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Als unser Student am nächsten Morgen noch lange vor Anbruch des Tages vollkommen ernüchtert erwachte, fiel ihm auf der Stelle der vorige, so seltsam verlebte Abend ein, und da war es zuerst, als ob Alles, was ihm in seinem Zimmer begegnet, nur ein angenehmer ihn neckender Traum gewesen sei. Sonderbar! Und doch lag ihm die heitere Melodie der Tanzmusik, unter deren Klängen er eingeschlafen war, noch immer in den Ohren. Wie wäre er, dachte er, der so wenig Tanzmusik gehört, zu dieser Melodie gekommen, wenn er sie nicht wirklich noch vor kurzer Zeit gehört hätte?
Er horchte gespannt auf, ob er sie noch immer hören könne, aber nein, Alles um ihn her und auch jenseits der Straße im Nachbarhause war und blieb still, denn die Gäste, die am Abend vorher darin heiter und lustig gewesen, lagen sammt den Musikanten, die ihnen zum Tanze aufgespielt, lange in ihren Betten und schliefen ihre Müdigkeit tief in den Aschermittwoch hinein aus.
Und dennoch zweifelte Paul noch immer an der Wahrheit, der Möglichkeit des Geschehenen, denn daß ihn der einzige Sohn des reichen Mannes drüben aus freiem Antriebe und aus so seltsamer mitleidiger Ergebenheit besucht haben solle, erschien ihm heute noch viel seltsamer und räthselhafter, als es ihm im Augenblick des Erlebnisses selbst erschienen war.
Da aber machte mit einem Male der Duft der noch immer frischen Veilchen, die auf dem kleinen Tische seinem Bette zunächst standen, allen Zweifeln ein Ende, und im Dunkeln rasch nach dem Glase greifend, drückte er sein Gesicht tief in die Blumen und athmete, wie einen lieben Morgengruß, ihren balsamischen Wohlgeruch ein.
»Ja,« sagte er zu sich, noch bevor er Licht anzündete und während er das Bouquet in der Hand hielt, »es ist doch wahr und wirklich, was ich geträumt zu haben glaubte. – Hier sind die Blumen – dort werden die Speisen stehen, von denen ich genossen und – ich darf es mir gestehen – die reine unneigennützige Zuneigung eines Knaben hat mir diese Ueberraschung, diese Freude bereitet und ich habe mir an ihm, freilich einen jugendlichen, aber nichtsdestoweniger vielleicht sehr warmherzigen Freund erworben.«
Jetzt ließ es ihn nicht länger im Bette mehr. Er zündete Licht an, stand auf, kleidete sich an und nun erst nahm er noch einmal den reich besetzten Tisch in Augenschein, der ihm die ganze Wahrheit des gestern Erlebten unläugbar bestätigte. –
Etwa eine halbe Stunde später trat der gewöhnliche erste Morgenbesuch in sein Zimmer – Frau Zeisig, die Waschfrau, seine Aufwärterin, die ihm alle Tage um diese Zeit den Kaffee zu bringen und seine Tageskleider zum Reinigen mit hinauszunehmen pflegte. In der Regel fand sie ihren jungen Miether schon bei der Arbeit am Schreibpult oder Zeichentisch – heute aber stand er mitten im Zimmer und noch dazu sah er sie mit einem ungewöhnlich freundlichen Gesicht an, auf dem eine sichtliche Neugier lag, was sie, die Frau Zeisig, zu dem so seltsam besetzten Tische sagen werde. Auch sollte er diese Aeußerung nicht vergeblich erwartet haben, denn kaum hatte die scharfsichtige Frau einen Blick auf den Tisch geworfen, so schrie sie laut auf, schlug die Hände vor Verwunderung zusammen und rief:
»Ei Du lieber Gott, Herr Baumeister,« – so pflegte die schmeichlerische Frau Zeisig den Eleven der Bauakademie im Voraus zu benennen – »was ist denn das hier? Das sieht ja, Gott soll mich strafen, wenn es nicht wahr ist, gerade so aus, als hätte Jemand ›Tischlein, Tischlein, decke Dich!‹ gerufen. Ei wahrhaftig,« fuhr sie fort, indem sie mit der daneben stehenden Lampe die noch halb gefüllten Teller näher beleuchtete, »das ist ja ganz was Delicates, wie ich es lange nicht gesehen habe. Das hat gewiß ein feiner Koch oder eine gelernte Köchin gebraten und angerichtet, wenn es Ihnen am Ende nicht gar eine galante Fee bescheert hat! Aber halt – diese Teller mit den grün goldenen Rändern sollte ich doch kennen? Ei ja natürlich! Die sind ja von Banquiers drüben, und in der Mitte ist ja auch das Wappen der gnädigen Frau gemalt! Sie ist nämlich ein gebornes adliges Fräulein, müssen Sie wissen, Herr Baumeister, und Beide, sie und ihr Herr Ehegemahl, haben eine gute Partie an einander gemacht, denn sie hat einen reichen Mann, und er hat ein vornehmes Fräulein aus einer Baronen-Familie geheirathet.«
Der Student stand unbeweglich, mit still lächelndem Gesicht vor ihr und hörte geduldig ihre lange Rede an. Als sie aber endlich fertig war, nickte er ihr gemüthlich zu und sagte mit seiner gewöhnlichen Ruhe:
»Sie haben es errathen, Frau Zeisig. Diese Geräthe und Speisen sind wirklich aus dem Banquierhause drüben –«
»Nun, mein Gott, ja, das sehe ich wohl, aber wie sind sie denn hierübergekommen? Sind sie etwa durch die Luft geflogen?« rief die Frau mit weit aufgerissenen Augen und lebhaft gestikulirenden Händen.«
»Nein, das sind sie natürlich nicht, man hat sie mir ganz einfach zugeschickt. Und nun beruhigen Sie sich, Frau Zeisig, und nehmen Sie diese Teller mit fort, suchen Sie sich etwas Beliebiges davon aus – nur der Wein mag in der Stube bleiben – und das Andere bewahren Sie mir bis zum Abend auf. Die leeren Teller aber waschen Sie ab und tragen Sie sie mit dem Korbe und meinem herzlichsten Dank so bald wie möglich hinüber.«
»Nun das versteht sich von selber, daß ich sie waschen und mit Dank hinüber tragen werde – ich danke auch Ihnen für den Mitgenuß – aber Sie werden nun doch selbst einmal hinübergehen und sich bei der gnädigen Frau bedanken? Sie ist eine kreuzbrave und gute Dame, das können Sie mir glauben, gar nicht hochnasig und vornehm wie andere adlig Geborene. Ihre Schwester da oben trägt die Nase schon viel höher, obwohl sie bei Weitem nicht so reich ist; aber daran ist wahrscheinlich ihr adeliger Herr Gemahl schuld, der einen hohen Posten bekleidet. Nun, die Banquiersfrau wird Ihnen gewiß gefallen.«
»Ich glaube es auch,« sagte der Student halb leise vor sich hin und schickte sich an, seinen Kaffee zu trinken, während Frau Zeisig die Teller vorsichtig zusammenstellte und in den Korb packte, den sie endlich mit verwunderungsvollem Kopfschütteln in die Küche trug, um ihren Mann, der Nachtwächter war, aus dem eben begonnenen Schlummer zu wecken und ihm das neueste Ereigniß des Tages zu berichten.
Der Student dagegen saß bald wieder bei seiner gestern vernachlässigten Arbeit, die er nun am frühsten Morgen vollenden mußte, und erst gegen acht Uhr schickte er sich an, seine Collegien zu besuchen, die ihn bis zwölf Uhr in Anspruch nahmen, worauf er sein einfaches Mittagsbrod in einer Restauration verzehrte und gegen ein Uhr nach Hause ging, um den von Vorlesungen freien Nachmittag mit eigenen Studien hinzubringen.
Seine erste Bewegung, als er nun sein gereinigtes und warmes Zimmer betrat, war nach dem Fenster hin, wo jetzt sein Veilchenstrauß Platz gefunden; als er sich aber zu ihm niedergebückt hatte und dann nach dem Hause des Kaufmanns drüben sah, gewahrte er, daß Fritz Ebeling auch schon auf seinem Posten stand und voller Spannung sein Erscheinen am Fenster zu erwarten schien. Kaum aber nahm er den Studenten wahr, so nickte er vertraulich mit dem Kopfe und machte eine fragende Geberde mit der Hand, welches Beides Paul freundlichst erwiderte und die verstandene Frage auf der Stelle durch ein Nicken des Kopfes und ein Winken mit der Hand bejahte.
Fritz Ebeling schien ein Meister im Verständniß dieser Geberdensprache zu sein, denn fünf Minuten später klopfte er an die Thür des Studenten und bald darauf saß er neben ihm auf dem Sopha.
»Guten Morgen!« war des vor Glück strahlenden Secundaners erstes Wort. »Ich will Sie keine fünf Minuten stören, sondern nur fragen, ob es Ihnen gestern Abend geschmeckt hat und ob Sie darauf gut geschlafen haben?«
»Ich kann beide Fragen mit demselben Worte beantworten: vortrefflich, ja, und nein ist es an mir, Ihnen noch meinen besonderen Dank auszusprechen.«
Fritz schaute beglückt und doch wie beschämt zu Boden. »Ach,« sagte er sanft, »das sollten Sie mir lieber nicht sagen; den besten Dank habe ich auf eine andere Weste erhalten, denn ich habe mich gestern Abend nach dem Besuch bei Ihnen mehr als jemals amüsirt. Es war ein herrliches Fest, welches meine Eltern gegeben, und es ist schade, daß Sie noch nicht daran Theil nehmen konnten. Nun, später wird das gewiß geschehen, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht,« lautete die bescheidene Antwort, – »was und wie ich Ihnen darauf antworten soll.«
»O, antworten Sie mir gar nicht, das wird sich Alles von selbst machen. Ich werde schon dafür sorgen. Doch nun sagen Sie mir, was haben Sie denn zu den Veilchen gesagt? Sind sie nicht wunderschön?«
»Ju, die Veilchen!« rief Paul, wie aus tiefen Gedanken auffahrend. »Sind sie auch ein Geschenk von Ihnen?«
»O nein, sie sind nicht von mir –«
»Von Wem denn?« fragte der Student verwundert.
