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Viertes Kapitel.
Ein neues Asyl thut sich für den Verwaisten auf

Wenn ein lange und still getragener Schmerz, wie so manche Menschenseele auf dieser Welt ihn zu tragen hat, sich endlich einmal in Klagen oder nur in eine sanfte Mittheilung desselben ergießen kann, so wirkt das wie der linde, warme Regentropfen, der auf eine von der Hitze ausgedörrte und durstige Flur fällt. Eine unbeschreiblich süße Erquickung, eigentlich eine Art Wollust edelster Gattung, ist die nächste Folge davon, und dann heben die erfrischten Gräser und die neu belebten Halme ihre so lange in Wehmuth schmachtenden kleinen Köpfe wieder vertrauensvoll und dankbar zum Himmel empor, der ihnen diese Erquickung gespendet hat.

Ein solcher wohlthuender Und erquickender Regen war auch auf Paul van der Bosch's ermattete Seele gefallen, als er sie durch jene Erzählung seiner Lebensschicksale entlastet hatte. Es war ihm danach wunderbar frei und leicht um's Herz geworden und jetzt erst fühlte er, daß ihm, beinahe unbewußt, ein schwer drückender, beängstigender Alp darauf gelegen hatte. In der einsamen Lage, in welcher er sich Jahre hindurch befanden, durch keines Freundes Wort und Auge beglückt, durch keines Mitfühlenden Trost aufgerichtet, hatte er die traurigen, momentan aufwallenden Empfindungen seines Herzens stets niedergehalten, sie mit männlichem Geist bezwungen und nur alle Kräfte dieses Geistes – und mit ihnen natürlich auch die seines Körpers – aufgeboten, dem inneren Drange zu genügen, welcher seine Brust erfüllte, ein rastloser, strebsamer Drang, den nicht nur eigene Lust und Neigung zur Arbeit selbst, sondern auch äußere harte und bittere Nothwendigkeit in ihm wachgerufen. Jetzt zum ersten Mal, vielleicht nach langem und unbewußtem Schmachten danach, hatte er einem jungen warmblütigen Herzen das seinige erschließen können, und schon spürte er die nächste Wirkung davon, ein ihm bisher unbekanntes Glück, das, wie der Ausfluß einer magischen Zaubergewalt, sich seines ganzen Wesens bemächtigte und es mit neuen Lebenshoffnungen erfüllte.

O, er hatte in seiner frühesten Jugend und theilweise auch noch in den letzten Jahren mit den dunklen dämonischen Möchten dieser Erde viel härter gekämpft, von ihnen viel Herberes erlitten, als er so eben in seiner Erzählung durchblicken ließ, sein ganzes bisheriges Leben hatte mit seiner feindlichen Wucht gewaltig schwer auf ihn gedrückt. Und nun, mit einem Male zeigte sich eine, wenn nicht hülfreiche, doch wohlthuende Hand, wie aus den Wolken zu ihm herabgereicht; nun lichtete sich der graue Himmel über ihm und zeigte ihm einmal ein Stückchen jener wundervollen Bläue, die jedem sterblichen Auge ein so unsägliches, weil unbegreifliches Wohl- und Trostgefühl erregt, und wie von Windesflügeln erhoben, schwoll sein Herz von nie empfundener Wonne über und er bereute keinen Augenblick, daß er ein ihm bisher fremdes Auge in die Nacht seines Lebens hatte schauen lassen.

War er aber wohl gegen den jungen Menschen, der ihm so liebevoll mit jugendlich überschwellendem Herzen entgegengetreten war, ganz aufrichtig gewesen? Hatte er ihm Alles gesagt, was ihn innerlich tief bewegte, wofür er mit seinem Geiste strebte, dachte und arbeitete? Nein, wie er ihm so manches äußere Weh verschwiegen, so hatte er ihm auch nicht Alles gesagt, womit er sich in seinen Mußestunden beschäftigte, und dieses Schweigen beruhte nicht sowohl auf einer bestimmten Absicht und weltklugen Ueberlegung, als vielleicht auf einer unwillkürlichen, instinctartigen Zurückhaltung, die oft unbewußt in jedes von der Natur begabten Menschen Seele wohnt, die sich nie ganz und gar auf den ersten Wurf preisgiebt und in dem innersten Herzensschrein noch immer ein unnahbares Heiligthum für sich behält.

