dächern dörren, be sure, ye goddamned bloody son of a pig. . . .« Das war so der Umgangston der kentuckyschen Mannsjugend. Girty zuckte die Achseln. »Sorry for you, tut mir leid um Euch; dann wird eben morgen die ganze Besatzung mit Weibern und Kindern ihren Untergang finden.« Ohne weitere Bemerkung ging er übers dämmernde Feld nach den 386 aufflammenden indianischen Lagerfeuern zurück; er mochte daran denken, wie er Simon Kenton und so manchen anderen Grenzer um Gotteslohn aus der Gefangenschaft losgekauft, vor der Hölle des Marterpfahls bewahrt. . . . Die Spätsommernacht kam herauf und ging mit stillen Gestirnen kühl über Freund und Feind, über Weiß und Rot, über Wahn und Wunden hin; am anderen bleichen Nebelmorgen war der Platz leer, gespenstisch flackerten die verlassenen Feuer, da und dort kohlte noch Wildbret an den Spießen. . . . Erleichtert lachten die Kentuckyer über die Drohungen des gehaßten Abtrünnigen, des »Verräters«; sie sollten sich dennoch schrecklich bewähren. –
Der Vormittag brachte Schar um Schar unter namhaften Führern: den beiden Todd – von denen der eine, John, als virginischer Oberst den abwesenden Clark im Oberbefehl vertrat – Trigg, Harlan, McGary, Martin, Patterson und McBride. Sie alle hatten von der Bedrängnis der Bryantleute vernommen und wollten nun helfen, verfolgen, verjagen, vernichten. Und noch einer kam, schwerer an geprüftem Manneswert, reicher an Erfahrung, tiefer an Einsicht als all die anderen zusammen, den einzigen Kanadier vielleicht ungerechnet: Boone der Altmeister mit seinen drei prachtvollen Enakssöhnen. Seit einiger Zeit wohnte er nicht mehr im übervölkerten verleideten Boonesborough, seiner Gründung aus den heroischen glücklichen Jahren, da es noch Wild in paradiesischer Fülle und wundervoll wenig Menschen gegeben, sondern weiter nördlich in einer neu angelegten, gleichfalls nach ihm benannten kleineren Dorfburg, wo der vorlaute Zuwanderungspöbel mit seiner Allbesserwisserei und wüsten Raubwirtschaft ihm nicht immerzu in die Quere lief und das Herz gallbitter machte. Auch diese brüllende, wühlende Ansammlung gefiel ihm gleich nicht; allein mit seiner treugehorsamen unfehlbaren Büchse fürchtete er sich vor keinen hundert Indianern, einvereinzelt in solch betäubenden Hauf fühlte er sich wehrlos, machtlos, preisgegeben. Aber nun war er einmal hier und mußte mit dem tobenden Strome schwimmen.
Das Palisadendorf dröhnte und kochte wie ein heißerregter Bienenstock vor dem Schwärmen; jeder hatte seine Meinung, jeder wollte den anderen überzeugen und überschreien. Die braunen Hunde mußten mit Schnauze und Schwanz totgeschlagen werden, das stand einmal fest; aber Logan mit seiner starken Mannschaft fehlte noch; er würde am anderen Tage eintreffen; sollte man ihn überhaupt abwarten, brauchte man ihn überhaupt? . . . Dann war das Rotwild über alle 387 Berge! . . . Ach was, gegen die paar Schufte war man auch so Eisens und Pulvers genug! . . . McGary, wieder einmal in einer seiner wilden Stimmungen, tat sich als Prahler am lautesten hervor; aber auch die geringeren Grenzer und besonders der neu eingewanderte Pöbel aus den aufgelassenen Regimentern verlangte stürmisch nach sofortigem Aufbruch, nach Blut, Hatz, Skalpen! . . . Nicht einmal in ihrer Beratungshütte hatten die Führer Ruhe zum Denken, Sprechen, Begründen, Beschließen; respektlos drängte und mischte sich das Gesindel ein. Was da Führer, was Alter und Erfahrung! Man war ein freier Bürger in einem freien Lande, hier hatte jeder seine Stimme! . . . Die warnende Einsicht der wenigen wurde höhnisch niedergeheult; ein gewisser Netherland, der zu gelassener Erwägung riet, ein Feigling geschimpft, beinahe geteert und gefedert. Der Wille, die glühende Gier der stets hassenswert elenden Massenbestie setzte sich durch, entzündete selbst die Kühleren, riß selbst die Bedenklichen mit. Zu Pferde, Menschenjagd, Skalpjagd, Vergeltung! . . . Und in trunkener Siegesgewißheit brach das Ansiedlerheer zur Verfolgung, zur endgültigen Vernichtung des todgeweihten Erzfeindes auf. – –
Aus den Wäldern der heutigen Grafschaft Fayette nach dem Licking-River führte damals eine breite, in Jahrhunderten gebrochene und getretene Büffelstraße; diesen uralten Weg hatten die Indianer wie gewöhnlich benutzt, und aus mancherlei Anzeichen erkannte der unbestechliche Boone, daß sie es mit ihrem Abzug durchaus nicht eilig hatten. In seiner bedächtigen, etwas umständlichen Art teilte er dem kommandierenden John Todd die Beobachtung mit, aber gleich fuhr ihm solch ein Gelbschnabel von virginischen »Lieutenant« frech über den Mund: man werde sich doch nach den glorreichen Siegen über England vor den paar bunten Kötern nicht fürchten? . . . Wer keinen Mut habe, könne ja zu Muttern hinter den Ofen heimkehren! . . . Boone würgte die aufsteigende Schärfe gewaltsam zurück. »Ich glaube nicht, daß diese Bemerkung eines ganz jungen Offiziers jenem berühmten deutschen General« – gemeint war der ausgezeichnete Baron Steuben – »oder General Clark sonderlich gefallen hätte. . . .« Die anderen schwiegen zu diesem Wortwechsel; an Umkehr dachte ohnehin niemand, und recht gaben die meisten ja doch dem Laffen. Pöbel kennt keine Ehrfurcht.
Aber am nächsten Tage kam man an den Licking in der Nähe jener verrufenen »Blauen Lecken«, wo Boone und überhaupt die Grenzer noch jedesmal von irgendeinem Unheil getroffen worden, Holder 388 vor wenigen Tagen erst eine blutige Schlappe erlitten hatte; – und gleich das erste, was man hier im Tale sah, waren einige Indianer, die jenseits auf einem Felsvorsprung des Hanges auf dem Auslug lagen und sich beim Anblick der nahenden Schützen ohne große Hast zurückzogen. Die Grenzer stutzten und sahen sich betroffen an: was bedeutet das? . . . Aber schon mit dem ersten Gedanken begriffen selbst die weniger Erfahrenen: hier war irgend etwas nicht in Ordnung, da lauerte eine Falle. Todd rief die anderen Führer um sich und wendete sich zunächst an Boone: Ihr kennt die Gegend? . . . Ob er sie kannte! Sein geraubtes Kind hatte er eben hier den Indianern abgejagt, hier war er damals von »Schwarzfisch« gefangen, hier war sein geliebter Bruder erschossen und skalpiert worden. . . . Und meint Ihr, es gebe da Gelegenheit zu einem Hinterhalt? . . . Eine nur? Viele! Gleich die paar Seitenschluchten hinter jenem Felsvorsprung, dort können sich tausend Indianer verbergen! . . . Also Gefahr vorhanden? . . . Die allergrößte! . . . Und was ratet Ihr?
So war man doch noch einmal zu Boone und seiner Vernunft zurückgekehrt. Er setzte seine Meinung gründlich und sauber auseinander. Das allerbeste wäre, Logans und seiner Truppen Anschluß abzuwarten, ja ihnen vorsichtig entgegenzureiten; müsse aber durchaus jetzt schon der Angriff unternommen werden, dann nicht anders als nach sorgfältiger Erkundung der feindlichen Stellungen und jedenfalls von zwei Seiten her. Eine Abteilung könnte ja vielleicht den Fluß weit unterhalb seiner Krümmung unauffällig überschreiten und dem Gegner in den Rücken kommen; die andere müßte die erforderliche Zeit hier abwarten, dann durch die Furt setzen und die Aufmerksamkeit der Indianer auf sich ziehen, bis die beiden Angriffe zusammenfielen. Aber nichts ohne Kundschaft, und der rätlichere bleibe der erste Vorschlag: Geduld, Ruhe, Bedacht. Morgen schon könne Logan mit zweihundert Mann eintreffen; da drüben aber lägen gewiß ein halb Tausend Roter.
Fast andächtig lauschten die Führer dem sachlichen Vortrag des alten, grundgediegenen, beherrschten Jägers. Ihre Ansichten waren geteilt. Todd und Trigg, Martin natürlich und noch ein paar andere Erfahrenere stimmten ihm vollständig bei, unter diesen auch der schon genannte Netherland, ein tüchtiger und kluger Mensch. Gleich ging das Geschrei bei der viehischen Mehrheit wieder an. Feigheit! . . . Verrat! . . . Blödsinn! . . . Gibt es nicht. . . . Wir tun, was wir wollen, und wir wollen Ziele für unsere Kugeln und Gurgeln für unsere Messer! . . . Die »Obersten« und »Hauptleute« 389 schwankten. Was tun? Konnte, sollte, durfte man dies erhitzte Blutsvolk kopflos in den wahrscheinlichen Untergang rennen lassen?
. . . Und da geschah etwas Unerwartetes, etwas Entscheidendes, Furchtbares.