»Ei, ich soll es Ihnen eigentlich nicht verrathen,« fuhr Fritz leiser redend fort, »aber ich sehe den Grund gar nicht ein, warum ich es nicht soll. Betty hat sie mir gegeben, als sie hörte, daß ich Ihnen den Korb brachte, und ohne Zweifel that sie es, weil sie Ihnen eine Freude damit zu bereiten glaubte.«
»Betty? Wer ist Betty?«
»Das ist meine Cousine, die Tochter des Oberforstmeisters von Hayden, der da oben wohnt und die Schwester meiner Mutter zur Frau hat.«
Der Student sann einen Augenblick nach, ob er eine ihm auf der Lippe schwebende Frage aussprechen solle. Dann aber sagte er ruhig und sein dunkles Auge voll gegen den Secundaner aufschlagend:
»Ist das vielleicht die junge schöne Dame, die bisweilen an jenem Fenster sichtbar ist, aus dem Sie so eben herübergegrüßt haben?«
»Gewiß, das ist sie, und da drüben ist ihr Zimmer, in welches ich so oft gegangen bin, um am leichtesten zu Ihnen herüberzusehen, da die Fenster gerade gegenüber liegen.«
»Und diese junge Dame kennt mich also auch?«
»Nun natürlich, sie hat Sie ja oft genug gesehen, wie wir Alle.«
Es entstand eine Pause, die der Student mit ernstem Nachdenken, der Secundaner dagegen mit stiller Bewunderung seines neuen Freundes verbrachte, da er über alle Begriffe glücklich war, wieder in der Nähe desselben zu sein und sein männlich schönes Gesicht mit Muße betrachten zu können.
»Ich fühle das Bedürfniß,« fing Paul endlich wieder an, »Ihrer Frau Mutter meinen Dank für die reiche Gabe zu sagen, deren Ueberbringer Sie gestern waren – darf ich ihr diesen Dank persönlich aussprechen?«
Fritz fuhr freudig in die Höhe. »O, gewiß dürfen Sie das,« rief er, »obgleich meine Mutter gewiß keinen Dank für diese Kleinigkeit erwartet. Sicher aber wird es ihr Freude machen, Sie kennen zu lernen, nachdem sie heute Morgen schon von mir gehört hat, wie mein erster Besuch bei Ihnen gestern abgelaufen ist.«
»Sie sind sehr freundlich. Wann kann ich Ihrer Frau Mutter meine Aufwartung machen?«
»O, jeden Tag, Mittags um zwölf oder Nachmittags um fünf Uhr, wie es Ihre Zeit am besten erlaubt – nur heute nicht, bitte ich, da sie wie Alles im Hause, von dem gestrigen Feste ermüdet ist. Doch nun sagen Sie mir, was sind denn das für Zeichnungen, die Sie dort haben?«
Dabei stand der wißbegierige Knabe auf und näherte sich dem Tisch am Fenster, der mit dem Reißbrett und verschiedenen farbigen Blättern bedeckt war.
Paul stellte sich neben ihn und erwiderte: »Es sind Zeichnungen von meiner Hand und sie stellen Grundrisse und Querdurchschnitte, auch einige vollendete Gebäude verschiedener Gattung dar. Dies zum Beispiel ist ein gothischer Dom – hier das Innere und hier das Aeußere in seiner Vollendung. Diese Grundrisse stellen seine Unterlage vor und hier sehen Sie, wie er sich Stufe für Stufe aus dem Erdboden bis zu den Wolken erhebt. Es ist eine schöne, herrliche Kunst, aus dem Staube, dem Nichts ein solches Gebäude aufwachsen zu machen, einen Stein zum andern zu fügen, bis zuletzt das Ganze wieder wie ein künstlich behauener und schön verzierter großer Stein aussieht, nicht wahr?«
»Gewiß ist es schön. Dies aber ist nur ein bürgerliches Wohnhaus?«
»Ja, wenigstens das eines reichen Mannes. In solchem netten und geräumigen Hause zu wohnen, muß eine angenehme Sache sein, nicht wahr?«
»Gewiß sehr angenehm, weit angenehmer wenigstens, als es zu erdenken und zu erbauen.«
»Nun, das will ich doch nicht sagen. Das Schaffen einer Arbeit gewährt immer einen hohen Genuß und oft einen größeren als ihn Jemand an ihrer Betrachtung oder Benutzung finden kann, wenn sie vollendet ist. Wenn Sie erwachsen sind, will ich Ihnen ein ähnliches Haus bauen und Sie können glücklich und zufrieden darin wohnen. Dann genießen Sie die Frucht meiner Arbeit.«
»Warum wollten Sie sie nicht auch genießen?«
»O, ich! Wie könnte ich das! Ich besitze nicht die Mittel, mir einen solchen Genuß zu verschaffen.«
»Wer weiß es!« sagte Fritz, wie aus einem augenblicklichen Traum erwachend. »Sie können ja noch reich werden, wenn Sie es auch jetzt nicht sind.«
»Wodurch?«
»Ja, wer weiß das! Durch Ihre Arbeit selbst und vielleicht auch durch das Glück, wie es viele Menschen haben.«
Der Student seufzte leise, aber er schwieg. –
»Ach, und nun habe ich noch eine Bitte,« fing Fritz wieder an, indem er näher an Paul herantrat und seine Hand auf dessen Arm legte.
»Sprechen Sie sie aus. Ich dürfte sie Ihnen wahrscheinlich nicht abschlagen.«
»O, das wäre prächtig. Darf ich Sie heute Abend nach Tische auf eine Stunde besuchen? Ich habe einen ganz besonderen Zweck dabei im Auge.«
»Sie haben dabei einen Zweck? Welchen?«
»Ich möchte erfahren, woher Sie stammen und wo Sie groß geworden sind; ferner wer Ihre Eltern waren und ob Sie sonst noch Verwandte haben. Denn sehen Sie, bis jetzt weiß ich ja noch nicht einmal Ihren Namen. Und das Alles erzählen Sie mir vielleicht, wenn ich Sie recht dringend darum bitte.«
Dei Student lächelte wehmüthig. »Da werden Sie wenig Wissenswerthes erfahren,« sagte er nach kurzem Nachdenken. »Meine Geschichte ist sehr einfach und ich finde keinen Grund auf, warum ich sie Ihnen nicht erzählen sollte. Nein.«
»Also ich darf heute Abend nach acht Uhr kommen?« rief Fritz frohlockend.
»Kommen Sie!« lautete die sanft und willig gesprochene Antwort. »Ich werde mich so einrichten, daß ich meine nothwendige Arbeit nicht versäume, und dann – ja, dann sollen Sie meinen Namen erfahren und Alles, was Sie von mir zu wissen wünschen.«
Fritz reichte seine Hand hin und stammelte seinen herzlichsten Dank. Bald darauf hatte er sich verabschiedet und war seelenvergnügt in sein Haus zurückgekehrt, denn nun war die Bahn wirklich eröffnet, deren Eis er gestern mühsam gebrochen, und er sah sich auf dem besten Wege, nicht allein das Vertrauen seines neuen Freundes zu gewinnen, sondern ihm auch im äußeren Leben näherzurücken, wonach er sich schon so lange mit brennendem Verlangen gesehnt hatte. –
Als der Student wieder allein war, ging er längere Zeit nachdenklich in seinem kleinen Zimmer auf und ab, und indem er zuletzt wieder seinen Veilchenstrauß betrachtete und damit vielleicht ganz eigenthümliche Gedanken verband, sagte er zu sich:
»Also Betty heißt sie, nach der ich Niemand fragen mochte, und sie ist vornehmer Leute Kind! Natürlich, das habe ich mir gleich gedacht! – Betty! Welch süßer Name, voll Innigkeit und harmonischen Klanges! Betty! Wie Honig fließt er mir über die Lippe – und sie, sie hat mir die Blumen gesandt, um mir eine Freude zu bereiten? O, was das für ein köstlicher Gedanke ist! Wie mag sie nur darauf gekommen sein! Sie kannte mich ja nicht – gesehen muß sie mich freilich haben, wie auch ich sie oft genug drüben am Fenster sah, doch immer nur flüchtig, wie ein vorüberschwebendes Schattenbild. Betty! Ich kann von dem Namen gar nicht loskommen und werde mir ihn jetzt oft wiederholen – und sie hat mir Freude bereiten wollen, mir, dem Freudlosen und Verwaisten! O, welche Güte, welche Freundlichkeit!«
Und wieder ging er auf und nieder in dem beschränkten Raume, bis er sich endlich mit männlicher Willenskraft seinen Träumereien entriß, an seine Arbeit zurückkehrte und so lange zeichnete, als es das knappe Tageslicht ihm erlauben wollte und er nun einen nothwendigen Gang in die Stadt antreten mußte.
Dieser Gang führte ihn zunächst in die Druckerei, welche ihm fast alle Tage die bewußten Correcturbogen sandte, um daselbst zu erfahren, ob er heute noch auf einige zu rechnen habe. Wegen des Fastnachtstages aber, der, wie billig, auch die Gehülfen der Druckerei in Anspruch genommen hatte, bekam er von hier aus heute keine Arbeit, und so war es ihm lieb, daß er am Abend nichts versäumte, wenn er mit dem jungen Ebeling ein paar Stunden verplauderte.
Von der Druckerei ging er in einen Papierladen und kaufte sich Farben und Bleistifte, und als er auch das vollbracht, beschloß er eine Stunde vor dem nächsten Thore spazieren zu gehen, wozu das günstige Wetter ihn einzuladen schien. Als er um sechs Uhr in sein stilles Stübchen zurückkehrte, zündete er rasch seine Lampe an und studirte eifrig bis acht Uhr. Mit dem Glockenschlage jedoch machte er sein Buch zu, denn er hörte schon die bescheidene Hand seines jungen Freundes an die Thür pochen, und so ging er ihm entgegen und hieß ihn willkommen.
Fritz Ebeling's Gesicht leuchtete von einer stillen lebhaften Freude. Seinem heutigen Besuche war von Seiten der Eltern nichts in den Weg gelegt und so schien ihm Alles zu gelingen, was er in Bezug auf den älteren Freund vornahm.