Ein kleines, stilles Geheimniß war es, welches Paul van der Bosch in dieser jetzigen, seiner strebsamsten Zeit, keinem Menschen eröffnet haben würde; das bewahrte er allein für sich, für seine einsamsten und vielleicht glücklichsten Stunden, – Stunden, in denen er mit sich und seinem Gewissen, seinem Geist allein und ungestört war und wie sie nur das schöpferische Genie kennt und besitzt, da sie die Zeit umfassen, in der die Werkstätte seines Geistes geöffnet ist, wo die Gedanken weben und schaffen, pochen und gähren, schäumen und sich endlich abklären und die am tiefsten schlummernden Gefühle der Menschenbrust, wie kleine Schaumblasen, von einer inneren Triebkraft gehoben, an die Oberfläche dieser Welt treten.

Unmöglich konnte ein Geist, wie der Paul's, sich blos mechanisch mit den Correcturen von Buchstaben und Wörtern befassen, die einen bedeutsamen und schwerwiegenden Sinn einschlossen. Sein eigener Geist mußte nothwendig Kenntniß von diesem fremden Geiste nehmen und die schlagenden Wahrheiten, die unläugbaren Thatsachen, die derselbe verkündete, in sich Platz greifen lassen. So erkannte er sehr bald, was für ein wichtiger Gehalt in den kleinen Werken war, deren technische Vollendung er in seine Hand genommen hatte. Auch gestand er sich bald ein, daß der Verfasser dieser Zeilen mit seinen Wahrheiten und Thatsachen auch sein Herz bewege, seinen Verstand erleuchte und ihm eine ganz neue Welt des Denkens und Empfindens aufschließe, eine Welt, in welcher er sich noch nie ergangen hatte und die ihm eine Art geistiger Eroberung eines großen mächtigen Besitzes zu sein schien.

Und wie eine kleine Flamme, wenn sie einmal an einem brennbaren Stoffe haftet, mit der Zeit größer und lebhafter wird, so lange sie weiteren Stoff zum Brennen findet, so hatte das Feuer, welches in die empfängliche Seele Paul's geworfen worden, viel zündbare Stoffe vorgefunden, und nun war eine große Flamme in seinem Innern ausgebrochen, die fortan, immer neuen Stoff findend, von innen heraus sein Herz erwärmte und den Weg tageshell erleuchtete, den sein Geist fernerhin zu wandeln hatte. Denn dieser jugendfrische, einmal aus dem Schlummer erweckte Geist konnte nicht inmitten eines Weges stehen bleiben, dessen Ziel ihm erreichbar vor Augen zu liegen schien, und so begann er selbstständig zu denken, zu überlegen und sich seinen eigenen Weg zu bahnen, auf welchem er jenes Ziel zu erreichen hoffen durfte.

Wenige Wochen nur war Paul der Corrector jener Brochüren gewesen, so regte sich in ihm die wie aus den Lüften ihn anwehende Lust, Dinge und Verhältnisse der Welt, wie sie in Wirklichkeit waren und wie sie in naturgemäßer Entwickelung eigentlich sein sollten und könnten, einer Untersuchung zu unterwerfen, und als er sie so erst mit dem ihm innewohnenden Lichte beleuchtet, kam der zweite Drang: das Gefundene niederzuschreiben und es wenigstens für sich aufzubewahren, damit er künftig einen Maaßstab oder wenigstens eine Erinnerung habe, wie er in seiner Jugend über Gegenstände gedacht, die auch in späterem Alter ihm von Wichtigkeit sein konnten, da sie bereits begonnen hatten die ganze Welt in Athem zu versetzen und in den Kreislauf des die Menschheit belebenden Blutes einzudringen.