McGary, dem die Beratung schon wieder viel zu lange gewährt, machte ihr mit einem Schlag ein jähes Ende. Unterordnung war nicht seine Stärke; sein störrischer Eigensinn hatte ihn schon vielen verfeindet. Jetzt aber wußte er die Unzufriedenen alle auf seiner Seite. So ritt er plötzlich von den Offizieren weg vor die durcheinanderstreitende Grenzermiliz hin, stimmte weithin widerhallend das indianische Schlachtgeheul an, schwenkte den Hut vom Kopfe und sprengte mit dem Ruf »Mit mir, wer keine Memme ist!« in die aufspritzende Furt hinein. Und ihm nach aufjauchzend seine Harrodsburger, ihm nach all die anderen Stürmer und Wühler, und schließlich, da ihnen nichts anderes übrig blieb, auch Todd und der kopfschüttelnde Boone.
So waren die Würfel gefallen. Breit durch den friedlichen Sommerfluß rauschte das ungeduldige Wirrgedräng der Reiter und der watenden Fußschützen. Drüben ordnete man sich in Hast. Zwei Kundschafter wurden vorangeschickt. Boone mit den Seinen nahm den linken Flügel, Trigg den rechten, im Zentrum kommandierte Todd; ein Stoßtrupp von fünfundzwanzig Mann mit McGary, Harlan und Martin sollte den Kampf eröffnen. Die Kundschafter kehrten zurück: nichts von Indianern! . . . Nichts? . . . Na also! . . . Und wenn doch ein paar von den braunen Schuften da irgendwo im Gestrüpp hocken sollten, die wollen wir schon aufstöbern und niederschießen wie Hasen. . . . Vorwärts denn, los! . . . Die Hasenstreife begann.
Da setzte das Feuern ein, drüben bei Trigg auf dem rechten Haken. Die Indianer in ihrer sorgfältig gewählten Deckung hinter Gras, Strauch und grünem Rohr hatten alles gehört und gesehen, hatten alles ruhig geschehen, in düstrer Freude die Opfer anlaufen lassen. Gnadenhütten! . . . Girty, Caldwell und McKee hielten ihre rote Armee straffer in der Faust als Todd und Boone ihre Kentuckyer.
Das Gefecht begann, Trigg war glücklich mit ganzer Flanke in die Umfassung der halbkreisförmigen, obendrein noch mehrfach gestaffelten indianischen Stellung hineingerannt. Gleich darauf 390 schmetterte heißer Bleischauer auch in McGarys und Martins Harrodsburger Todesschar; alle fielen, bis auf den unseligen Führer und den wie unverwundbaren kleinen Kanadier. Boone mit seinen Leuten war sogleich kräftig, dem wankenden Zentrum weit voran, auf den vielhundertköpfig hinter Bäumen und Unterwuchs aufhuschenden Feind eingedrungen; vielleicht gelingt es so, Girtys Front zurückzubiegen, ihren Kern seinerseits in der Flanke zu fassen. Vergeblich. Triggs Flügel ist bereits unheilbar zerschlagen, was da noch kann, läuft Hals und Bein, verfolgt von Tomahawks, Whoo-whoop, nachklatschendem Kugelregen. Von dorther wird das Zentrum unwiderstehlich aufgerollt. Tapfer und treu in stiller Verzweiflung reitet Todd auf seinem Schimmel die weichende Reihe auf und nieder; da trifft es ihn, er stürzt vom Pferde, wird geschleift, hilft sich noch einmal mühsam in den Sattel, wird vornüber wankend und schwankend nach dem Fluß getragen, ein Blutstrom aus dem Munde, und schwer schlägt er in die Flut. . . . Trigg ist gefallen, McBride ist gefallen, Patterson scheint gefallen zu sein, alles rennt, spornt, schwimmt: – nur Boone mit seiner kleinen Schar steht noch und kämpft unverzagt und rüstig gegen die heulende, metzelnde, furchtbare Übermacht. Laden, zielen, schießen, treffen – Pulver, Pflasterkugel, Pfanne, Anschlag, Kimme, Korn, Tod – aber was sollen die paar langsamen Büchsen gegen die erdrückende Umklammerung? . . . Jetzt bricht auch noch Boones Sohn Israel dicht neben dem Vater sterbend zusammen. . . . Keine Zeit, daran zu denken; noch gibt es Kinder, für die man sich zu erhalten hat, zu fechten, so lange es geht – laden, zielen, schießen, treffen, laden – und auch die Flucht der unseligen Gefährten soll bis zum letzten Atemzug gedeckt werden. . . . So geht das fort, wie lange? . . . Eine Ewigkeit, Schuß für Schuß, Feind um Feind, Leben um Leben. . . . Wie lange noch? . . . Das war Girtys Rache für den Schlag zu Fort Point Pleasant, das die Vergeltung seiner Roten für die Tage vom Kanawha und Wapatomika, Chillicothe und Conestoga, für Gnadenhütten, für Cornstalk, für die sechzehn Häuptlinge, für soviel Leid, Raub und Trug! . . . Keine Zeit jetzt, an all das zu denken: und immerzu weiter ringt der alte einsame Boone mit dem tausendarmigen Widersacher.
Und er bleibt Sieger. Ihn verläßt die Besinnung nicht. Ein großer Teil der Indianer setzt den Fliehenden nach; das bringt eine leichte Entlastung. Boone schießt und schlägt sich in einer der Seitenschluchten nach der Hochebene hinauf durch, löscht seine letzten 391 Verfolger einzeln aus, steigt auf weiten Umwegen wieder zum Licking hinunter, überschwimmt ihn im Schutze der hereinbrechenden Nacht und erreicht äußerlich unverletzt, erschüttert, mit zerrissener Seele Bryants Fort.
Hier findet er ein Lazarett und eine Revolution. Keiner fast, der ganz unverwundet geblieben; die Männer fiebern und stöhnen, die Weiber keifen und klagen. Allgemeine Erbitterung, Flüche, Fäuste, Drohungen: McGary der Narr ist an allem Unglück schuld, geteert und gefedert soll er werden, mit dem »eichenen Handtuch getrocknet«, erschlagen, gehängt, gelyncht! . . . Vor noch nicht hundert Stunden schrie man's anders gerade umgekehrt. Pöbel.
Der alte Hitzkopf war ernstlich in Gefahr. Martin schützte ihn vor den Ausbrüchen des gereizten Janhagels. »Comment, wie, was – wer ist schuld, wo ist Schuld, was ist Schuld? . . . Vous all, you tous sein schuld! . . . All' 'aben geschrien, nom d'un Boeuf, wie die Ochs! . . . Kein Mensch mit sein' Verstand 'aben könn' reden! . . . Ich mir 'aben geschämt pour vous all together, excepté Monsieur Boone! . . . Was für ein Ordnung das? . . . Revolution hier im Fort? . . . Und wenn jetzt die Indiens komm'? . . . Jeder soll er sein ge'ängt, der mack Unruh in solche Gefahr, nom d'un couteau! . . .« Craigh als Burghauptmann trat dazwischen und bekräftigte mit Nachdruck die Drohung des schneidigen kleinen Kanadiers: jedem Zänker und Schreier sofort den Strang, Standrecht! . . . Langsam, unter dumpf verhallenden Nachdonnern legte sich der Sturm; aber das Gewölk hing trüb und schwül. Boone mochte bitter lächeln.
Patterson war nicht gefallen, die Schwäche nur aus seinen Wunden her hatte ihn niedergeworfen. Sein Pferd war unter ihm erschossen worden; zu Fuß kam er schlecht vorwärts, er gab sich verloren. Da rettete ihn jener junge prahlerische Grobian, Reynolds. Als einer der Letzten weichend, überholte er seinen mühsam dahinhumpelnden Führer, setzte ihn auf einen gerade ledig vorbeirasenden, in fiebriger Hast eingefangenen Gaul, während er mit seiner Büchse die andrängenden Indianer in Schach hielt. Dann erst dachte er ans eigene Leben. Das andere Ufer erreichte er unbelästigt, aber seine vollgesogenen Lederhosen beschwerten ihm die weitere Flucht, und wie er sie abstreifen wollte, wurde er halbnackt von ein paar anderen halbnackten Waldteufeln überrumpelt und festgenommen. Bei erster 392 Gelegenheit riß er sich los und entkam. Patterson dankte ihm später das gute Werk mit einer wertvollen Landschenkung.
Noch einer hatte sich in all der Schmach rühmlich hervorgetan, der geschmähte Netherland. Er ritt ein besonders schnelles starkes Pferd, das ihn der Hauptmasse der Fliehenden voraus ans Ufer und durch den Fluß trug. Dort fand er sich mit einigen zwanzig anderen Ausreißern zusammen; sie, die ihn vor einer Stunde noch als Feigling verhöhnt, wollten gleich Hals über Kopf weiter in die Wälder und die weniger glücklichen Gefährten im Gewürge um die Furt dahintenlassen. Netherland hielt sie mit Gewalt zurück und eröffnete ein wirksames, kaltblütiges Scharfschützenfeuer über das Blutgewühl im Wasser hinweg nach dem Feinde. Das half wenigstens eine kurze Zeit lang und rettete manchem schon verlorenen Kentuckyer das Leben. Von den sieben Toten und zehn Verwundeten auf indianischer Seite kam die ganze Strecke auf Boones und Netherlands Rechnung.
Die Verluste der Grenzer waren anders schwer. Siebzig blieben skalpiert den Wölfen, Vögeln und Fischen zum Fraß, verwundet waren beinahe alle, von den acht oder zehn Gefangenen erlitten die meisten den schauerlichen Martertod. Einer aber dieser armen Teufel gewann den grausamen Siegern durch einen dreisten Ausbruch solche Achtung ab, daß ein alter Sachem ihn sogleich in seine Sippe und damit in den Stamm aufnahm.