»Meine Mutter hat mir erlaubt, zwei Stunden bei Ihnen zu bleiben,« sagte er nach der Begrüßung, »meine Tante und Betty sind bei ihr und leisten ihr Gesellschaft. Sie sind Alle müde. Ich habe ihnen auch gesagt, daß Sie mir heute Ihre Lebensgeschichte erzählen wollen, und da habe ich ihnen versprechen müssen, sie ihnen zu wiederholen. Das darf ich doch?«
Ueber des Studenten ernste bleiche Züge ergoß sich bei diesen Worten eine warme Röthe, die jedoch bald wieder verschwand. »Da werden Sie ihnen keine interessante Erzählung zu wiederholen haben,« sagte er fast traurig, »aber wenn »Sie es für der Mühe werth halten, so thun Sie es, ich weiß nichts dagegen vorzubringen, denn mein Leben birgt keine Geheimnisse und ich habe keinen Grund, mich als etwas Anderes darzustellen, als ich wirklich bin – ein armer strebsamer Mensch, der einen gebildeten Mann aus sich machen möchte – das ist Alles. – Sie haben doch schon Ihr Abendbrod genossen?« setzte er nach einer kurzen Pause hinzu.
»Nein,« erwiderte Fritz ehrlich. »Meine Eltern speisen erst um neun Uhr und ich war begierig, wieder bei Ihnen zu sein.
Der Student lächelte. »Sehen Sie, wie sich nun Ihr gestriges Thun belohnt! Nun können Sie mit mir speisen, ich habe ja noch einen guten Theil Ihrer schönen Leckerbissen vorräthig. Da ist auch noch eine Flasche Wein! Wie, wollen Sie heute mein Gast sein?«
»Gern,« sagte Fritz ohne alle Ziererei – »aber wenn wir gegessen haben, müssen Sie auch an Ihr Versprechen denken.«
»Ich habe schon heute Nachmittag auf meinem Spaziergange daran gedacht, und werde es erfüllen, so gut ich vermag. Gedulden Sie sich jetzt einen Augenblick, ich will nur Frau Zeisig rufen, daß sie uns den Tisch deckt.«
Einige Minuten später trat die Aufwärterin in's Zimmer und versah ihr Amt, nicht ohne merkliche Verwunderung, den Sohn des Banquiers bei ihrem Miether zu finden. Sie knixte und grüßte sehr höflich, indessen sprach sie gegen ihre Gewohnheit kein Wort, da ihr keiner der beiden jungen Leute Veranlassung dazu gab. Sobald sie die Reste des gestrigen Mahles aufgetragen und das Zimmer wieder verlassen hatte, setzten sich Beide an den Tisch, und wir wollen nicht zu entscheiden versuchen, wem von ihnen, dem Wirthe oder dem Gaste, diese Reste besser schmeckten, denn Beide aßen mit Appetit, ja mit Wohlbehagen, da ihr Inneres beruhigt und ihre nächsten Wünsche vor der Hand erfüllt waren.
Als sie ihr Mahl eben zu Ende gebracht und ein Glas Wein getrunken hatten, sah Fritz seinen Wirth fragend und bittend an und dieser verstand diesen Blick und lächelte. »Soll ich nun erzählen?« fragte er mild.
»Ja, ja, ja, ich brenne vor Ungeduld, Alles was ich von Ihnen erfahren kann, aus Ihrem eigenen Munde zu vernehmen.«
»Ach, Sie werden nicht viel Interessantes zu hören bekommen. Die kurze Geschichte meines Lebens ist einfacher, als Sie sich vorstellen können, und Sie werden nur sehr wenig Licht darin wahrnehmen, denn der größte Theil meiner Jugendjahre ist in trübe Schatten gehüllt.«
»O bitte, fangen Sie an. Ob Licht oder Schatten auf Ihrer Vergangenheit ruht, eins wie das andere wird mir neu und wichtig sein.«
Es trat eine tiefe Stille in dem kleinen Zimmer ein und nur das laute Athmen des voller Spannung lauschenden Secundaners war zu hören. Die kleine Lampe brannte ziemlich matt und beleuchtete mehr den Tisch mit den jetzt geleerten Tellern und dem blutrothen Wein in den Gläsern, als die Gesichter der in den Ecken des alten Sopha's sitzenden jungen Menschen. Beide aber wichen in dem Ausdruck ihrer Mienen auffallend von einander ab. Während auf dem edlen, bleichen Antlitz des Studenten männliche Ruhe und Ergebung in das ihm aufgebürdete Schicksal lag, drückte das kindlichere und weichere Gesicht des Jüngeren eine fast nervöse Spannung aus und seine hellen Augen bohrten sich mit beinahe fieberhafter Erwartung in die dunklen Augen des ihn ruhig und ernst anblickenden Freundes ein.
»Nun,« rief Fritz, dem jede Minute kostbar zu sein schien, »nun sagen Sie mir zuerst, wo Sie geboren sind.«
Paul strich sich mit beiden Händen das üppige Haar von der Stirn zurück, schaute einen Augenblick nach der Decke empor, wie um seine Gedanken zu der bevorstehenden Erzählung zu sammeln, und erwiderte dann auf die an ihn gerichtete Frage:
»Ich bin in Hamburg geboren, also ein Deutscher, obwohl ich väterlicher Abstammung nach kein Deutscher bin.«
Fritz Ebeling's Augen dehnten sich bei diesen unerwarteten Worten noch einmal so weit aus als vorher und seine jugendliche Lebhaftigkeit riß ihn zu der neuen Frage hin: »Kein Deutscher? Ah, was sind Sie denn?«
»Hören Sie nur. Mein Vater, van der Bosch ist sein Name –«
»Van der Bosch?« rief Fritz. »Also Paul van der Bosch heißen Sie? Ei, das ist ein schöner und klangvoller Name!«
Paul lächelte mild und fuhr ohne weitere Unterbrechung jetzt also zu reden fort: »Ja, Adrian van der Bosch hieß mein Vater und er stammt aus Amsterdam, wo mein Großvater als leidlich wohlhabender Mann lebte. Er war Portrait- und Genremaler und erfreute sich eines ziemlich bedeutenden Rufes im In- und Auslande. Er war zweimal verheirathet gewesen und hatte aus erster Ehe zwei Söhne, von denen der erstgeborene etwa sechs Jahre älter war als der jüngere. Aus zweiter Ehe hatte er nur einen Sohn, der nur wenige Jahre jünger war als jener zuletzt erwähnte, und dieser Sohn aus zweiter Ehe ist mein Vater.
Die beständige und höchst eifrige Beschäftigung meines Großvaters mit seiner Kunst mag die Ursache gewesen sein, daß er sich nur wenig um seine Kinder bekümmern konnte und die Erziehung derselben seiner zweiten Frau überließ, gegen die, wie man mir erzählt hat, der älteste Sohn von Anfang an einen unnatürlichen Widerwillen gehegt haben soll. Diese meine rechte Großmutter soll eine sehr schöne Person aber von viel zu weichem Herzen gewesen sein, um dem wilderen Sinn, namentlich seines ältesten Knaben zu imponiren, und so geschah es, daß die Erziehung der Kinder nicht mit der nothwendigen Energie geschah. Dies zeigte sich bald am deutlichsten an Quentin, dem ältesten Stiefbruder meines Vaters. Derselbe war ein außerordentlich unruhiger, wagehalsiger Bursch, der keine Stunde auf einer Stelle sitzen konnte und sich mehr auf der Straße als im Hause seines Vaters aufhielt. Vor allen Dingen liebte er leidenschaftlich die See und das Leben und Treiben darauf. So verließ er auch eigentlich gegen den Willen seines Vaters im zwölften Lebensjahre das Haus desselben und ging auf ein Schiff, und keiner seiner Verwandten hat ihn jemals wiedergesehen. Er ist, was man so nennt, verschollen und wahrscheinlich lebt er schon lange nicht mehr, obgleich sich wunderbarer Weise, wie ich vor einigen Jahren durch meinen Onkel Casimir, den zweiten Sohn meines Großvaters, erfuhr, das Gerücht verbreitet hatte, er lebe in Ostindien und sei ein reicher Mann geworden.
Wenn ich nun von diesem meinem ältesten und verschollenen Onkel nur wenige Worte sagen kann, so könnte ich von meinem Onkel Casimir desto mehr erzählen, aber für jetzt mögen einige Andeutungen genügen. Dieser Casimir wanderte im achtzehnten Jahre, als sein Vater und dessen zweite Frau nicht ganz mittellos gestorben waren, mit meinem Vater zugleich nach Deutschland aus und während mein Vater sich nach Hamburg begab, ging Casimir nach einer Universitätsstadt und studirte mit den ihm verbliebenen Mitteln Mathematik. Da er überaus fleißig und fähigen Geistes war, erwarb er sich bald den Ruf eines Gelehrten und es glückte ihm schon in jungen Jahren, der Lehrer eines kleinen Fürsten in der Mathematik und der dazu gehörigen Wissenschaften zu werden. In dieser Stellung blieb er mehrere Jahre und zog sich, als sein Schüler erwachsen war, mit einer kleinen Pension nach der Universitätsstadt ... zurück, wo er noch jetzt Professor ist, ganz abgesondert von der großen Welt lebt und in seiner stillen Weise Gutes wirkt. Ich werde Ihnen von diesem seltsamen Manne später noch mehr zu berichten haben, da er vielfach segensreich auf meine Erziehung und Ausbildung eingewirkt hat; für jetzt jedoch will ich ihn verlassen und zu meinem Vater übergehen.
Dieser wollte eigentlich Kaufmann werden und hatte auch sehr bald in einem bedeutenden hamburger Geschäft einen guten Grund dazu gelegt; allein eine frühzeitige und unüberwindliche Leidenschaft für ein sehr schönes und armes Mädchen hinderte ihn daran, da er sich durchaus in den Kopf gesetzt hatte, sie zu heirathen, indem sie selbst, ohne alle Verwandte, verwaist in der Welt stand.