Als Paul aber erst einmal angefangen, jene kurzen und abgerissenen Gedanken niederzuschreiben, anfangs auf einzelne Zettelchen, ohne allen Zusammenhang, ohne besondere Absicht und Zweck, da konnte er schon nicht mehr von dieser Beschäftigung zurücktreten; denn wenn der menschliche Geist erst begonnen hat, seine Gedanken in irgend einer Richtung zu entwickeln, so muß er, wenn er der rechte Geist ist, zufolge einer naturgemäßen Triebkraft darin fortfahren und die gewaltige Kette bilden helfen, die anscheinend freilich nur aus einzelnen Ringen und Gliedern besteht, aber sich doch mit ihrer Endlosigkeit und unzerstörbaren Zusammengehörigkeit um die ganze Welt und alle darauf wohnenden Menschen schlingt.

So arbeitete er Jahrelang still und unbeachtet für sich und zuletzt wuchsen seine Gedankenblätter zu einer ganz artigen Sammlung von Aufsätzen an, die freilich an sich für jetzt noch keinen allgemeinen Werth hatten, jedoch schon verriethen, was für Früchte sich aus dem denkenden Kopfe ihres Urhebers einst zeitigen lassen würden.

Es war eine politisch höchst bewegte Zeit, in welcher der junge Student der Baukunst lebte und studirte. Der eigentliche Sturm, der die neue Periode der ihrer selbst und ihrer Bestrebungen sich bewußt gewordenen Menschheit heraufbeschworen, hatte freilich ausgebraust, nur hier und da röchelte noch ein scharfer Stoßwind in den Lüften und der allgemeine, laut über die Erde hin dröhnende Nothschrei hatte sich in vereinzelte, nur noch schwach vibrirende Seufzer aufgelöst. Die Menschen aber hatten einmal angefangen, die Ursachen mit den Wirkungen zu vergleichen, Verheißungen mit Thatsachen zusammenzustellen, und da das Resultat ihrer Vergleichung nicht mit ihren Wünschen und Forderungen stimmte, so begannen sie, weil sie nicht handeln konnten, wenigstens zu denken und zu sprechen, und dabei erhitzten sie sich leider und forderten so die Gegenströmungen heraus, die nicht immer zu Jedermann's Gefallen flutheten und Manchem oft Leid und Weh brachten. Oeffentliche Blätter durften nur halblaut und vorsichtig den gährenden Stoff berühren, dafür aber tauchten insgeheim Schriften von unbekannten Autoren auf, die mit einem wahren Heißhunger gelesen wurden und, da sie auf eine gesunde geistige Verdauung trafen, unmittelbar in Fleisch und Blut des ausgehungerten Seelenorganismus übergingen. Und diese Autoren damaliger Zeit waren nicht etwa armselige Literaten, Existenzen, die ihren Lebensberuf verfehlt, nein, es waren zum Theil hochstehende Staatsmänner, geistig und politisch durchgebildete Parteiführer, Gelehrte und Denker vom reinsten Wasser und unzweifelhaft reinem Rufe, die sich nur auf solche Weise in die Herzen der Menschen einführen konnten, da ihnen ein anderes Organ versagt und ihre Stimme ihnen gleichsam in die Kehle zurückgedämmt war.

Brochüren dieser Art waren es, die Paul van der Bosch so zufällig in die Hände gerathen, und wie sie bei ihm wirkten, haben wir vorläufig schon anzudeuten versucht. Von dem eigentlichen Parteitreiben der Politik hatte er keine Kenntniß, ja, er war sogar weit davon entfernt, nur den Wunsch zu hegen, seine Bekanntschaft zu machen; die Gedanken, die durch Lesung jener Brochüren in ihm angefacht wurden, waren nur allgemeine, das Wohl und Weh der Menschheit betreffende Gedanken, und über diese hatte er oft genug mit Studiengenossen gesprochen und sein productiver Geist hatte sie weiter in sich verarbeitet, ohne Neigung und Absicht, sie irgend wie und wo auf den Markt des Lebens zu werfen und dadurch in einen Meinungsaustausch mit der Außenwelt zu gerathen. Nachdem wir diese wenigen Worte zur näheren Characterisirung unseres Freundes und zur Erläuterung seines künftigen Geschicks vorausgesandt, kehren wir zu der Stunde zurück, in welcher wir ihn frei von der Last verließen, die sein Herz so lange bedrückt, und schweigend in stiller Lust, einen Menschen gefunden zu haben, dem er sich näher anschließen durfte, ohne sich selbst aus dem Auge zu verlieren, und dessen Einladungen er folgen konnte, mit der Hoffnung, dadurch zugleich aus seiner öden Einsamkeit herauszutreten und der fröhlichen heiteren Welt da draußen näher zu rücken.