Die Trümmer des geschlagenen Hinterwäldlerheeres zogen wirr und zersprengt durch die Wälder ab. Die offene Büffelstraße wurde ängstlich gemieden; die heiß schwellenden Wunden verzögerten die Flucht. In düsterer Stille, grollend, ruhmlos, elend und hohl schwankten die Kämpfer zu den Toren von Bryants Fort hinein. Die Weiber heulten und ballten die Fäuste: Wo ist Johnson? . . . Gefallen . . . Wo ist McKew? . . . Fragt nicht, gefallen. . . . Wo ist M'Cleod? . . . Auch der braucht Euer Wasser nicht mehr, hat dran im Licking droben auf alle Ewigkeiten genug. . . . Das war die berühmte Schlacht bei den verrufenen Blauen Lecken, klein an Ziffern, schrecklich in ihrem Eindruck, furchtbar hier in den leeren Räumen der Wildnis. Von hundertsechsundsechzig Männern siebzig tot, zehn gefangen, andere siebzig verwundet, das kommt neunmalhunderttausend Vermißten und Kampfunfähigen eines Millionenheeres gleich, einer Katastrophe. –
In die erste kochende Erregung hinein erschienen der kluge ruhige Logan und der gewaltige Kenton mit einem Landsturm von nicht 393 weniger als vierhundertundfünfzig Schützen. Nun erst erkannte man den begangenen Unsinn und schlug sich an die Brust, da man sich vorher gebrüstet. Die frischen Truppen unter ihren Führern gingen gleich wieder zur Bergung und Bestattung der Toten ab, der tiefgebeugte Held Boone schloß sich an. Die Leichen boten einen grauenhaften Anblick; geschunden, mit ausgehackten Augen, angefressen, so lag das dunkel und still unter dem Geschwärm der Aasvögel. . . . Die Indianer aber mit ihrer reichen Skalpbeute waren im Vollgenuß gesättigter Rache ohne Eile weitergezogen, beim heutigen Maysville an ihrer alten Furt über den Ohio und nordwärts in ihr brauendes Land, heim zu den Gräbern ihrer Väter. –
Kentucky trauerte tatenlos, gelähmt, in dumpfer Starre. Keine Faust rührte sich; man traute sich und einer dem anderen nichts mehr zu, man war einander verdächtig und verhaßt. Der Feind jenseits nutzte diese wohl erkannte Stimmung gründlich aus und setzte seine Raubzüge mit furchtbarem Erfolge fort. Die ganze Grenze entlang schlug nächtlicher Feuerschein aus den Wäldern, westlich am Salt River nahmen die Indianer zugleich mit einem Fort an die vierzig Gefangene. Viele der neueren Ansiedler rüsteten, dies Schreckensland zu verlassen.
Endlich kam Clark aus dem Osten, wo er sich lange verärgert und faul herumgetrieben, tief und tiefer umnebelt von den nämlichen Geistern, die den roten Mann so oft verführt, getröstet, getrogen, geschwächt und vergiftet, den Geistern des Feuerwassers.
»General« war er, Soldaten zum Titel hatte er keine, Detroit hatte er nicht nehmen können, zu tun gab es nichts für ihn, neue lärmende Streber wuchsen ihm über den Kopf, er soff. Jetzt in der Not seiner alten Waffenfreunde nahm er sich noch einmal zusammen. Mit einem furchtbaren Donnerwetter weckte er die Ansiedler aus ihrer Betäubung. Keine Beschimpfung blieb ihnen geschenkt; Pöbel, das war noch das zahmste, was sie zu hören kriegten. Boone und die anderen Veteranen der Grenze nahm Clark natürlich schon aus Gleichgefühl aus; frühere Offiziere und Soldaten der aufgelassenen Armee wurden dafür um so saftiger heruntergerüffelt. Nachdem er sich so entladen, sammelte der zornige Hinterwäldlergeneral alles, was irgend schießen, laufen und reiten konnte, zu einer Armee von fünfzehnhundert Mann; Boone, Kenton, Martin, Harrod, Logan, Floyd, Bedinger, all die Helden der kentuckyschen Ilias, nahmen an dem Rachezuge teil. Indes gefaßt und geschlagen konnten die Indianer bei all dem 394 Aufwand nicht werden. Sie räumten ihre Dörfer, wichen und glitten jedem Zusammenstoß aus, ihre Späher in der Nachhut verrieten ihnen mit weithin durch die spätherbstlichen Wälder hallendem Warnschrei jede Bewegung der weißen Kriegshorde. So kam es nur zu ganz unbedeutenden Scharmützeln, in denen die Grenzer, wie die Berichte unverblümt eingestehen, »zehn Skalpe« nahmen. Auf hitzige Verfolgung drängte diesmal weislich niemand, die Lektion vom Blauen Leck saß; Clark mußte sich damit begnügen, die verlassenen Wigwamstädte mit ihren reichen Wintervorräten und einige Niederlagen kanadischer Trader gründlich zu vernichten. Es war nach kurzem, steilanleuchtendem Aufstieg sein letzter »Sieg«; sein Leben verliert sich in Sumpf und Nacht. Schon war der auf der Höhe, der sein Werk, die Sicherung der nordwestlichen Grenze, den Raub des Indianerlandes mit wenigen harten Schlägen vollenden, seinen Ruhm überstrahlen sollte: der siegreiche Wiedereroberer von Stony Point am Hudson, der »tolle Anthony«, der gefürchtete »große Sturm« der Schawanesen, General Wayne.
In tiefem Groll sahen die Indianer aus der Ferne die schwarzen Schwaden in grauer Herbstluft über ihren Heimstätten lagern. Wieder einmal alles verloren und verbrannt, die Frucht mühseliger Arbeit, die Beute anstrengender Jagd, das Werk fleißiger Weiberhände dahin, hinter den entlaubten Wäldern herauf der Winter, in seinem Gefolg die bittere Not: – und all das nur darum, weil auch sie leben wollten, weil sie sich nicht demütig hinschlachten ließen wie die unglücklichen Brüder von Gnadenhütten, weil sie sich unterstanden, ihr Eigen, Land und Gräber ihrer Väter gegen die unersättlichen Fremdlinge zu verteidigen! . . . Die oberflächlichen Friedenspakte mit den einzelnen Nationen des Bundes hatten denn auch nicht den geringsten Wert und Bestand; die Miamis und Lenapen, die stolzen tapferen Wyandots und vornean die unversöhnlichen Schawanesen blieben ungebeugt und düster entschlossen, den Kampf um die Ohio-Grenze bis zur letzten Klinge und Kugel auszufechten. Einzig die Piankeshaws kamen nach Vincennes zu Clarks Agenten Dalton gekrochen, bettelten um gut Wetter und – Rum; dieser war vornehmlich gemeint, sie bekamen welchen und besoffen sich bis zum Blöken und Brechen, schliefen ihren Rausch aus, gingen davon und schlugen bei erster guter Gelegenheit den erstbesten weißen Schädel mit dem Tomahawk ein. – 395
Ein gewisser M'Cracken von Clarks berittener Miliz hatte mit einer alten, nie so recht verheilten Armwunde den Zug mitgemacht. Das vernachlässigte Übel wurde bedenklich, Brand trat hinzu; in tödlichen Frostglutschauern schleppte sich der Kentuckyer mit den heimkehrenden Gefährten bis an den Ohio, wo der kleine Miami seine glasklare Flut in den mächtigen Schicksalsstrom ergießt. Hier verließen ihn die Kräfte; auf einer Bahre ward er den Hang der Hügel hinab zum Ufer getragen, im Anblick der heiligen Wasser wollte er sterben. Um ihn her sammelten sich andächtig die Scharen der Grenzer. Noch pulste Leben, flackerte Leben im Körper; die blauen Lippen murmelten, das hohle Aug starrte entrückt. In den letzten Tagen war unter den Ansiedlern viel von weiterer Ausdehnung Kentuckys, von Niederlassungen jenseits des Ohio im Indianerland die Rede gewesen; vor dem seherisch weiten Innenblick des Verscheidenden stieg nun die Vision einer mächtigen reichen Stadt, stiegen aus dem Verdunkeln dieser Welt überirdisch schimmernd die Paläste und Türme der Zukunft herauf. Wirre, wild abgebrochene Reden kündeten das Gesicht; die matte Hand wies nach der Stätte der Gründung: dort! . . . Aus seinen Delirien noch einmal halb erwacht bat M'Cracken die Gefährten, sich nach fünfzig Jahren auf diesen Tag, den 4. November 1832, in jener Traumstadt zu versammeln, gemeinsam der Erinnerung altüberstandener Drangsale zu pflegen und dann auch seiner zu gedenken. Floyd der Landmesser trat vor und versprach es dem Sterbenden in die Hand. Kurz darauf hatte der ausgelitten.
Dieser Todesfall, so natürlich und alltäglich, erweckte geradezu den Eindruck eines verpflichtenden Wunders. Zwar gleich Floyd selbst war der erste, der M'Cracken über den dunklen Strom ins andere Reich folgte; er geriet in den Hinterhalt einer kleinen indianischen Streifbande und wurde erschlagen. Aber die Vision erfüllte sich, jenes fiebrische Ferngebild ward Wirklichkeit – die Stadt erstand und wuchs und gedieh und zählte am Gedenktag schon mehr als 20 000, um die nächste Jahrhundertwende an die 400 000 Einwohner: es ist Cincinnati (anfänglich »Fort Washington«), eines der drei großen Emporien des mittleren Westens, beziehungsreich so benannt nach jenem halb sagenhaften, altrömischen Bauernfeldherrn, den die Konsuln vom Pfluge weg zu vierzehntägiger siegreicher Diktatur berufen und mit dem man den ländlichen Vater der neuen Republik gerne verglich. Ein Cincinnatus, Pflanzer und Bandenführer zugleich war ja schließlich jeder Grenzerhauptmann. – 396
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Den alten Wanderweg durch die düsteren Ödnisse der Cumberlandberge hinüber nach dem Gap zieht ein einsamer Jäger, hoch und hager, das scharfe versonnene Antlitz schon gezeichnet von den Boten des Alters. Bedächtig, in unnachlässiger Aufmerksamkeit, da und dort zu sorgfältiger Umschau verweilend, fast mißtrauisch folgt er der weithin sichtbaren Straße; und ob sie nun schon längst breit ausgeritten und ausgefahren, tausendfältig benutzt und fast gefahrlos, der ruhig doch rastlos schweifende, allgewahrende Späherblick tastet jedem Schritte auf ihrer vielhundert voraus, läßt keine Kleinigkeit unbeachtet, erfaßt jede noch so geringe Spur der Vorgänger, jedes noch so geringe Anzeichen irgendeiner Nähe oder Gegenwart. Einmal des Tages knallt die lange, schwere Grenzerbüchse; überm einsamen Abendfeuer dann schmort die saftige Waldpute oder die Keule vom virginischen Hirsch. Der Rest gehört den Wölfen und Trutgeiern.