So heirathete also Adrian van der Bosch meine Mutter, leider viel früher, als er einen sicheren und ausreichenden Lebenserwerb hatte, was jedoch dem inneren Glück meiner Eltern, die sich außerordentlich zugethan waren, keinen Abbruch that. In wenigen Jahren hatte sich mein Vater als Lehrer der französischen und holländischen Sprache in Hamburg niedergelassen und außerdem unterrichtete er wohlhabende junge Handelsbeflissene in der kaufmännischen Buchführung, worin er eine große Geschicklichkeit und umfassende Kenntnisse besessen haben soll. Anfangs, erzählte mir später meine Mutter, habe er eine recht günstige Einnahme hierdurch erzielt, und wenn seine Familie auch nicht im Ueberfluß lebte, so blieb sie doch auch weit vom Mangel entfernt, bis mein Vater plötzlich zu kränkeln anfing und bald nach der Geburt des jüngsten seiner Kinder zum unaussprechlichen Kummer meiner guten Mutter starb. Dieses jüngste Kind war ich und vor ihm wurden ihm fünf Söhne und eine Tochter geboren, die aber, wie Sie sogleich hören werden, alle schon todt sind.«
»Wie, Sie sind der einzige Lebende von diesen sieben Kindern?« fiel Fritz mit ganz bleichem Gesicht ein.«
»Ja, und so habe ich außer dem Onkel Casimir, dem Professor der Mathematik in ... , keinen lebenden Verwandten mehr. Doch hören Sie weiter.
So stand denn nun meine Mutter mit uns armen sieben unerzogenen Kindern allein in der Welt und nun erst begannen wir in allmälig steigender Stufenfolge unsere Leidensschule durchzumachen, wozu für meine Mutter noch der uns unbekannte Schmerz kam, so früh einen geliebten Mann und einen für seine Kinder sorgenden Vater verloren zu haben. Anfangs freilich, so lange noch die baare Hinterlassenschaft desselben reichte, lebten wir so ziemlich in der früheren Weise fort, allmälig jedoch zeigte sich schon hier und da ein Ausfall, eine schmerzliche Lücke, und endlich trat Kärglichkeit und nicht selten sogar handgreifliche Noth an die Stelle des ehemaligen Wohlbehagens. Diese wurde kaum geringer, als nach und nach drei meiner Brüder starben, denn nun wurde auch meiner Mutter Kraft und Geist gebrochen und sie konnte bei allem Fleiß kaum so viel verdienen, um uns Uebriggebliebene zu nähren und zu kleiden. In früheren Tagen hatte sie in freien Stunden, wenn sie für uns Kinder nicht zu kochen oder zu nähen und zu stricken brauchte, zur Freude meines Vaters sich mit dem Malen von Blumen und Vögeln in Wasserfarben beschäftigt, worin sie eine große Geschicklichkeit besaß. Seit dem Tode meines Vaters aber mußte sie einen Erwerbszweig daraus machen und es war ihr auch eine Zeitlang über alle Erwartung gelungen. Auch schöne Stickmuster erfand, zeichnete und colorirte sie, und wenn diese Arbeit auch mühsam und wenig erträglich war, so hatte sie dadurch doch immer Nahrung und Kleidung für uns beschafft. Nun aber fing diese mühselige Arbeit auch ihre Augen einzugreifen an, und so mußte auf andere Weise Rath geschafft werden. Es blieb nur der eine, für seine liebende Mutter schreckliche Ausweg übrig: ihre Kinder nach und nach unter fremde Leute zu bringen und so wenigstens sich die Mühe für deren Unterhalt zu ersparen.
So geschah es denn auch. Meine beiden noch lebenden älteren Brüder kamen bei Kaufleuten in die Lehre und nur meine Schwester und ich blieben bei der Mutter.
Unsere damaligen Verhältnisse schweben mir nur noch dunkel vor der Seele, aber so viel ich mich erinnern kann, waren sie trübe und elend genug. Meine Mutter kränkelte mehr und mehr, wir Kinder machten auch verschiedene schwere Krankheiten durch und es war keine Seltenheit mehr, daß wir Abends nur weniges trockenes Brod zu essen und Wasser nach Belieben zu trinken bekamen.
Endlich konnte meine arme Mutter auch für mich, den rasch aufwachsenden Knaben, keine hinreichende Nahrung mehr beschaffen und sie mußte sich in ihrer Noth entschließen, mich ebenfalls aus dem Hause zu geben. Mein Vormund selbst war es, der ihr zuerst dazu rieth, und dessen Andringen gab sie endlich nothgedrungen Folge. Er war Besitzer einer kleinen Druckerei und einer erbärmlichen Leihbibliothek und wohnte meiner Mutter in einer engen Gasse gegenüber. Da er sich von Anfang an für uns arme Kinder interessirt und ihr oft Rath wegen unsrer Erziehung ertheilt hatte, überdies mit meinem Vater bekannt gewesen war, so war er von meiner Mutter zum Vormund gewählt worden und er übernahm dies schwere und oft undankbare Amt gern und mit der besten Absicht, für unser Wohl zu sorgen.
So schlug denn auch für mich die verhängnißvolle Stunde, in der ich das mütterliche Haus verlassen, unter ein fremdes Dach ziehen und mich in eine ungewohnte Arbeit unter mir sehr wenig zusagenden Verhältnissen schicken mußte. Es war ein trüber Novembertag, als ich auszog, und trüb war meine Seele, kummervoll mein Herz und ich habe mit meiner Mutter damals in einer Stunde mehr Thränen vergossen, als mein ganzes ferneres Leben hindurch.
Mein Vormund war kein gebildeter, nicht einmal äußerlich in gewissen Formen sich ergehender Mann; er war eigentlich nur Handwerker und hatte sich vom Formenstecher zu seiner jetzigen Stellung und seinem Besitz aufgeschwungen. Dennoch hatte er bei rauher Außenseite ein warmes Herz und meine üble Lage ging ihm ohne Zweifel nahe, obwohl er mir niemals ein Wort darüber sagte und mich in keinerlei Weise vor anderen Lehrjungen begünstigte. Ich war damals zehn Jahre alt und bei den dürftigen Mitteln meiner Mutter hatte ich nur kärglichen Schulunterricht genossen. Jetzt war von einer wissenschaftlichen Fortbildung keine Rede mehr und mein ganzes Geschäft bestand darin, entweder Correcturbogen zu den Verlegern und Autoren herumzutragen, oder in der Druckerei einem Setzer oder Drucker bei irgend einer Arbeit zu helfen, oder endlich verschiedene Hausdienste zu verrichten, wie sie armen Lehrburschen aufgebürdet zu werden pflegen. Nach einem Jahre aber wurde ich plötzlich in Folge des Abganges eines alten Dieners zu einem anderen Amte befördert. Ich kam in die Leihbibliothek und hier wurden meine vielleicht nicht ganz dürftigen geistigen Kräfte nach Möglichkeit ausgebeutet. Die Bibliothek war nur klein und nur ganz gewöhnliche Leute bildeten das Lesepublicum meines Vormunds. In dieser engen dumpfen Höhle, in die fast kein Lichtstrahl fiel und in der eine Art Moderduft alter, abgelesener Bücher und schmutziger Pappdeckel mich umgab, brachte ich fast den ganzen Tag zu, trug die Namen der Lesenden mit erstarrten Händen in die Listen ein und suchte auf krachenden Leitern die verlangten Bücher hervor, mußte aber dabei, wenn meine Arbeit hier einmal stockte, in der Druckerei wieder helfen, da man in mir allerlei Fähigkeiten entdeckt hatte, die mein Brodherr zu seinem Nutzen verwerthen konnte.
Ach, das war eine traurige und öde Zeit für, mich und doch bot sie mir manche Abwechselung und sogar eigenthümliche Reize dar. Wenn ich schon oft mit Erstaunen und täglich wachsender Wißbegierde das geheimnißvolle Wesen in der Druckerei betrachtet hatte, wo aus den kleinen grauen Bleistäben die wunderbaren und inhaltsvollen Worte sich zusammenfügten, die mein Ohr hörte und mein Mund sprach, so zogen die fertigen Bücher in der Bibliothek mich auf eine ganz eigene und mir verhängnißvolle Weise noch viel mehr an. Ich begann in einzelnen Geschäftspausen erst Dies und Das zu lesen und konnte es endlich nicht überwinden, mir Abends irgend ein Buch mit in mein Kämmerchen zu nehmen und dort bei einer qualmigen Oellampe ohne Schirm anfangs nur Stunden, später jedoch die halbe Nacht durch zu lesen. Als ich diese Unterhaltung aber erst ein Jahr lang betrieben und mein schnell reifender Geist neue und ersprießliche Nahrung suchte und doch nicht darin fand, entdeckte ich endlich zu meinem gränzenlosen Erstaunen, daß ich Vieles gar nicht verstand, was die gedruckten Bücher enthielten, und darüber wurde ich mit der Zeit entsetzlich traurig. Ich bekam wieder Lust zum Lernen, dem ich so frühzeitig entzogen war, und sehnte mich nach meiner Schule zurück, wo ich schreiben, lesen und rechnen gelernt und noch viel mehr lernen konnte, wie ich von früheren Mitschülern erfuhr, denen ich bisweilen auf der Straße begegnete.
Da ich mein Herzeleid endlich nicht mehr allein tragen konnte, so klagte ich eines Sonntags, als ich meine Mutter besuchte, ihr und meiner Schwester meinen Kummer, da aber Erstere bei meiner lebhaften Darstellung heftig weinte, schwieg ich wieder und trug mein Leid im Stillen. Allein meine berechtigten Klagen waren doch nicht umsonst gewesen, meine Mutter hatte sie sich zu Gemüth gezogen und, ohne daß ich etwas davon erfuhr, in Folge einer Besprechung mit meinem Vormund und auf Anrathen desselben, den Entschluß gefaßt, heimlich an meinen Onkel Casimir, den Professor der Mathematik, zu schreiben und ihm ihre und meine Noth zu klagen.
Dieser wahrscheinlich mit großer Wärme abgefaßte und ihr ganzes Elend verrathende Brief sollte eine bedeutsame und ungeahnte Wirkung auf uns Alle üben, und von nun an beginnt der trübe Himmel meines jugendlichen Lebens sich schon in etwas zu klären.
Eines Tages wurde ich gegen Mittag in das Haus meiner Mutter beschieden und ich fand einen fremden älteren Herrn daselbst vor, der mir als der Bruder meines Vaters, der Professor Casimir van der Bosch, vorgestellt wurde. Kaum hatte ich diesen stillen, kleinen Mann in's Auge gefaßt, so ergriff mich auf der Stelle ein großes Zutrauen zu ihm, und in der That rechtfertigte seine Erscheinung, sein Gesicht und seine Art und Weise zu sprechen, dasselbe vollkommen.