Selten in seinem Leben hatte Paul van der Bosch einen so ruhigen Schlaf wie in der Nacht nach dem Besuche Fritz Ebeling's gehabt, und selten war ihm der Morgen so rasch angebrochen, wie am nächstfolgenden Tage. Sein erster Gedanke, als er die Augen aufschlug, war der, daß er das Versprechen gegeben, noch heute der Mutter seines jungen Freundes seine Aufwartung zu machen, und dieser Gedanke stimmte ihn ernst und bedachtsam, obwohl er ihm auch wieder seine wohlthuende Freude in's Herz goß, denn es dünkte ihm eben sowohl ein Genuß wie ein Fortschritt in seinem eigenen Leben zu sein, unter Menschen voll edler Gesittung zu treten, mit denen er herzlich und vertraulich verkehren konnte, und daß dies bei dem Banquier der Fall sein würde, glaubte er nach dem Verhalten des Sohnes dieser Familie bestimmt voraussetzen zu dürfen.

Als das Licht des neuen Tages angebrochen war, warf unser Student zuerst einen Blick nach einem bekannten Fenster des jenseitigen Hauses hinüber, aber die Vorhänge desselben waren geschlossen, wie an jedem Morgen, und erst als er Mittags aus seiner letzten Vorlesung nach Hause kam und wieder einen Blick auf dieses Fenster warf, sah er den weißen Vorhang aufgerollt, ohne jedoch irgend Jemanden daran wahrzunehmen.

Jetzt endlich war die Stunde des wichtigen Besuches gekommen und Paul rüstete sich sorgsam dazu. Seine besten Kleider, ach! sie waren freilich schon lange nicht mehr neu, wiewohl noch immer seinen Wünschen ziemlich entsprechend, wurden säuberlich abgestäubt, der noch wenig gebrauchte schwarze Hut glatt gebürstet, die reinsten Handschuhe angezogen und dann der Mantel umgeworfen und sofort der Gang in das Nachbarhaus angetreten.

Mit einiger Bewegung schritt er über die schmale Straße, und als seine Hand den Thürdrücker der großen Pforte erfaßte, bebte sie leise. Noch niemals in seinem Leben hatte er einen Besuch bei so wohlhabenden Leuten gemacht und so war die Beklommenheit, die ihn befiel, eine sehr natürliche. Diese Beklommenheit aber sollte noch mehr zunehmen, als er in den großen Vorsaal des schönen Hauses trat und die zierlichen Treppen, die Wandgemälde, die Statuen sah, welche denselben schmückten. Nein, solch' ein Eingang war ihm an einem Privathause noch nie vor Augen gekommen und rasch schweifte sein kunstgebildetes Auge darüber hin, während er sich unbewußt selbst sagte:

»Gut! Ich muß mich darauf gefaßt machen, noch Besseres zu sehen, so viel begreife ich. Ruhig vorwärts, Paul, und besorge nichts. Du sollst willkommen sein, hat der Sohn des Hauses gesagt, und seinen treuen Augen glaube ich schon.«

Kaum hatte er es gedacht, so ward er von einem lauten Willkommenruf überrascht, denn Fritz trat ihm aus einer Thür jauchzend entgegen und führte ihn ohne Aufenthalt in ein Zimmer, in dem er sich nun mit dem Secundaner allein sah.