Ja, hier oben auf sturmgefegter Hochebene, hier unter den Steintrümmern und Krüppelbirken war's gewesen, wo sie damals das Gap, das Tor in die neue Welt, ins neue Schicksal, zum ersten Male in blauer Frühlingsferne aufklaffen gesehen; und dort drunten am dunklen kleinen Waldsee hatten sie die tranigen Spießenten geschlachtet und gebraten; und ebendort, bei jenem Augehölz hatten sie nach heißblutigem Kampfe gelagert, Mrs. Calloway jammernd um ihre Haubenbänder und Pomadentiegel, er selbst, zum ersten Male ins Herz getroffen, in starrer Trauer um den erstgeborenen Sohn. Da, in diesem Ufergebüsch hatte der hitzige Finley den Truthahn aus dem Vollen herausgeschossen, noch stand der Baum; und hier die Seitenschlucht in die Hügel hinauf, die er zusammen mit dem braven, armen Stewart begehen wollte, über sie war es zu ersten harten Worten, zum ersten Zerfall unter den Gefährten gekommen . . . Noch erkannte das Auge die Stellen und Stätten, wo vor nun dreizehn Jahren ihre, der Pfadfinder Feuer einsam in abgründiger Wildnis gebrannt; wieviel war seither geschehen, wie viele waren mit ihm, nach ihm, auf den Steigen, die er als Werkzeug der Vorsehung gerichtet, des nämlichen Schicksalsweges gezogen, und wie viele unter ihnen ins Elend, in den qualvollenTod! . . . Noch brausten in ihrer Enge zwischen bewachsenen Felswänden die Fälle des Cumberland; aber schon war das einst geschaute Paradies entheiligt, seltener schwebte der Reiher im siebenfarbenen Dunstflor überm Sturz, seltener stieß von seiner Warte herab der weißköpfige Adler auf den blaufüßigen Vetter, ihm die silbrig schnellende Beute abzujagen. Selten ist alles Reine, Göttliche, Unschuldige geworden, 397 selten der Bison, selten der Elk, selten eine Weitsicht Waldlandes ohne da und dort lagernden Rauch, nah und fern hallende Axt; massenhaft in erstickender Überzahl nur der Mensch, der Vergeuder, Zerstörer, Schänder der Schöpfung: der Pöbel . . .
Wehmütig ruhte der Blick des alternden Jägers auf all diesen Wahrzeichen; er wußte: nun wanderte er den so oft durchmessenen Weg zum letztenmal. Als abenteuernder Weidmann, als Krieger, als Bote, als Führer hatte er ihn zurückgelegt; das alles, diese Zeit der harten hohen Taten, paradiesischen Überflusses und heroischer Not war nun vorüber, auf immer vorbei. Noch griff der Geist der dunklen blutigen Gründe dann und wann sich sein Opfer; oft noch schwelte der Schein grausiger Brände aus sommerschwüler Waldnacht herauf; aber diese kleinen Stöße und Schläge, diese vereinzelten Racheausbrüche vermochten den Sieg der weißen Völker, die zermalmende Wucht der stetig schwellenden Einwanderung nicht mehr aufzuhalten, so wenig wie die einsam im Braus wankenden Trümmer eines Deichs das breit hereinbrechende Meer. Die Schlacht an den Blauen Lecken war das letzte große Ereignis in der Geschichte des kentuckyschen Urwaldkrieges gewesen, das neue Kanaan dem neuen Staate und seinen Bürgern endgültig gesichert: Hunderten das Grab, Zehntausenden aber und bald Hunderttausenden eine glückliche, schöne gesegnete, unermeßlich reiche Heimat, eine Flur von unergründlicher Fruchterde, darauf der goldene Weizen in betörender Üppigkeit wucherte. Nur ihm selbst nicht, der für eben dies Land Tausende von Meilen gewandert, Abertausende von Schüssen getan, hundert Gefahren bestanden, zwei Söhne, den geliebten Bruder, den Schwager verloren; nur gerade ihm selbst nicht, dem wahren Erschließer, Eroberer, Begründer des gepriesenen Kentucky, Daniel Boone. –
Er war damals zum letzten Male auf dem Rückweg aus dem Osten, aus Virginien herüber. Bald nach Clarks letztem Feldzug gegen die Indianer hatte er, überdrüssig all der neumodischen Scherereien und Schikanen mit Vermessung, Beschreibung, Anmeldung und was noch alles die Schnüffler hinter ihren Tintenfässern verlangten, den größten Teil seiner Ansprüche um Boonesburg kurzerhand verkauft; vor hundert bemalten Waldteufeln fürchtete er sich nicht, mit Ämtern, Behörden, Prozessen, Gesetz und Papier wollte er um keinen Preis etwas zu schaffen haben. Die erzielten Preise waren nicht hoch im Vergleich zu den ungeheuren Strecken gutgläubig erworbenen und abgelassenen Bodens von erstem kentuckyschen Rang; 398 bedeutend immerhin in Ansicht des Mangels an festen, amtlich abgestempelten Besitztiteln. Man war wohl der gesunden Meinung, daß ein halber Patriarch wie Boone, daß der Vater und Führer all der tausend in ihrem Eigen glücklich bestätigten Ansiedler, daß der Eröffner und unbestrittene Vorkämpe dieses Landes solcher Nachweise, daß die rechtschaffene und rechtschaffende Faust solchen Formelkrams gar nicht bedürfe, und er selbst hat sich vielleicht mit solchem wahrlich nicht unbegründeten Gefühl getröstet. Nun, wie immer, all die erzielten Kaufschillinge ergaben zusammen etwas über 20 000 Dollar, und mit diesem papiernen Vermögen im ledernen Jagdwams, mit Büchse und Beil, als gelte es dem Wyandot oder Piankeshaw, wanderte der rüstige Altmeister über die Berge nach Powells Tal und von da nochmals über Berge und Flüsse nach Virginien, auf Richmond oder Williamsburg. Dort standen jetzt nach geendetem »Freiheits«krieg gut eingearbeitete, unter menschlicher Behandlung zu Fleiß und Treue erzogene Negersklaven, außerdem aber ganze Wirtschaftseinrichtungen mit allem notwendigen Werkzeug spottbillig zum Verkauf – beschlagnahmtes Gut von den Ländereien königstreuer Pflanzer, die nach der Katastrophe von Yorktown die siegreiche Republik verlassen. Von solchen Kräften und Geräten gedachte Boone eine tüchtige Karawane zusammenzuhandeln; vielleicht zu teilweisem Weiterverkauf im schandteuren Kentucky, vielleicht zum Betrieb einer einbringlichen, intensiveren Tabak- und Weizen-Musterwirtschaft auf dem Besitztum bei der »neuen Station«, dem letzten, aber weitaus wertvollsten, das er sich eigens zu solchem Zwecke zurückbehalten. Nebenher konnte ja gleich der Antrag auf Bestätigung des Besitztitels für dieses Gut gestellt und die Ausfertigung der Urkunde mit etwas Hochdruck betrieben werden; Kentucky gehörte damals noch zu Virginien, einen Kataster oder dergleichen gab es einzig in der Hauptstadt, jeder Wisch von Ohio mußte über hundert Berge und Ströme sechs- oder siebenhundert Kilometer weit bis nahe an den Atlantik reisen. Irgend was wie einen Vermessungsbericht oder eine ungefähre Beschreibung trug Boone für alle Fälle wohl mit in der Tasche.
Auch im dichter besiedelten Virginien reiste er nach seiner gewohnten Art. Noch gab es Wildes genug für seinen Bratspieß, noch verschwiegene Plätze in den Wäldern seitab der Heerwege, wo er sein Feuer brennen, seine Glieder zum Schlummer strecken konnte. Längst umwoben von Ruhm, vergrößerndem Gerücht und nebelspinnender Sage, hatte er an jedem Farmhause um Nachtquartier anklopfen 399 dürfen; sein bloßer Name öffnete jede Tür vom Ohio bis zum Potomac, machte ihn unter jedem Dache zum gefeierten Gast. Allein solche Einsprachen waren nicht nach dem Geschmack des schweigsamen Jägerhelden. Über seinem Schlafe mußten Wipfel raunen, Sterne leuchten, Wolken treiben, Lüfte streichen. Still und unerkannt zog er an den Siedlungen der Menschen vorbei, auch dem Anschluß anderer Wanderer wich er bald aus oder er lehnte ihn einfach ab.