Er war von hagerer, fast abgemagerter Gestalt und trug seinen mehr kleinen als großen Körper leicht vornüber gebeugt, was ihm bei dem ungewöhnlich langen Rock, der seine Gliedmaßen in viel zu weiten Falten umhüllte, ein fast schulmeisterliches Ansehen gab. Sein Kopf war auffallend klein und mit graubraunen, etwas langen und schlichten Haaren bedeckt, die von einer solchen Ueppigkeit waren, daß sie sein breitrandiger, schwarzer Hut kaum zur Hälfte verhüllen konnte. Seine Stirn, welche oberhalb der Nase eine tiefe Furche zeigte, war ungewöhnlich hoch und breit und strahlte von einem überaus intelligenten Ausdruck, namentlich wenn die starken, dunkelbraunen Augenbrauen sich zusammenzogen, eine Muskelwirkung, die sich bei ernstem Nachdenken, namentlich beim Rechnen sprungfederartig schnell wie von selbst bei ihm einstellte. Im Uebrigen lag auf dem ganzen Gesicht eine von mir früher nie gesehene Gutmüthigkeit und Harmlosigkeit, die, wenn er lächelte und belehrend sprach, fast etwas Kindliches annahm. Seine Stimme war sanft, beinahe lispelnd, und seine Worte gewählt, obwohl gleichsam mathematisch kurz und scharf abgemessen, wie denn in seine Redeweise sehr häufig Anspielungen und Bilder aus seiner Wissenschaft sich einschlichen. Niemals aber, auch später machte ich wiederholt diese Bemerkung, schwoll diese Stimme kraftvoll oder zu irgend einer leidenschaftlichen Heftigkeit an, denn diese letztere selbst schien die Natur ihm völlig versagt und ihm kein Atom Galle verliehen zu haben, wie ihn denn auch nichts auf der Welt in Eifer oder Aufregung bringen konnte. Im Gegentheil war er die Milde und das Wohlwollen selbst und seine unendliche Güte war vielleicht schuld, daß sich eine männliche, gewissermaßen practische Lebensenergie in ihm vermissen ließ, während man von seinem Character des Guten nicht zu viel sagen kann.
Seine Wissenschaft, die Mathematik und Algebra, ging ihm über Alles, mit ihr beschäftigte er sich Tag und Nacht; überall, wo er ging und stand, hatte er ein Notizbuch in der Hand, worin er stets schrieb oder irgend ein ihm vor der Seele schwebendes Problem löste, eine schwierige Gleichung ausrechnete oder eine mathematische Figur zeichnete. Eine besondere Eigenthümlichkeit an ihm war sein Papiergeiz, den er offenkundig vor Jedermann zur Schau trug und willig eingestand, wenn man mit ihm darüber sprach.
Wo er nämlich ein irgend noch unbeschriebenes Papierschnitzelchen fand, legte er es sorgfältig in jenes Notizbuch, und so waren auch alle seine Taschen mit gebrauchten Briefcouverts die irgend Wem entfallen und von ihm gefundenen Zettelchen gefüllt, die er alle nach und nach mit wahren Miniaturzahlen beschrieb und so seine schwersten Aufgaben löste.
Dieser Mann, mein Onkel, der, wie mir meine Mutter später sagte, nicht die geringste Aehnlichkeit mit meinem Vater besaß, hatte sich in seinem Leben bei Weitem mehr mit seinen wissenschaftlichen Büchern als mit den Dingen und Vorkommnissen in der äußeren Welt beschäftigt. Wenn er bei seiner Arbeit saß hätte das Nebenhaus einstürzen können und er würde sich nicht danach umgesehen haben. Ob Krieg oder Frieden in der Welt war, ob die Menschen in Hader und Streit lagen oder sich in Liebe verzehrten, wußte und sah er nicht. Wenn er bei Tische saß und aß, rechnete er stets auf irgend einem Stückchen Papier, das nebst einem Bleistift immer neben seinem Teller lag; daher wußte er auch nie, was er gegessen, das Gute wie das Schlechte schmeckte ihm gleich vortrefflich, und hätte ihm nicht Jemand gesagt, es sei Essenszeit, er hätte nie von selbst daran gedacht.
Er blieb damals zwei Tage bei uns, das heißt, er schlief in einem Gasthofe und brachte nur einige Stunden bei meiner Mutter zu; den übrigen Theil dieser Tage verlebte er in der Universitätsbibliothek seinen Studien hingegeben, da er, wie ich später erfuhr, damals bei der Berechnung neuer Logarithmentafeln und außerdem mit der Herausgabe eines alten Classikers beschäftigt war. Er ließ sich von meiner Mutter ihre ganze Lebensgeschichte erzählen, die ihm völlig unbekannt geblieben, sprach mit ihr viel über meinen Vater, mit dem er nur alle drei oder vier Jahre einen Brief gewechselt, und machte ihr endlich in seiner milden Art sanfte Vorwürfe, daß sie sich nicht früher an ihn gewandt habe, da er doch ein so naher Verwandter von ihr und uns Allen sei. Meine Mutter entschuldigte sich damit, daß sie ihm nicht habe zur Last fallen wollen und daß sie ihn ja nicht persönlich gekannt habe, was er indeß nicht für logisch richtig, wie er sich ausdrückte, anerkennen wollte.
Als ich in die ärmliche Stube meiner Mutter eintrat und das erste Mal vor ihm stand, faßte er mich scharf in's Auge, nahm mich bei der Hand und befühlte meinen ganzen Kopf, wobei er mir liebkosend mit seinen weichen Fingern über Stirn und Augen strich.
»Du gefällst mir, mein Sohn,« sagte er sanft zu mir, »und wir wollen von jetzt an gute Freunde sein. Ich werde Deine geistigen Fähigkeiten prüfen und danach wird sich das Weitere finden.« Hierauf fing er an mit mir zu plaudern legte mir dabei geschickt ganz seltsame und noch von keinem Menschen an mich gerichtete Fragen vor, die ich beantworten mußte, so gut ich konnte. Ob dies die Prüfung war, wußte ich damals nicht, ich glaube es jedoch; auch fiel sie wahrscheinlich zu meinen Gunsten aus, denn am zweiten Tage, ehe er sich von uns verabschiedete, sagte er zu meiner Mutter in meiner Gegenwart:
»Nun, liebe Schwägerin, habe ich genug bei Ihnen gesehen und will wieder in mein stilles Haus nach ... zurückkehren. Ich lebe selbst nicht im Ueberfluß, aber dennoch will ich an den Kindern meines Bruders thun, was ich kann. Paul vor Allen soll nicht mehr in die Druckerei, noch weniger in die Leihbibliothek zurückkehren. Die können ihn nichts lehren, was ihm für seine Zukunft von Nutzen wäre. Er soll wieder eine Schule besuchen und lernen, so viel wie möglich, denn auf frühzeitigem und tüchtigem Lernen beruht die Glückseligkeit des ganzen Lebens. Damit ich mich von seinen Fortschritten überzeuge, soll er mir alle Jahre zweimal, am ersten Januar und am ersten Juli, einen Brief schreiben und ich werde ihm stets Fragen vorlegen, die er genau nach besten Kräften ohne fremde Hülfe zu beantworten hat. Im Uebrigen empfehle ich Euch der Vatergüte Gottes.«
Nach diesen Worten küßte er uns Alle und eine Stunde später war er abgereist, wie ein Meteor vor unsern Augen entschwindend, das unsre kleine Welt einen Augenblick mit seinem strahlenden Glanz erleuchtet hatte. Von meiner Mutter hörte ich später, daß er ihr zweihundert Thaler jährlich für unsere Erziehung ausgesetzt habe – das war Alles, was er geben konnte, und für uns war es, Gott sei Dank! genug.«
Fritz Ebeling hatte der Erzählung Paul's van der Bosch mit der größten Spannung zugehört und seine sprechenden Mienen verriethen bei jedem Worte desselben die herzlichste Theilnahme. An einigen Stellen waren ihm sogar die hellen Thränen in die Augen getreten, deren er sich nicht im Geringsten schämte, sondern sie seinen neuen Freund ehrlich wahrnehmen ließ. Als dieser aber, nachdem er der glücklichen Wandlung seines Schicksals gedacht, einen Augenblick schwieg und einige Tropfen Wein genoß, da konnte er dem Drange seines Herzens nicht widerstehen und rief laut und tief aufathmend aus:
»Das war brav von dem Mann! Gott sei Dank, daß Sie in Ihrer Geschichte so weit sind, ich habe wie auf der Folter gesessen. Aber wie, darf ich mir eine Frage auszusprechen erlauben?«
»Fragen Sie!« sagte der Student, der noch bleicher geworden war als vorher, mit beifällig nickendem Kopfe.
»Hat Ihre Mutter den Professor denn nicht nach dem verschollenen Bruder ihres Mannes gefragt und konnte Ihr Onkel keine Auskunft über denselben geben?«
»Das hat meine Mutter allerdings gethan, wie ich später erfuhr,« versetzte Paul nachdenklich, »allein sie hörte nichts, als was ich schon vorher angedeutet. Mein Onkel Casimir hatte eben das Gerücht vernommen, – wann und wo weiß ich nicht – daß sein Bruder als reicher Mann in Ostindien lebe, und aus dieser Quelle allein ist es auch mir zu Ohren gekommen.«
»So, und er hat nie an ihn geschrieben?«
»Nein, nie. Dazu war er wahrscheinlich zu stolz, da sein Bruder Quentin, der sich seit seiner Jugend so wenig um seine Familie bekümmert, niemals ein Wort hatte von sich hören lassen.«
»Aha, das begreife ich, und nun lassen Sie mich Ihre Erzählung weiter hören.«
Paul nickte beistimmend und fuhr also zu reden fort:
»So war denn über mein nächstes Schicksal entschieden und ich zog schon am nächsten Tage wieder in das Haus meiner Mutter ein, was ein Freudenfest für uns Alle war, zumal sie bereits fünfzig Thaler für unsere Erziehung von meinem Onkel erhalten hatte. Am nächsten Tage besuchte ich wieder meine alte Schule und wurde von meinen Lehrern, mit denen meine Mutter gesprochen, freundlich behandelt und auf jede Weise unterstützt. Ich fühlte selbst, daß ich viel nachzuholen hatte und gab mir die größte Mühe, rasch vorwärts zu kommen und denen meiner Mitschüler nachzueilen, welche die Schule nicht verlassen hatten.
Allein das ging doch nicht so rasch, wie ich es wünschte, und es kostet mir viele Mühe, den Erwartungen meines Onkels zu entsprechen. Daß ich fleißig war wie Einer, können Sie sich vorstellen. Auch wurde mir das Lernen erstaunlich leicht und schon nach einem Jahr schrieb mein Onkel an meine Mutter, daß sie mich jetzt das Gymnasium besuchen lassen sollte, da er es auf alle Fälle für räthlich halte, daß ich alle Classen desselben durchmache. Damit würde ich den besten Grund für mein ganzes ferneres Studium legen, möge dies nun sein, welches es wolle, und allen Anforderungen der Zukunft genügen. Die paar Jahre, die ich dadurch an Zeit verlöre, würden hinreichend durch Gründlichkeit und den Umfang im Wissen aufgewogen.
Auf dem Gymnasium nun machte ich auffallend schnelle Fortschritte, wie ich später wohl einsah, für den Augenblick jedoch kamen sie mir selbst nur wie ein Schneckengang vor. Ich verließ nur Abends oder Sonntags mein Zimmer, um mir die nöthige Bewegung zu verschaffen, sonst arbeitete ich beständig und das kostete mir durchaus keine Anstrengung, da ich gesund, kräftig und von einem wahren Feuereifer zur Arbeit beseelt war.
Quinta, Quarta und Tertia machte ich so im Fluge durch, erst als ich Secunda erreichte, sah ich ein, daß ich im Ganzen doch nur ein Jahr von meiner jugendlichen Lernzeit verloren habe, aber auch dies eine Jahr schmerzte mich und ich ging mit neuem Eifer daran, auch dies nachzuholen.
Um diese Zeit war es, wo mein Onkel ernstlichere Briefe an mich zu schreiben begann und er richtete sich immer so damit ein, daß dieselben wenige Tage vor dem festgesetzten Termin bei uns eintrafen, so daß ich fast umgehend meine Antworten abfassen mußte, um sie zur rechten Zeit abzusenden. Seine Briefe waren stets kurz und bündig und seine Fragen so klar, daß mir die Antwort jedesmal sehr leicht ward. Da, in der Mitte des Juni, als ich nahe daran war, nach Prima versetzt zu werden, schrieb er folgende Zeilen:
»Ich bin mit Deinen Antworten bisher zufrieden gewesen und sehe ein, daß Deine Aussichten für die Zukunft gesichert sind, wenn Du so fleißig zu arbeiten fortfährst. Heute habe ich aber eine ernste Frage an Dich zu richten, ernster als je eine andere, und ich bitte mir eine entschiedene unverhüllte Antwort aus. Diese Frage lautet: welchem Berufe willst Du Dich widmen? Welche Wünsche hast Du in dieser Beziehung, und welche Gründe unterstützen dieselben? Es ist Zeit, daß wir über Deine Zukunft zum Abschluß gelangen.«
Ach, diese Frage versetzte mich in eine wahre Angst, daß nun der Probirstein an das ächte oder falsche Gold meines Innern gelegt werden würde. Ich war in dieser Beziehung mit meinen Wünschen schon längst auf's Reine gekommen und meine Mutter wußte darum, ohne mir ab- oder zuzurathen, ja ohne mir sogar ihre Meinung darüber zu sagen, da die Meinung ihres Schwagers jetzt Alles bei ihr galt. Mir schwebten seit langer Zeit nur zwei Berufswege vor, von denen mir einer so lieb wie der andere war. Würden sie aber bei meinem Onkel auf Beistimmung zu rechnen haben?
Um diese Bejahung oder Verneinung drehte sich meine Angst und jetzt war ich der lange gefürchteten Entscheidung nahe gekommen. Meiner Neigung nach konnte ich entweder nur Landwirth oder Baumeister werden das waren die Pole, um die meine Berufsträume sich bewegten. Wald und Flur war mir von Jugend auf wie ein Zaubermärchen voll Poesie und Romantik erschienen. Ueber die grünen Felder zu wandern, das Wachsthum der Pflanzen zu beobachten, das Obst reifen zu sehen und die köstliche Gabe Gottes in Speichern und Scheunen zu sammeln, kam mir wie das olympische Glück der Seligen vor.
Von anderer Seite dagegen zog mich alles Architektonische, das erhabene Gebild der Menschenhand unwiderstehlich an. Nach dem Genuß, durch Gottes weite grüne Welt zu streifen, kam unmittelbar der, einen künstlerisch vollendeten, hoch sich wölbenden Dom zu betreten, in seinen echoreichen Hallen umherzuwandern und die schönen reinen Verhältnisse zu bewundern, die, wie aus sich selbst erstanden, doch nur von dem Geiste des Menschen erdacht und von seiner Hand ausgeführt waren. Auch schöne Paläste mit ihrem Schmuck von Sculptur und Malerei schaute ich gern, und da ich frühzeitig bei der Mutter Unterricht im Zeichnen und Malen erhalten, schien der zweite Beruf mir fast noch näher als der erste zu liegen und leichter zu bewältigen zu sein.
Ich ging kurz mit meiner Mutter und mir zu Rathe und theilte dann dem gütigen Onkel meine Wünsche mit. Diesmal wartete er mit der Antwort nicht bis zum December, sondern er schrieb umgehend und seine Worte lauteten folgendermaßen:
»Deine Wünsche habe ich gelesen und bin mit ihnen vollkommen einverstanden, insofern Du einen von beiden Berufswegen wählst. Ich rathe aber zu letzterem. Um ein Landwirth zu werden, gebraucht man Geld, wenn man nicht ein armseliger Bauer oder ein mißvergnügter Pächter werden will. Ein Landwirth ohne Geld kommt mir vor wie ein Quadrat, dem eine Ecke abgeschnitten ist oder wie ein rechtwinkliches Dreieck, dessen rechter Winkel sich verschoben hat. Werde also Baumeister. Beiliegend findest Du einige Worte, die mir ein sachverständiger Bekannter niedergeschrieben, nach denen Du Dich in Deinen Studien zu richten hast. Sie enthalten den ganzen Gang Deiner ferneren nothwendigen Entwickelung. Sobald Du Dein Abiturientenexamen bestanden hast, erwarte ich Deine Meldung.«
Da war es denn mit einem Male entschieden, ich sollte einst Eleve der Bauakademie hierselbst werden, denn in der beiliegenden Schrift stand es deutlich geschrieben, daß ich an der Hauptquelle dieser Stadt meine Ausbildung zum Baumeister durchmachen sollte. Meine Mutter sowohl wie ich waren damit zufrieden, und nun studirte ich ruhig weiter, um mit Ehren von der Schule Abschied nehmen zu können.
Der Tag meines Ausscheidens kam, mein Examen war rühmlich bestanden und ich war mir bewußt, einen guten Grund zu meiner ferneren Ausbildung gelegt zu haben, obgleich ich für das gewählt Fach viel älter als meine künftigen Fachgenossen war. Doch das war nicht mehr zu ändern. Zwei Tage schwebte ich vor Freuden mehr in der Luft, als daß ich auf der Erde ging, da aber – und nun kam der letzte bitterste Schmerz meiner Jugend – da lernte ich den oft so plötzlich erfolgenden entsetzlichen Umschwung des Glücksrades im Menschenleben in nie geahnter Bedeutung kennen.
In Hamburg wüthete damals die Cholera in sehr hohem Grade. In manchen Häusern starben alle Bewohner aus und zahlreiche Familien beklagten nicht selten zwei und mehr Opfer. Zuerst starben wenige Stunden kurz nach einander meine beiden Brüder, die schon Commis waren und sich ihren Unterhalt selbst verdienten, und einen Tag später erlagen meine Mutter und Schwester der schrecklichen Seuche. Ich allein blieb vollkommen gesund, wie um den mich zerreißenden Schlag und meine Verwaisung so recht mit aller Kraft zu fühlen und zu verarbeiten.
Ich will hierüber nur wenige Worte machen, die Sache und meine damalige Lage spricht für sich selbst. Meine Freude über meinen neuen Zustand war kurz gewesen und bald dahin, und ich stand nun auf der Welt ganz allein. Ich benachrichtigte sogleich meinen Onkel von meinem Schicksal und er schrieb umgehend:
»Gott hat es so gewollt und nun murre nicht, sondern schicke Dich in das Unvermeidliche. Laß durch Deinen Vormund sogleich die kleine Hinterlassenschaft der Deinigen verkaufen, nimm das Geld dafür und komme ohne Zaudern auf einige Tage zu mir. Von hier aus kannst Du nach Deinem künftigen Bestimmungsort abgehen. Der berühmte Baumeister, in dessen Schule Du eintreten wirst, ist von Deiner Ankunft bereits unterrichtet, Deine Wege sind also gebahnt. Vor der Hand bedarfst Du nur des Trostes und vielleicht kann ich ihn Dir geben. Komm! –«
Die Hinterlassenschaft meiner Mutter und Geschwister war bald verkauft, meine Verpflichtungen in Hamburg bald erfüllt, und mit den nothwendigen Papieren und einigem Gelde versehen, begab ich mich auf die Reise nach der kleinen Universitätsstadt, in der mein Onkel wohnte. Ach, es war dies die erste Reise in meinem Leben, und mit wie wehmüthigen Gefühlen trat ich sie an!
Ich erreichte jene Stadt und langte im Hause meines Onkels an, wo ich sehr freundlich empfangen wurde und zuerst mich ausweinte und meinen Kummer in ein mitleidiges Herz ergoß. Das war eine Wohlthat für mich, die mir schon an sich großen Trost verlieh. Eben so wohlthätig erwiesen sich die einfachen Trostsprüche meines Onkels, die unmittelbar aus seinem Herzen zu kommen schienen und durch die beigefügten Vernunftgründe noch reichlicher unterstützt und eindringlicher gemacht wurden.