Aber zweier armer Teufel nahm er sich an, die da abgerissen und hohl scheinbar gleichen Weges nach dem Osten trollten, ja zu ihnen plauderte er ganz unbefangen vom Zweck seiner Reise und dem Gelde im Wams oder Gürtel. Zum Abend noch teilte er mit den ausgehungerten Burschen den Hirschziemer oder Truthahn vom Spieß; als er dann in dunkler Vorfrühe erwachte, waren sie verschwunden und mit ihm sein ganzes Vermögen, der Erlös aus der Arbeit und den Kämpfen vierzehn blutheißer Jahre. Was ihm in der Wildnis nie hätte widerfahren können, hier im gesicherten alten Lande mußte ers erleben, daß zwei ganz gewöhnliche Landstreicher ihm die Augen verseift und den Pelz bis aufs Nackte balbiert. Noch obendrein waren es Deutsche, Hessen von den Aushebungen und Schüben des menschenhändlerischen Landgrafen, die jetzt aus einem der amerikanischen Gefangenenlager entsprungen wie so viele andere ihres Stammes als Tagelöhner, Gelegenheitsjäger, Straßendiebe landauf und -ab marodierten. Unterm Volk der östlichen Staaten stand das herrenlose, durch Entwurzelung, gepreßten Solddienst, Krieg und Fremde heruntergekommene Gesindel längst schon in Verruf – einem Verruf, der tief ins neunzehnte Jahrhundert herab fortdauerte und den Namen der Hessen zum Schimpf herabgewürdigt hat –; die alten Westgrenzer in ihrer weltfremden Unschuld ahnten nichts von solchen Nachblüten. Aber auch hier wieder möchte man gern an einen Schuß alten deutschen Blutes in Boone – Buhn? – selbst denken. Vertrauen und Gutmütigkeit am allerverkehrtesten Platze, Hunderte von Indianern überlistet und erlegt, Tausende von Bären geschossen haben, den schwülsten Gefahren scharfsinnig entronnen sein – und dann auf ein paar streunende Landsleute der Länge nach hereinfallen: das ist unverfälscht deutsch.
Wie immer, das schöne Geld war fort, und Boone machte sich auf die Jagd. Eine Zeitlang vermochte er die Spur zu halten, dann verlor sie sich unter den Gleisen des lebhafteren Verkehrs. In den einsamen Weiten zwischen Powells Tal und dem Ohio, dem Big Sandy und 400 dem Salt River kannte Boone jede Schlucht und jeden Schlupf; hier keine einzige Straße. Unter den fremden, modischen unverständlichen Menschen vollends verlor er seine gewohnte Sicherheit; der Lärm betäubte ihn; er gab es auf. Die Behörden anrufen? Um keine anderen zwanzig- oder auch hunderttausend Dollars in der Welt! . . . Nur nichts mit Ämtern zu tun haben! . . . So kehrte er denn ganz gelassen, ganz gleichgültig um, ohne Sklaven, ohne Geräte, ohne Geld. Ohne Geld? Büchse, Blei und Beil und seine Bibel inwendig hatte er ja, wessen bedurfte er noch zum Leben? . . . Sklaven, wozu? Der treueste Diener war man sich selbst mit seiner Waffe . . . Und das Grundpatent? Ach was, das würde sich schon irgendwie von selbst finden! Nur nichts mit Ämtern und Städten zu tun bekommen, da war alles Diebstahl und Trug! . . . Einmal die sogenannte Zivilisation hinter sich, über die Niederung hinaus in den Bergen und Wäldern atmete er wieder frei auf, fühlte er sich wieder daheim, wie genesen von einer schweren Krankheit, erlöst von einem lastenden Traum: wieder ganz er selbst, Meister, König und Adler . . .
Das Schicksal aber machte gleich ganze Arbeit.
Noch besaß Boone an festen Gütern jenes besonders wertvolle Stück Land, das er sich zu eigener Bewirtschaftung zurückbehalten. Vorschriftsmäßig eingetragen, »patentiert« war es ja nun nicht, aber schon aus dem Verkauf seiner Ansprüche konnte er als gutgläubiger Besitzer ein schönes Stück Geld münzen. Auch diese Sorge, diese Bindung an Enge und Scholle sollte ihm bald abgenommen werden. Gleich an der Schwelle seines Hauses empfing ihn die Freudenbotschaft, daß inzwischen ein anderer mit allen nötigen Wischen sein hinterhältiges Recht geltend, das des wahren Erwerbers streitig gemacht. Boone zuckte mit keiner Wimper; mochte dann alles draufgehen, in Gottes Namen, er konnte sich und die Seinen auch anders fristen, der Westen war noch weit! . . . Die alten Waffengefährten, Logan, Harrod, Martin, empört über solch rohen, gefühllosen Überfall, drängten freilich auf Widerstand bis zum Äußersten; er selbst dachte nicht einen Augenblick daran. Widerstand gegen den Kanzleigeist, gegen das gesetzgebende Papier? . . . »Nichts furchtbarer als das, was die Menschen ihre Gerechtigkeit nennen«, wie jener andere alte Hinterwäldler zum französischen Revolutionsgeneral und Spion Collot sagte. . . . Angemeldet hatte Boone ja das blutig verdiente Stück Heimat bei den Landkommissaren; allein was half's, das »Patent« trug nun einmal der andere in der Tasche, und tote Formel obsiegte noch immer 401 lebendigem Recht. Ja, der gute, arme Bruder Squire, der hätte die Geschichte rechtzeitig und vielleicht auch jetzt noch ins Lot gebracht, der verstand sich auf dergleichen; aber er selbst, er hatte keine Lust, sich um die tintene Narrenwirtschaft zu bekümmern, er kannte sich da nicht aus, er wußte sich besseres als den Kanzleiperücken zuliebe zwischen Ohio und Ozean hin- und herzulaufen, er mußte jagen, jagen, jagen und allein sein . . . So packte er denn stillschweigend auf. Keine Hand rührte sich für ihn, keine Feder; die es hätten tun wollen, galten ja nichts mehr im Lande. Kein Mensch dachte daran, ihn mit einer ausgiebigen verbrieften Schenkung nach Verdienst zu entschädigen; im Gegenteil, froh war das Neugesindel, daß es den unbequemen, strengen, abseitigen Alten auf solche gute »loyale« Art los ward . . . Für die Soldateska des Freiheitskrieges, zusammengelaufenes Gaunerpack, Canaille aus aller Herren Länder hatte die virginische Regierung Millionen Tagwerke bester kentuckyscher Scholle übrig; für den Mann, der eben diesen Fruchtboden, diese Schatz- und Kornkammer der Republik erkämpft und unter furchtbaren Opfern behauptet, kein einziges.
So brach nun der angejahrte Held mit den Seinen und seinen Herden, dieser letzten ihm verbliebenen Habe auf und kehrte der erträumten Heimat, den Gräbern seiner Söhne, des Bruders, seiner Hoffnungen, wandte er dem Schauplatz seiner Großtaten, seinem Lebenswerke auf immer den Rücken. An ihm erfüllte sich das lorbeerbittere Geschick des Führers; vollzog sich das Schicksal, das er selbst den unrechtmäßigen Landesherren, den Indianern bereitet; bewährte sich der Fluch aller Beute.
Freilich wohl, was hatte er in Wahrheit verloren? Verödete, ausgeschundene Jagdgründe, weiter nichts; Reviere, in denen es unaufhörlich und allüberall knallte, in denen man keinen halben Tag weit streifen konnte, ohne sich an ganzen Haufen und Horden blutiger Schießer zu ärgern. Am Kentucky selbst, am Licking, am Big Sandy, auf den Hochplatten gegen den Cumberland hinüber stand längst kein Bison, fegte kein Elkhirsch mehr; in einigen geschützten Seitenschluchten des Grünflusses nur hielten sich etliche wenige verschüchterte, todgeweihte Rudel. Die Axt fraß, die Lichtungen breiteten sich wie Krätze aus, in den Wäldern wühlten die Schweineherden; Landmesser und Landsucher, Landhai und Landgeier durchzogen mit Schuß und Schall, mit rasselnder Meßkette und lauten Stimmen das grüne Rohr, das vor fünfzehn Jahren der jagende Shawnee oder Cherokese 402 nur flüchtig auf gespenstleisem Mokassin durchschweift, wo noch vor einem Jahrzehnt die Salztennen, die unterhöhlten Kalksteintafeln der Hochebene unter der Dumpfdonnerwucht wandernder Tiervölker erdröhnt. Auf engem Raume zwischen dem Kentucky, dem Licking und dem Ohio wohnten ländlich verstreut über zwanzigtausend Menschen, davon mindestens fünftausend waffenfähige Männer, das wollte heißen, wenigstens viertausend leidenschaftliche, rücksichtslose Fleischmacher, alle bestrebt, aus dem gegenwärtigen Zustand recht viel herauszuschinden, späteren Mitschießern möglichst wenig übrig zu lassen . . . So war der erlittene Schlag für Boone letzten Endes doch nur ein heilsamer Anstoß, die Einbuße seiner Art ein Gewinn. In solch einem Kentucky, vereinzelt unter rechthaberisch vorlauten Neulingen, breitspurig prahlenden Veteranen, Schwätzern und Schwindlern hätte er's ohnehin nicht mehr lange ertragen; vom Jäger zum Ackerbauer, vom Ackerbauer zum Stadtbürger zu altern, vom Berglöwen zum Haustier zu verkümmern, dessen war er nicht fähig, dazu war er in tiefinnerstem Wesen viel zu sehr Aristokrat. Wie das wildlebende Tier nur in langsamer Entwicklung und Umpassung sich an des Menschen Nähe und Arbeit gewöhnt, vor plötzlichem Einbruch geschäftiger Zivilisation aber bald zurückweicht und schwindet, so konnte der waldverwurzelte Weidmann mit dem schon ganz amerikanischen Zeitmaß kentuckyschen Wachstums nimmermehr Schritt halten. Auch dies wieder ein irgendwie deutscher oder wenigstens britischer Zug: Logan, Harrod, Kenton, sie alle fanden sich mit den jäh veränderten Verhältnissen irgendwie ab oder in sie hinein: er nicht. Und mußt' es nun ja auch gar nicht; alle Pfähle verbrannt, alle Bande gesprengt, vor ihm verdämmernd der unbegrenzte Westen – er konnte gehen wohin und wieweit er wollte und sich bei einsamer Jagd die Jugend bis zum Lebensende bewahren.