Lassen Sie mich rasch über die ersten Stunden bei meinem Onkel hinweggehen und zu andern Dingen kommen. Ich führte mich sehr bald heimisch in seinem Hause und doch war ich von Anfang an über das kleine Hauswesen erstaunt. Er selbst hatte für sich nur zwei Zimmer, ein Schlaf- und ein Bücherzimmer. Letzteres bot kaum einen Platz zum Sitzen dar, so voll war es von Büchern, Instrumenten und verschiedenen seiner Wissenschaft dienenden Gegenständen. Und daß mein Onkel nicht begütert war, ward mir sehr bald an dem ganzen Zuschnitt seines Lebens und seiner häuslichen Einrichtungen klar. Seine Einnahmen waren gering, denn von seiner kleinen Besoldung und noch kleineren Pension konnte er nicht leben und Studenten der Mathematik gab es nur wenige an der dortigen Universität. So war er zumeist auf den Ertrag seiner Bücher angewiesen, aber auch die Abnahme dieser war unbedeutend, da sie nur für wenige Gelehrte geschrieben waren.
Was meinen Onkel nun selbst betrifft, so schien er weniger der Herr als das Kind in diesem Hause zu sein, dem zu Liebe Alles geschah und um dessen Wohl sich das Rad des ganzen Hauswesens drehte.
Die Beschützerin, Pflegerin, Bewahrerin dieses alten Kindes aber war seine Haushälterin, die Wittwe eines ehemaligen Polizeisergeanten, ein kräftiges, energisches und namentlich mundstarkes Weib, welches er deshalb seinen Dragoner nannte, und von dem er sich widerstandslos am Gängelbande leiten ließ. Sie war, da er nichts als seinen Schreibtisch, seine Bücher und seine Berechnungen kannte, sein Stab und seine Stütze in allen Dingen. Sie sorgte für jeden frischen Luftzug, für jedes seiner Bedürfnisse, seine Kleider, Wäsche und Nahrung, denn für alle dergleichen Dinge hatte er, wie ich nun sah, nicht den geringsten Sinn. Wenn Frau Thusnelda Dralling, so hieß diese meinem Onkel unentbehrliche Frau, aber sagte: Herr Professor, jetzt müssen Sie essen oder trinken oder Ihren gewöhnlichen Spaziergang antreten – er ging nämlich alle Tage Nachmittags meilenweit spazieren, wobei er am besten rechnete, wie er sagte – so that er es ohne Widerstreben, da sie auch seine Uhr war, die, nebenbei erwähnt, einen auffallend harten Schlag hatte. So war er in Allem gehorsam, führte sich in seiner Abhängigkeit glücklich, weil seine Existenz durch sie allein möglich war, und wenn er einmal, was höchst selten geschah, eine abweichende Meinung äußerte, so geschah es in jenem sanften und herzlichen Ton, in dem eben so viel Friedensliebe wie Anerkennung und Dankbarkeit lag.
Dennoch dürfen Sie nicht glauben, daß Frau Dralling meinen Onkel vollkommen beherrschte. Wichtiges that er immer und doch so, wie er es wollte und es für recht und zweckmäßig hielt, und wenn sie ihm einmal zu viel vorpredigte, schwieg er, nickte mit dem Kopfe und sagte: »Ja, ja!« Ihr größtes Verdienst in seinen Augen war, daß sie ihn niemals bei seiner Arbeit störte, jeden seiner Winke mit einer eigenen Spürkraft verstand und über seine zahllosen Zerstreutheiten und Vergeßlichkeiten keinen Vorwurf laut werden ließ. Darum war er ihr auch dankbar und freundlich ergeben, wie auch sie ihn gleich ihrem Tageslichte betrachtete, mit dessen Erlöschen einst nothwendig ihre Nacht beginnen müsse. Nur eine Klage hatte sie über ihn und diese sprach sie eines Morgens gegen mich mit wirklicher Trauer aus. »Er hält alle Menschen für gut,« sagte sie beinahe weinend, »und will durchaus nicht glauben, daß es auch schlechte und böswillige Creaturen giebt. Daß sich Gott erbarme! wie kann ein so kluger und gelehrter Mann einen so argen Irrthum begehen! Darum vertraut er auch Jedermann, dem Schurken wie dem Ehrenmann, und da er selbst übermäßig gut und weichen Herzens ist, so opfert er sich auch für die Schlechten, borgt ihnen Geld und Bücher und denkt niemals daran, das Geborgte wiederzuerhalten, da er namentlich keinen Begriff von dem Werth des Geldes hat. Ach, das wird ihn noch einmal in große Verlegenheit bringen, ich sehe es kommen, und dann wird er den Schaden allein zu tragen haben, wenn Andere sich in's Fäustchen lachen.«
So sprach sie und ich konnte ihr eigentlich nicht Unrecht geben. Doch ich kann dies Verhältniß hier nur andeuten, ausführen darf ich es nicht, da ich sonst Stunden lang darüber sprechen müßte. Mir war dasselbe vollkommen neu, ich hatte nie dergleichen gesehen und darum war ich auch erstaunt darüber, obwohl ich eben so die unterwürfige Kindlichkeit meines Onkels, wie den gemäßigten herrischen Sinn seiner unermüdlichen Pflegerin bewundern mußte.
Ueber meinen Vorsatz, das Baufach zu studiren, war mein Onkel sehr erfreut und bald in allen Puncten mit mir einig. Hierüber sprachen wir nur auf seinen langen Spaziergängen, auf denen ich ihn begleitete, denn im Hause bei seiner Arbeit durfte auch ich ihn nicht stören. Dagegen führte ich in diesen Stunden mit Frau Dralling sehr lange Gespräche, die sich jedoch alle um ihren Herrn drehten, ihre Sorgfalt für ihn verriethen und, trotzdem sie ihn bisweilen tadelte, doch nur sein Lob nach allen Richtungen hin verkündeten.
So vergingen mir acht Tage sehr schnell und ich reiste wirklich etwas getröstet von meinem Onkel fort. Ich hatte bei ihm eine neue Welt kennen gelernt und manche Aufschlüsse über das menschliche Leben erhalten, worüber reichlich nachzudenken ich einen werthvollen Stoff gefunden hatte. So kam ich denn hier an und fand diese Wohnung bei Frau Zeisig gleich am ersten Tage. Mein Onkel hatte mir einige Empfehlungsbriefe an hervorragende Gelehrte mitgegeben, und diese bald abzuliefern und mich dabei persönlich vorzustellen, hielt ich für meine erste Pflicht. Die Herren nahmen mich alle wohl auf und sagten mir Schmeichelhaftes über meinen Onkel, das war aber auch Alles, kein Einziger von ihnen hat sich bis jetzt um mich bekümmert, und das ist mir leicht erklärlich. Die Stadt ist groß, der Hülfesuchenden, Strebenden sind viele und der einzelne Tropfen verschwimmt in der gewaltig wogenden Fluth des unermeßlichen Meeres.
Die zweihundert Thaler, die mein Onkel früher meiner ganzen Familie zugewandt, hatte er großmüthig von jetzt an mir allein überlassen und das war meine ganze Baarschaft, von der ich hier zu leben und meine Studien zu bestreiten hatte. Ich hielt die Summe anfangs für sehr groß, allein bald lernte ich einsehen, daß ich mich schwer geirrt. Ich trat hier abermals in eine ganz neue Welt ein, die höhere Ansprüche an mich machte, als ich erwartet, und da ich mich anständig kleiden mußte, viele neue Bücher und Arbeitsmaterialien gebrauchte, von vornherein einzelne mir angenehme und nothwendige Collegien hörte, so sah ich mit Entsetzen, daß meine Einnahmen kaum zwei Drittel des Jahres für meine Bedürfnisse ausreichen würden, zumal das Leben in dieser Stadt theuer ist, so sehr man sich auch mit seinen Mitteln einschränken mag.
Der berühmte Baumeister, bei dem ich durch einen Bekannten meines Onkels als Zögling angemeldet war, nahm mich wohlwollend genug auf, und im ersten Jahre erhielt ich bei ihm einen vollkommenen Einblick in das Technische meines Berufes. Ich lernte kunstgerecht zeichnen und Anschläge machen und erwarb mir die vorläufigen Constructionskenntnisse. Nach Ablauf des ersten Jahres trat ich als Eleve in die Bauakademie ein und betrieb hier während der letzten anderthalb Jahre die mathematischen Wissenschaften, die höhere Mathematik, Statik und Hydraulik, so wie die Maschinenlehre. Auch Naturwissenschaften, Chemie und Physik, und Bauconstructionslehre studirte ich eifrig und unterrichtete mich in verschiedenen Baufächern über Stadt, Land- und Maschinenbau, Strom, Deich- und Hafenbau, obgleich ich für die schöne, sogenannte ästhetische Baukunst den meisten Sinn und die größte Neigung hatte. In dieser Periode meines Lebens sehen Sie mich jetzt und ich gehe nun dem wichtigen Zeitraume entgegen, wo ich meine Bauführerprüfung ablegen soll, um mich dann der hiesigen Regierung zuweisen zu lassen, die mich meinen Kenntnissen gemäß beschäftigen wird.
Da haben Sie nun einen kurzen Abriß meines Lebenslaufes. Wenn ich meine nächste Prüfung bestanden habe, beginnt erst so recht eigentlich meine practische Laufbahn. Ich werde mich drei Jahre lang mit Straßen, Land- und Wasserbau beschäftigen und hoffentlich schon während dieser Zeit Muße finden, Privatbauten ausführen und mir dadurch einiges Geld verdienen zu können. Von der Regierung erhalte ich später auch Diäten und werde dann nicht mehr nöthig haben, meinem Onkel die zweihundert Thaler zu entziehen. Nach diesen drei Jahren werde ich noch einmal die Bauakademie zum besseren Verständniß des Ganzen besuchen und dann meine Baumeisterprüfung ablegen. In den Staatsdienst aber werde ich wahrscheinlich nicht treten, einmal weil ich Ausländer bin und meine Heimatsrechte nicht aufgeben will, und sodann, weil ich es vorziehe, als Privatbaumeister auf meinen eigenen Füßen zu stehen und selbstständig und frei von allen Außenverhältnissen zu bleiben. Die dazu nöthigen Prüfungen werde ich indessen sämmtlich ablegen, damit ich mir für alle Fälle eine künftige Carriere offen Erhalte. Nun kennen Sie mich und wissen, wer ich bin, woher ich stamme, was ich erlebt habe und was ich an diesem Orte treibe.«
Fritz Ebeling hatte der letzten Mittheilung seines neuen Freundes eine gleich große Aufmerksamkeit geschenkt wie der früheren, und als derselbe nun schwieg, senkte der junge Mensch nachdenklich seinen klugen Kopf, hob ihn aber gleich darauf wieder empor und sagte mit einer überraschenden Lebhaftigkeit:
»Aha, also so ist es! Darf ich mir aber noch eine Frage erlauben, die einen delicaten Punct in Ihrer Erzählung betrifft?«
Paul schaute halb verwundert auf und erwiderte dann mit seiner gewöhnlichen Ruhe:
»Fragen Sie dreist. Ich hoffe Ihrer Theilnahme mit einer offenen Antwort begegnen zu können.«
Fritz lächelte freudig. »Gut,« sagte er. »Sie sprachen davon, daß jene zweihundert Thaler, die Sie von Ihrem Onkel erhielten, nur für zwei Drittel des Jahres ausgereicht hätten. Wovon – o, Sie verzeihen gewiß meine Neugierde – wovon haben Sie das letzte Drittel gelebt?«
Paul schien gerade diese Frage am wenigsten erwartet zu haben und erröthete leicht. »Nun ja,« erwiderte er nach einigem Zögern, »ich mußte auf fremde Hülfsquellen sinnen, und das Glück stand mir bei, daß ich dieselben fand.«
»Darf ich sie nicht kennen lernen?« lautete die etwas leise gesprochene neue Frage.