Er tat es. Von da an ist sein Dasein, den Zeitgenossen schon in Dunst und Ferne entrückt, ein stetiges Wandern und Wechseln, von Statt zu Statt, von Lichtung zu Lichtung weiter gen Abend, mit den indianischen Schattenseelen der sinkenden Sonne nach in die ewigen Jagdgründe. Schon seine zunehmende Menschenscheu ließ ihn nirgend ruhen. Wo immer er sich niederließ, gleich war die Meute, Fund und Fraß witternd, hinter ihm her; wo er jagte, da gab es sicher etwas zu holen, da blühte ein neues Kentucky, da setzte sich's gleich vielhundertköpfig mit knallenden Büchsen und hallenden Äxten fest. So mußte er wieder und wieder aufbrechen, mit Waffe und Wald, mit Wolken und Winden allein zu sein. »Boone zieht tiefer in die Wildnis, wo 403 er den Rauch eines anderen aufsteigen sieht,« hieß es sprichwörtlich von ihm; mit sechzig Jahren, ein frischer, helläugiger Greis, wie Hawker ihn uns beschreibt, immer noch der unübertroffene Meisterschütz – und dies mit derselben schweren Büchse, die ihn auf seiner ersten Kundschaft ins Grüne Rohr begleitet und seither alle seine Schicksale treulich geteilt, ja oft genug entschieden – ein Menschenalter vor seinem Tode war er schon zur Sage, zum Gerücht, zum »ewigen Jäger« geworden.
Die Spuren seiner Alterswanderungen sind vielfach verwischt. Einige Jahre lang lebte er noch am Licking River und dann beim heutigen Maysville, damals Limestone am Ohio. Hier scheint er durch die Seinen einen kleinen Kramladen für Ansiedler und etwas wie eine hinterwäldische Gastwirtschaft, auch einen Tauschhandel nach seiner Urheimat Maryland unterhalten zu haben. Er selbst kümmerte sich schwerlich viel darum. Zu seinem Hausstand gehörten ja drei Frauen mit ihren Kindern, mochten die das Geschäft führen. Nur die Packpferdzüge mit ihren wertvollen Ladungen an Rauchware und Ginseng geleitete er wohl selber durch die alleghanischen Schluchten und Pässe nach Hagerstown hinüber. Pittsburg lag freilich viel näher und obendrein an bequemer Wasserstraße, aber die pennsylvanischen Kaufherren hatten von den erbitterten kentuckyschen Nachbarn vorderhand keine Zufuhr zu erhoffen. Bei solchen Gelegenheiten wurden die Buben, Boones letztverbliebenen Söhne, gleich angelernt. Nebenher machte er sich mit sachkundiger Beratung landkauflustiger Kapitalisten und Nachweis von anspruchsfreien Strichen erstklassigen Bodens seinen guten Groschen, man sagt zwei Schilling vom Tagwerk. Während er selbst nicht mehr daran dachte, sich einen ständigen Wohnsitz durch Erfüllung der geforderten Formalitäten zu sichern, zog er mit dem tiefverhaßten Landmesser durch die schon stark zerfetzte, zerschnittene Wildnis, ihm da und dort unbelegte Gebiete zu zeigen, die er auf seinen Jagd- und Fangzügen entdeckt. So war er den undankbaren Mitmenschen auch jetzt noch ein treuer Eckart; vor einem Schaden, wie er selbst ihn erfahren, hat er manchen anderen gewissenhaft bewahrt.
Aber die Hauptsache blieb doch die liebe Jagd mit dem nebenherlaufenden Trappen, dem Fang. Tatsächlich gewährte sie neben der Befriedigung des eingefleischten Triebes einen im Verhältnis zum damaligen Geldwert nicht unbedeutenden Ertrag. Für ein Biberfell nahm Boone 18, für ein Schwarzbärfell allerdings nur 10, für eine rohe Virginierhirschdecke 3, für ein Schoppenfell 4 Schilling. Man wird nicht fehlgehen, wenn man den jährlichen Nutzen des im 404 Vergleich zu anderen Händlern höchst bescheidenen Boone auf gut 20 000 Schilling schätzt.
Von Maysville oder Point Pleasant aus wird er zumeist wohl jenseits des Ohio im unverbrauchten, frischeren Indianerland geweidwerkt haben; kannte er doch auch dort jeden Weg und Wechsel. Von den Roten hatte er nichts mehr zu befürchten. Nun war er ja mit ihnen buchstäblich auf gleich, ein Vertriebener wie sie, mit ihnen in Groll und Trauer über die reißende Abnahme des Wildes, die beständige Unruhe, den Fall der Wälder. Das gemeinsame Los söhnte die alten Feinde miteinander aus; seit Clarks letztem Vergeltungszuge im Trauerherbst nach den Blauen Lecken hat der alte Lederstrumpf nie wieder seine lange Büchse gegen einen roten Mann erhoben. Wahrscheinlich gehörten indianische Pelztauscher zu seinen Stammkunden; an Trug und Schädigung gewöhnt, fanden sie in ihm einen streng sachlichen, wohlwollenden Geschäftsfreund; das gewann ihm ihr verbittertes Herz. Einstmals bewirtete er eine Bande von fünfundsiebzig Schawanesen und Miamis, ihrem Führer, seinem alten Gönner »Blaujacke« zu Ehren mit einem spießgebratenen fetten Ochsen; die braunen Kinder wurden darob sehr aufgekratzt und feierten ihrerseits den splendiden Gastgeber mit einem Tanz, dem der erfahrene Meister freilich nicht anders als mit schußbereiter Büchse im Griffbereich und unmerklich gelockertem Tomahawk zusah. Allein das Fest verlief durchaus friedlich, klang in Versicherungen gegenseitiger Hochschätzung aus und hatte zur Folge sogar eine Art Sonderpakt zwischen Boone und seinen einstigen Feinden. Bei dieser Gelegenheit erfuhr der ehemalige »Eisenarm«, daß Freund »Schwarzfisch« vor Bryants Fort, seine eigenen Adoptivbrüder und -söhne gemischten Angedenkens in den Kämpfen gegen Clark gefallen. Auch ließ »Blaujacke« sich zur Mitteilung herab, daß der Stamm den flüchtigen Wahlbruder damals sicherlich gefoltert und verbrannt hätte, wäre er nur einzuholen gewesen . . . Ja, und diese armen Teufel hatten ihm zwei Söhne, hatten ihm Bruder und Schwager erschossen; und unter diesem unglücklichen Volke hatte seine nimmerfehlende Kugel furchtbar aufgeräumt . . . Notwehr, Blutrache, Verhängnis. Aber all das war längst vorüber, vergessen, verjährt . . . Zum Abschied versprachen die Indianer aus eigenem Antrieb, jeden von »Eisenarms« Dorfgenossen verschonen, freigeben und beschützen, ihn selbst aber jederzeit mit höchsten Ehren aufnehmen zu wollen, und selbst nicht getäuscht hielten sie redlich ihr Wort. Wer mag sagen, was da verschwiegen in Boones Gemüt 405 vorging? . . . Weithin über die Grenze wetterleuchtete damals immer noch der Kleinkrieg mit seinen Überfällen, Skalpjagden, Verfolgungen, ja bald wieder sollte er zu heulender Hochlohe aufflammen – aber der Vorkämpe der Hinterwälder nahm keinen Anteil daran, ließ Weiß und Rot einander totschlagen und jagte geruhig weiter, solange es an seinem jeweiligen Wohnsitz etwas zu jagen gab, vor schwärmender Menschheit auszuhalten war. Mag sein, daß man ihm das schwer verübelte; er kümmerte sich jedenfalls nicht darum. Nun besaß ja die Union Soldaten genug, mochten die sehen, wie sie's schafften; er selbst hatte noch von den Blauen Lecken her seinen Teil und Text. Diese war seine letzte bezeugte Begegnung mit dem roten Gegner; nach so viel Blut, Beil und Blei das Friedensmahl.
Auch sein Verkehr mit den alten Waffengefährten starb leise ab. Wohl freute er sich über jeden Gruß und Besuch, aber er selbst tat wenig zur Pflege solcher Beziehungen. Cincinnatusvereine und Veteranenmeierei, nein, das war nicht nach seinem geläuterten Geschmack. Und dann, man war mit der Entfaltung der gemeinsam begründeten Zelle auseinandergewachsen; Pflichten, Neigungen, Gaben, Schicksale lockerten und lösten den entbehrlich gewordenen Kampfbund. Logan baute seinen Tabak, pflanzte als Mitglied politischer Konvente aber auch Gesetze, wurde Abgeordneter und in den Zerwürfnissen Kentuckys mit dem Osten Führer der Ordnungspartei, endlich kentuckyscher und beinahe Kongreß-Senator; Harrod lebte seiner Familie und der Landwirtschaft, unternahm aber jährlich noch einige einsame Ausflüge in die Tiefe der westlichen Wälder; Kenton, als Führer der kentuckyschen Reiterschützen fast immer im Sattel und unterwegs, gelangte durch jähen Wertzuwachs der ihm statt baren Soldes zugewiesenen ausgedehnten Ländereien ohne sein Hinzutun zu ungeheuren, freilich auch unbegriffenen Reichtümern; mit Clark aber, dessen Schicksal dem Boones in manchen Zügen noch am meisten glich, konnte man sich seit Ende des Unabhängigkeitskrieges überhaupt nicht mehr vernünftig vertragen. Der genialische rote Grenzergeneral war ganz und gar vor die Hunde gegangen.
Der alte Hang zur Flasche, das ungenommene Detroit, der unerfüllte Lebenswunsch, der Bruch mitten durch den aufsteigenden Ruhm, die erlittene Zurücksetzung und Verdrängung, verunglückte Landspekulationen, verlorene Prozesse, Schulden, Groll, Wut, Untätigkeit und nun verdoppelt die unselige Flasche: – das alles noch verschärft und verbösert nach einer elend gescheiterten Unternehmung 406 des Jahres 1786, als Clark, seit 1783 außer Kommando, durch einen »Strafzug« gegen die Indianer am Wabash auf eigene Faust sein Ansehen wiederherstellen wollte. Noch rief sein Name 1000 freiwillige Grenzschützen zusammen; als man aber dann nach vielen, früher unerhörten Umstandsmeiereien und zweiwöchigem, zuchtschwächendem Warten auf den verzögerten Proviantnachschub – bei dem vermutlich auch gewisse Fäßlein oder Demijohns – an den Feind gekommen war, fand man den »Hannibal des Westens« stockbeknüllt in seinem Zelte liegen. Die Miliz meuterte sofort und lief heim; alle Glorie löste sich in Dreck auf. Logan zwar an der Spitze von ein paar hundert Besonnenen wetzte die Scharte nach Möglichkeit aus, aber mit Clark war es so ziemlich endgültig vorbei. Von den Gesund- und Verjüngungskräften eines Boone besaß er nicht die Spur. Oft konnte man ihn sternhagelvoll in den Blockhaussträßchen von Louisville herumtorkeln oder irgendwo als dunklen Ekelhauf liegen sehen. . . . Der schon erwähnte General Collot erzählt davon eine rührende Geschichte: wie ein aus seiner Werkstatt herzuspringender Meister Knieriem die Rumleiche einstigen Ruhmes mit einer darübergespreiteten Wolldecke vor der Verachtung der Mitbürger und der Neugier der Fremden schützte. »Sie sollen ihn nicht sehen, Sir; es ist ein Held und großer Mann. Hat er selbst auch der großen Dienste vergessen, die er uns einst geleistet, uns bleibt die Pflicht dankbarer Erinnerung . . .« Nun, vergessen hat Clark seine kurze Glanzzeit nie: gerade um sie litt, zürnte und verkam er. Seine Stellung im allgemeinen Vertrauen nahm Isaak Shelby ein, Sohn des alten Maryländers Evan Shelby, des eigentlichen Siegers oder wenigstens Retters der Schlacht am Großen Kanawha, ein starker, gesunder, fester Mann, später der erste Gouverneur von Kentucky. Gerade er und Clark, der ihn einmal bei einem Pferdehandel saftig übers Ohr gehauen, waren einander nie sonderlich grün gewesen; nun wurde dieser neben jenem vernachlässigt und verschmäht, und droben am Wabash und Maumee erntete statt seiner der »tolle« Anthony Wayne die Lorbeeren der letzten harten Entscheidungskämpfe um das Indianerland. Das war zuviel. Als im Jahre 1793 die Pariser Jakobiner durch den »Bürger Genet« die Vereinigten Staaten zu revolutionieren, den an und für sich stark separatistischen Westen vom Osten abzuteilen und zur Wiedereroberung Louisianas zu verwenden suchten, gab sich der haßerfüllte General d. R. zu ihrem willigen Werkzeug her. Weiter als bis zum hochtönenden Titel eines »Major-Generals in den Armeen von Frankreich und 407 général en chef der revolutionären Legionen des Mississippi« gelangte er allerdings nicht. Washington zwar sah sich veranlaßt, einige der westlichen Forts gegen eben denselben Mann, der sie einst für die Republik erobert, auf alle Fälle instandzusetzen, indessen Shelby sah dem Spuk viel gelassener zu, das jakobinische Fieber legte sich, und schließlich ekelte gerade ein Franzose, der famose kleine Martin, den mit der Bearbeitung Kentuckys betrauten »Bürger Depeau« zum Lande hinaus. Für Clark aber war die natürliche Folge zur Schmach und Schande der Spott. Trotzdem beließ man ihn in der Schenkung der ungeheuren, an 150 000 Tagwerk umfassenden Ländereien in der »Grafschaft« Illinois, und dank den Siegen seines glücklichen Nebenbuhlers Wayne stiegen sie reißend im Wert.
Der wackere kleine Kanadier war es auch, der den gesunkenen Mann wieder halbwegs aufrichtete. Gerade ihm traute der vergichtete, vergrollte Hinterwäldlergeneral noch am ehesten, vor ihm hegte er am wenigsten Scheu und Scham, denn der Waldläufer hatte bei den prüden Grenzern lange im Geruch zuchtlosen Vorlebens gestanden, und so einiges wußten die Tabagien, Spielhöllen, Spelunken und mancherlei Damen von New Orleans und Vincennes ja wirklich von ihm zu erzählen. Aber »quand le Diable vient vieux, il se fait érémite«, wenn der Teufel altert, macht er den Einsiedler: – Martin, Jean Martin, einst der Anbeter von Marie la bruyante und Lisette au grand canon, Martin, der vom wilden Spieler und Trinker zum strengen Kentuckyer geworden, Martin spielte den Missionar, den Bekehrer, den Beichtvater, und siehe, ihm lag auch diese Rolle, ihm gelang auch dieser Streich, diese Verwandlung. Podagrisch und borstig wie er war, schob mon Général die Flasche wirklich mehr und mehr beiseite, endlich ganz in den Hintergrund, und so verbrachte er denn auf seinem Locust Grove bei Louisville, von wo er einst unterm Zeichen der großen Sonnenfinsternis zur Eroberung des Westens aufgebrochen, zwischen Zipperlein und gelegentlichen Wutausbrüchen immerhin noch einige erträgliche Jahre. Bald sollte sein jüngerer Bruder den Ruhm des Namens erneuern, von jenem fernen West aus im allerfernsten West, in der uferlosen Prärie. –
Martin selbst lebte in guten und geordneten Verhältnissen. Aus dem unsteten, oft blutig armen Coureur war der erste kentuckysche Großhandelsherr geworden. Zuerst zwar hatte auch er mit Negersklaven Tabak und Weizen gebaut, aber nom d'un boeuf, das war ja viel zu langstielig, der alte Waldläufer brauchte Bewegung, Abwechslung, 408 Verkehr! . . . So verklopfte er denn den ganzen Kram, und weil er im Gegensatz zu vielen anderen Hinterwäldlern in der Behauptung seiner Ansprüche immer außerordentlich zähe, genau und vorsichtig gewesen, erhielt er einen gewaltigen Batzen Geld, der ihm weiter zu einem breitbehaglichen Hause in Louisville, zur Anlage einer Faktorei, zur Einrichtung einer richtigen Reederei verhalf. Den Handel mit dem damals spanischen New Orleans hatte er ja selbst mit in die Wege geleitet; nun betrieb er ihn auch, und zwar beinahe ausschließlich.
Ja, das war ein Leben nach seinem Herzen; in jährlichen Rundreisen die kentuckysche Ware, Felle, Weizen, Hanf, Tabak aufkaufen, säuberlich sammeln und stapeln und dann im Spätherbst den Ohio und Mississippi nach der »Stadt des zunehmenden Mondes« verschiffen, das war ein ander Werk, nom d'un nom d'une moustache! . . . Und das Unternehmen blühte. Bald mehrten und dehnten sich die Speicher; zur Faktorei kam eine eigene Kunstmühle; hinauf und hinunter die Belle Rivière schwammen Martins Handelsboote; daran nicht genug, ein schwunghafter Pferdehandel nach Pennsylvanien, Maryland, Virginien wurde eröffnet und energisch ausgebaut: und bei alledem und jedem mußte der Kanadier persönlich dabei sein, selbst mit anfassen, selbst anordnen, sehen, überwachen, befehlen, leiten, erledigen . . . Pour avoir bonne raison d'échapper, wenigstens ein guter Grund zum Verduften, zum gewohnten Reisen und Schweifen, see, eh? . . .
Sein Reichtum wuchs ins Amerikanische; nur daß er unter dem goldenen einen ganz klein bißchen löcherigen Boden hatte. Nichts mehr von Tabagien, Karten, üppigen Mulattinnen, elfenbeingelben Kreolinnen, keine Gelage und Quadrillen mehr bei Papa Coquet, pas du tout; damit kokettierte man vielleicht ein wenig aus wehmütiger Ferne – man ist doch einmal ein Coureur gewesen, nicht wahr, man hat doch auch damit und dort seine guten Tage und noch bessere Nächte verbracht, nom d'un couteau – allein man weiß wohl, was man seinem Ansehen schuldig ist, comment? . . . Nein; aber Martin war immer noch der kreuzgute, schnurrige Kerl, den einst Boone in ihm erkannt und schätzen gelernt, und jetzt übte er Gastfreiheit und Mildtätigkeit ohne Grenzen. Die alten Waffengefährten, arme Einwanderer, Ansiedler, die durch die verworrenen Landstreitigkeiten und verlorene Prozesse obdachlos geworden, fanden bei ihm stets ein offenes Haus und eine noch offenere, geradezu verschwenderische Hand. Vor allem jedoch den Emigranten, den französischen Edelleuten, die vor Bluttribunal und 409 Guillotine nach dem Paradies der Freiheit geflohen, opferte er, der einstige arme mißhandelte Bauernbursch einen sehr beträchtlichen Teil seines jährlichen Nutzens und seiner Ersparnisse. Was bekümmerte es ihn, daß seine eigene Familie durch solch einen Seigneur ins Elend, seine Schwester in Schande, er selber in seine Bahn geraten? . . . Das war vorbei, das war gesühnt und gelöscht, ihm war es schließlich doch zum Guten ausgeschlagen, das ging überhaupt niemand etwas an – und, ma foi, es waren Landsleute, Franzosen, Herren, denen er sich nun gerade verpflichtet fühlte! . . . Der Schatten des gehenkten Duquesne schwankte immer noch dunkel in seiner Seele.