»Wenn Sie es wünschen, o ja, ich brauche mich meiner Armuth ja nicht zu schämen, da ich sie nicht verschuldet habe. Doch die Sache ist etwas weitläufig und hängt im Ganzen folgendermaßen zusammen. Von meinem Vormund in Hamburg erhielt ich einen Brief an einen hiesigen Buchhändler, mit der Weisung, denselben persönlich zu besuchen und meinen etwaigen Bücherbedarf von ihm zu entnehmen. Ich begab mich zu dem Buchhändler, traf ihn aber nicht zu Hause und gab den Brief ab. Als ich nun wirklich Bücher gebrauchte, kaufte ich sie in der mir bekannt gewordenen Buchhandlung und glaubte, daß der abgegebene Brief weiter keine Folgen haben werde. Es verging auch eine lange Zeit, fast sechs Monate, ohne daß ich etwas von dem Buchhändler hörte. Da trat jener traurige Moment meiner Kassenebbe ein und ich bemühte mich umsonst, eine Erwerbsquelle ausfindig zu machen. Eines Mittags saß ich recht sorgenvoll hier in meiner Stube, als Jemand an die Thür pochte. Alsbald trat ein älterer, sehr fein gekleideter Mann ein, der sich mir als der bewußte Buchhändler vorstellte und seinen so lange aufgeschobenen Besuch mit einer längeren Reise entschuldigte.
Er nahm hier neben mir Platz und wir sprachen über meine Verhältnisse, von denen er durch den Brief meines Vormundes einigermaßen unterrichtet zu sein schien. Da ich auf seine vielerlei Querfragen nicht immer gleich die passende Antwort hatte, fragte er mich endlich geradezu, ob ich die nöthigen Mittel besäße, in der großen Stadt nach Belieben meinen Studien obzuliegen. Alsbald faßte ich Vertrauen zu, ihm und eröffnete ihm meine kritische Lage, wozu ich die Worte fügte, daß ich mir gern einen Nebenverdienst verschaffen und fleißig arbeiten würde, wenn ich nur Gelegenheit dazu fände.
Der Buchhändler dachte einige Augenblicke still nach, dann nahm er plötzlich eine Geschäftsmiene an und sagte: »Diese Arbeit und dieser Nebenverdienst dürfte wohl zu finden sein, wenn Sie die nöthigen Fähigkeiten dazu besitzen.«
»Was sind das für Fähigkeiten?« fragte ich.
»Ich will sie Ihnen nennen,« sagte er. »Ich bin Vorsteher einer Verlagsbuchhandlung und verlege namentlich Brochüren politischen Inhalts. Ich beschäftige dabei verschiedene Correctoren und zahle einen guten Preis an sie. Gerade jetzt ist mir ein alter Corrector gestorben und ich brauche einen neuen. Jedermann ist dazu nicht tauglich, am wenigsten darf er – politisch befangen sein. Wenn Sie nun im Stande wären, diese Lücke auszufüllen und die Arbeit nach meinem Sinne zu vollführen, so sollte sie Ihnen sogleich gehören.« Hierauf fügte er die Erfordernisse eines Correctors in seinem Sinne hinzu und ich glaubte, zu finden, daß ich den Leistungen desselben gewachsen sein würde, was ich ihm sofort sagte.
»Wir wollen eine Probe machen,« erwiderte er. »Heute Abend sollen Sie einen Bogen erhalten. Allein ich stelle Ihnen dabei zwei Bedingungen. Erstens muß der Correcturbogen, der Abends bei Ihnen eingeht, nächsten Morgen Punct neun Uhr in meinen oder des Druckers Händen sein, den ich Ihnen bezeichnen werde. Und zweitens müssen Sie durchaus Stillschweigen über den Inhalt dieser Brochüren beobachten, da die Verfasser in der Regel nicht bekannt werden wollen.«
»Diese Bedingungen gehe ich ein,« sagte ich, und er gab mir die Hand und verabschiedete sich. An demselben Abend erhielt ich schon den ersten Bogen und ich machte mich sofort an die Arbeit. Anfangs schien sie mehr mühsam als schwer zu sein und nur einige Aufmerksamkeit zu erfordern, denn ich mußte mich in diesen geisttödtenden Mechanismus erst hineinarbeiten, da doch mein eigener Geist zu frisch und selbstthätig war, um nicht an dem Inhalt haften zu bleiben und darüber weiter nachzudenken. Allmälig aber erlernte ich die nöthige Technik und die Ruhe fand sich dazu, die Arbeit selbst ermüdete mich zwar, aber ich schaffte sie doch immer bald bei Seite.
Mein Buchhändler war mit meinen Leistungen zufrieden und bezahlte mir jeden Bogen, wie er es verheißen. So bin ich denn seit beinahe zwei Jahren sein Corrector und beziehe dadurch ein kleines Einkommen, das meine kargen Mittel vermehrt und meinen Erwartungen so ziemlich entspricht. Allerdings greift diese Arbeit auch die Augen an, da der Druck oft sehr klein ist und man jeden Buchstaben genau ansehen muß, allein ich bin jung, kräftig und habe vortreffliche Augen, so daß ich die mir gestellte Aufgabe ohne große Beschwerde bewältigen kann. Gestern, als Sie zum ersten Male in mein Zimmer traten, fanden Sie mich bei dieser Arbeit. Wenn ich mit ihr fertig bin, gehe ich zu meinen Berufsstudien über, und wenn Correcturbogen kommen, beseitige ich diese. So lebe ich von einem Tage zum andern, bis ich in's praktische Leben treten werde. Dann ist hoffentlich meine Noth zu Ende und ich brauche nicht mehr um solchen geringen Lohn zu arbeiten, was immer eine etwas niederdrückende, für einen denkenden Geist sogar oft demüthigende Aufgabe ist. Jetzt wissen Sie Alles, was ich Ihnen von mir und meiner Lebensweise sagen kann, und nun bitte ich Sie um Verzeihung, daß sich Sie so lange mit meiner langweiligen Erzählung aufgehalten habe.«
Er schwieg und sah den jungen Ebeling verwundert an, denn dieser war in eine Art stiller Träumerei versunken und hatte den Kopf tief auf seine Brust geneigt. Plötzlich aber fuhr er damit in die Höhe, blickte den Studenten fest und durchdringend an und rief laut und ohne irgend einen erklärenden Uebergang:
»Wann kommen Sie zu meiner Mutter?«
»Wenn ich ihr willkommen bin, kann es jeden Tag geschehen,« erwiderte Paul ziemlich ruhig, setzte aber sogleich mit Wärme hinzu: »Ich hoffe es morgen schon thun zu können, denn ich fühle das Bedürfniß, ihr meinen Dank zu sagen –«
»O, darum nicht,« unterbrach ihn Fritz rasch.
»Warum denn?«
»Nun,« sagte Jener mit einem vielsagenden und geheimnißvollen Lächeln, »weil sie eine gute, eine sehr gute Frau ist und schon längst einen passenden und vortheilhaften Umgang für mich gesucht hat. Und nun frage ich Sie ganz offen – nach Ihrer vertraulichen Erzählung habe ich den Muth dazu – würden Sie sich dazu verstehen, mit mir und meinem elterlichen Hause zu verkehren?«
Paul van der Bosch erröthete bis tief in die Schläfen hinein und dann sagte er langsam, gleichsam als wolle er die in ihm sprudelnde Aufregung zurückhalten.
»Gern, wenigstens so weit es mir meine Zeit erlaubt.«
»Gut,« sagte Fritz, indem er aufstand. »Das soll nicht blos gesagt sein, hoffe ich. Ich werde Sie beim Wort nehmen. Gerade solchen Umgang, wie Sie ihn mir bieten, habe ich mir gewünscht; ich kann viel von Ihnen lernen und – und – Sie werden auch meinen Eltern gefallen. Davon bin ich fest überzeugt. Jetzt aber muß ich gehen und ich sage Ihnen Lebewohl. Meinen Dank für Ihre gütige Mittheilung aus Ihrem Leben spare ich mir auf. Leben Sie wohl bis morgen und geben Sie mir noch einmal Ihre Hand.«
Paul reichte seine Hand hin und gleich darauf verließ Fritz das Zimmer, von dem Studenten mit der Lampe bis an die Treppe begleitet.
Und diesmal hatte Letzterer wohl keine Ahnung, daß dieser Besuch und die eben vorgetragene Erzählung bedeutende Folgen für ihn haben, und eben so wenig, daß dieselbe in den nächsten Minuten schon einen größeren Zuhörerkreis finden sollte. Denn Fritz Ebeling hatte, sobald er nach Hause gekommen war und in dem Zimmer der Mutter noch seinen Vater, seine Tante und deren Tochter gefunden, nichts Eiligeres zu thun, als die ganze Geschichte des armen Studenten, wie sie ihm noch warm auf der Seele lag, seinen Angehörigen vorzutragen, mit einer an Leidenschaft gränzenden Lebhaftigkeit, die bisher noch Niemand an ihm wahrgenommen, und mit Zusätzen und Beschreibungen des Studenten begleitet, die eben sowohl Zeugniß von dem guten Herzen wie von der feinen Beobachtung des Berichterstatters selbst ablegten.