Solch einen armen Emigré nahm er als Hauslehrer in seine Familie auf. Die kleinen Martinchen mit ihrem halb-iroschottischen Mundwerk sollten ein anständiges Französisch lernen, ein besseres als ihr Vater, der simples »Canadien« sprach. Da saß nun der vornehme Flüchtling wohlgeborgen beim einstigen Leibeigenen, aß Bärenschinken statt Trüffelpasteten und las mit den Bauernenkeln den alten Télémacque oder auch etwas Gescheiteres. Aber gerade damals spukte der »Bürger Depeau« jakobinisch grimmig in Louisville, dessen bourbonistischer Name ihm schon ein Greuel. Jakobinerklubs schossen in ganz Amerika wie Pilzbrut aus der noch von der eigenen Revolution her durchmürbten Erde, und hier in den Hinterwäldern erst recht; sollte doch der ob Vernachlässigung unzufriedene Westen vom knickerischen Osten abgewiegelt, zum Sturm auf Louisiana gebraucht und dann natürlich eingesackt werden. Wie, was, ein Adeliger, einer von den Unterdrückern, den Volksfeinden hier am Orte, einer, dessen Kopf unter das Fallbeil gehörte, und nun gar im Hause eines republikanischen Bürgers! . . . Anhaben konnte der Agent dem verhaßten Seigneur natürlich nichts, aber diesem kam das Gewüte zu Ohren, er wurde ängstlich und trug seine Sorgen dem Beschützer vor. Nun aber kam die Reihe an den »Citoyen Depeau«. Er sollte erfahren, daß es auch in Kentucky eine Vendée gebe. Martin fuhr schwerstes Geschütz auf. Was, einen lieben Gast seines Hauses bedrohen! . . . Der Jakobiner erhielt einen deutlichen Wink mit dem hänfenen Halstuch und einen vernehmlichen Gruß von einem gewissen Richter Lynch, es wurde ihm schonend mitgeteilt, daß der Kanadier schon durch viele Köpfe saubere Löcher geschossen und seither nichts von seiner Übung verloren, der blutige Mut entsank ihm in den Hosenboden, er stülpte die phrygische Mütze oder den Federhut auf und verließ dies rückständige Barbarenland, wo man für die Beglückung des Menschengeschlechtes so wenig 410 Verständnis hatte. Martin aber fuhr fort, die vertriebenen Edellandsleute nach Kräften, ja bisweilen über seine Kräfte hinaus zu unterstützen; und zwar beschränkte er seine Wohltätigkeit nicht auf die doch nur sehr vereinzelt im Westen auftauchenden Seigneurs, nein, er fahndete den notleidenden Emigranten in allen vereinigten Staaten, im ganzen damaligen Nordamerika nach, überallhin, nach Pennsylvanien, nach Maryland, nach Virginien, nach den neuenglischen Städten, selbst nach Kanada gingen, wanderten, ritten und schwammen seine lindernden, helfenden Dollars und Pfunde. Aus dem wilden skalpbehangenen Späher und Spürer war ein ebenso unfehlbarer Meisterkundschafter des Christentums geworden. . . .
So erwirtschaftete er sich zwar keine Carnegieschen oder Rockefellerschen Multimillionen; aber zu behaglichem Leben und reichlicher Versorgung seiner Familie blieb ihm immer noch genug und übergenug. Der arme Waldläufer, der so oft nach einer verjubelten Woche ausgebeutelt und verkatert in die Wildnis gezogen, um wieder einmal von vorne anzufangen, saß jetzt geborgen in gemütlichem Nest, in einem breiten, gesicherten Betrieb, Gebieter über Speicher, Warenballen, Flottillen und Herden, statt der paar hundert bleiernen, hundertmal soviel goldener Kugeln, Sovereigns, Guineen, Piaster im Beutel. . . . Und all das verdankte er Boone.
Er vergaß es ihm nicht. Den der alternde Lederstrumpf noch am liebsten bei sich sah, der ihm am längsten und wirksamsten die Treue wahrte, war der kleine Kanadier: der einst so mißtrauisch betrachtete nächtliche Gast am Lagerfeuer in den Barrens des Pond-River. Wann immer Martin im Frühling aus der südlichen Lagunenstadt mit seiner Schiffsladung Geldes zurückkehrte, ein voller Monat wurde bei Vater Boone zugebracht, das ließ er sich nicht nehmen, und für ihn, für ihn allein und ausdrücklich war der menschenscheue Jäger immer pünktlich daheim. Dann saßen die beiden frischen Alten – Martin, 1725 geboren, war noch um fünf oder neun Jahre älter als der berühmte Freund – dann saßen die beiden rüstigen ewigjungen Altkämpen wohl vor knackendem Kaminfeuer und snackten von Taten und Streichen ihrer großen Zeit, der Kanadier lebhaft nach seiner Weise, der wortkarge Boone mit stillem Lächeln um die stets sauber rasierten Lippen und trockenem Einwurf dann und wann. . . . Der Franzose packte alle großen Neuigkeiten der Grenze aus, von Harmar und St. Clair, die von den Miamis so fürchterlich zugerichtet worden, von Anthony Wayne, von Miller, dem wiedergefundenen indianischen 411 Bruder, von Wells, der »schwarzen Schlange«, von »Kleinschildkröte«, dem heldenmütigen Häuptling, von Kenton, der zu unermeßlichen Reichtümern gelangt, von Ränken und Treibereien, von Jay und Wilkinson, von den Kämpfen um die Mississippi-Schiffahrt; und »Eisenarm« hörte versonnen zu und spann ins lange krause Garn des anderen seine eigenen Gedanken. . . . Oder sie zogen mitsammen über Tage in die Wälder, jagten, spielten zur Übung und Erinnerung ein wenig Kundschaft, lagerten abends unter Wipfeln und Wolken an geheimnisvoll knisterndem Brand, lauschten heimweherfüllt dem Singen der Flamme, dem Flüstern im Grünen Rohr, dem Raunen der Geister, den Stimmen der sterbenden Wildnis. . . .
Ja, die Wildnis starb, und ohne Wildnis konnte Boone nun einmal nicht leben. Am Ohio war es ihm längst schon wieder zu laut und zu bunt geworden. Der Krieg gegen die heldentrotzigen Miamis und ihre Verbündeten erfüllte die einst so weihestille Landschaft mit durchmarschierenden, zurückflutenden, kantonierenden Bataillonen. Die Einwanderung nahm erstickend zu. Schon besaß Kentucky Kirchen, Schulen, ja sogar ein »Seminar«, Rennbahnen, Werkstätten, eine Druckerei, eine eigene Zeitung, einen eigenen Kalender, Schnittwarengeschäfte, Tanzzirkel, Gentlemen in Biberhüten und Ladies in Taffeten und feinen Handschuhen, kurz jeden Erbschaden, jede Gefahr, jeden keimenden Verderb. Im Grase der ehrwürdig unheimlichen alten Opfer- und Grufthügel weidete würdeloses Hausrind, in den Torfgräbern versunkener Vorwelt wühlte das plebejische Schwein; was an Großwild noch übrig, flüchtete, was an Urwald noch stand, schwand wie Schnee im Märzen dahin. Hier in seiner Schöpfung, im wuchernden Unkrautgefild seiner Aussaat konnte Boone nimmer bleiben; er wäre unter soviel Segnungen schwermütig geworden. Über das reiche Indianerland vom Scioto bis zum Wabash aber stürzten sich gleich nach Waynes entscheidendem Endsieg und dem von ihm diktierten grausamen Friedensschluß unermeßliche Wellenzüge habgierigen, raffenden und verwüstenden Ansiedlerpöbels. So waren auch diese Reviere für Boone verloren.
Er brach abermals seine Zelte ab und wanderte mit den Seinen südwestlich, an den Grünfluß, an den Cumberland, an den Tennessee, immer wieder aufgehetzt und verscheucht von den Wölfen der »Zivilisation«: Go ahead! . . . Hinter ihm krachten die Stämme, starb das Getier, traten Städte, Straßen und Schuld an Stelle des Paradieses. . . . Go ahead! . . . Im Jahre 1795 stand der gejagte alte 412 Jäger am Ufer des ungeheuren Mississippi, und auch hier, in den südschwülen graubärtigen Urwäldern gegenüber den fieberbrauenden Bayoux fand er keine Ruhe vor hallenden Äxten und nachrauschenden Meßketten, vor rauhem Gejohl und verhaßter Anbiederung. Sehnsüchtig schweifte sein Blick über den riesigen Flutspiegel; hüben Lärm und Drang, jenseits im menschenleeren spanischen Louisiana hinter unberührten Auwildnissen die unabsehbare Savanne, die vieltausendköpfigen Herden des Großen Geistes in dunkler Gottesstille, die wartende wahre Heimat, ein neues Gosen, das Ziel. . . . Und so reifte in ihm der große, letzte Entschluß: das friedlose, rastlose Amerika, das Reich, an dessen Gründung, Festigung, Sicherung und Erweiterung er in seiner Art, nach seinen Gaben so entscheidend mitgearbeitet, für immer zu verlassen und drüben bei den beschaulicheren trägen Spaniern Schutz vor seinem eigenen unersättlichen, unaufhaltsamen Volke zu suchen.
Gewiß war es Martin, der ihm den Gedanken eingegeben; kannte er doch selbst die Savanne vom Coteau droben bis hinunter zu den Ozarkbergen. Ja, das war das Richtige, das Einzige für den alten Freund; da konnte er gesunden, sich nach Herzenslust wieder ausleben. So tat er jetzt auch alles, ihm zu seinem Himmelreiche zu verhelfen. Großer Anstrengungen bedurfte es nicht. Die spanischen Behörden setzten der Einsiedlung des berühmten Jägerhelden nicht nur keine Schwierigkeit entgegen, sie gingen auf Martins Anfühlung mit feuriger ritterlicher Begeisterung ein, ja sie entwarfen gleich eine wahrhaft fürstliche Landschenkung, mit der sie den hohen Gast gebührend ehren wollten. So war denn alles zum Abschied und Übergang bereit; Kentucky ließ seinen Begründer, Erwecker und ersten Pionier klanglos ziehen, das heldensinnige Volk der Conquistadoren baute ihm goldene Pforten.
Auch für Boote und Floßfähren sorgte Martin. Boone brauchte keinen Finger zu rühren, keinen Cent auszugeben. Dem spanischen Militärposten Neu-Madrid gegenüber fand der Übergang statt. Ruhig trug der alte Vater der Ströme den Jäger und seine Sendung nach der anderen Welt, nach dem Abendgefilde der Seligen. 413