»Gedulden Sie sich einen Augenblick,« sagte Fritz Ebeling mit freudig erregter Miene, »meine Mutter wird sogleich erscheinen und auch mein Vater wird nicht mehr lange ausbleiben, denn auch er wünscht lebhaft, Sie kennen zu lernen.«

Paul sprach einige Worte, stand mit dem Hut in der Hand mitten im Zimmer und blickte sich einigermaßen verwundert darin um, als könne er kaum begreifen, wie er, der arme Student, in ein solches Zimmer gerathen sei. Hoch wölbte sich die mit reichen Stuccaturornamenten geschmückte Decke über ihm empor und den glatten Fußboden verhüllte fast ganz ein bunter, weicher Teppich. Die Möbel waren von der gefälligsten, bequemsten Art, die Sophas und Sessel mit kirschfarbigem Plüsch überzogen, die Wände mit schönen Oelgemälden bedeckt und eine warme, mit gelinden Wohlgerüchen geschwängerte Luft durchströmte den ganzen weiten Raum.

Jedoch blieb dem Besucher nicht viel Zeit übrig, die vielen kostbaren Einzelnheiten dieses schönen Damenzimmers zu bewundern, denn alsbald ging die Thür auf und herein trat Frau Ebeling mit ihrem stillen, leisen Gange, das kluge sanfte Gesicht voller Milde und das Auge erwartungsvoll auf die hohe Gestalt des Studenten gerichtet.

»Sehr verehrte Frau,« redete dieser sie an, indem er sich achtungsvoll verbeugte, »Sie verzeihen, daß ich von Ihrer gütigen Erlaubniß so bald Gebrauch mache und Ihnen meinen Besuch abstatte. Es freut mich, daß ich mich Ihnen gleich mit einem herzlichen Danke nähern kann –«

Weiter kam er in seiner Rede nicht. Denn nachdem Fritz ihm auf einen Wink seiner Mutter sofort den Hut abgenommen hatte, hob diese mit einer mild abwehrenden Geberde die rechte Hand auf und sagte: »Herr van der Bosch, danken Sie nicht mir. Wenn Sie hier Jemanden zu danken haben, so ist es ein Anderer. – Fritz,« wandte sie sich zu diesem, »es wäre mir angenehm, wenn Du Deinen Vater benachrichtigtest, daß Herr van der Bosch hier ist. Und nun, mein Herr, bitte ich, daß Sie sich setzen, und erlauben Sie jetzt auch mir, daß ich Sie freundlichst willkommen heiße.«

Das waren die ersten Worte, die zwischen der Wirthin und ihrem Besuche gewechselt wurden, und wir wollen uns mit ihrer Anführung begnügen, um lieber den allgemeinen Eindruck zu schildern, den beide Personen auf einander machten.

Paul war durchaus nicht erstaunt, eine gütige Frau in der seinem Freunde so ähnlichen Mutter zu finden, denn anders hatte er sie sich nicht vorgestellt. Ihr mildes klares Wesen wirkte ermuthigend und belebend auf ihn und ungekünstelt gab er sich nun, wie er war, sprach ruhig und sicher und beantwortete mit edler Bescheidenheit die Fragen, die zahlreich genug im Laufe des Gesprächs an ihn gerichtet wurden.

Dennoch war er einigermaßen befangen bei dieser ersten Unterhaltung, und um so mehr, da Fritz nicht wieder in's Zimmer trat, was absichtlich zwischen Mutter und Sohn vorher verabredet war, da sie sich durch den lebhaften Knaben in ihrer ersten Unterredung mit dem Studenten nicht wollte stören lassen. Wäre er aber nicht so befangen gewesen, so würde er sich über die seltsam gespannten, mehr theilnahmvollen als neugierigen Blicke der guten Frau Ebeling haben wundern müssen. Denn sie ließ ihr Auge fast gar nicht von seinen edlen Zügen ab, sie musterte sein Gesicht Linie für Linie, mit einer fast mütterlichen Sorgsamkeit und Schärfe, als wolle sie prüfen, ob dieser junge Mann, wie Fritz es ihr mit feurigen Worten wiederholt versichert, auch wirklich geeignet sei, ihrem einzigen Sohn ein wahrer Freund, eine Stütze und ein Umgang zu sein, wie eine zärtliche Mutter ihn für das Kind ihrer Liebe wohl wünschen mag.

Und in der That, diese Prüfung, von der Paul keine Ahnung hatte, fiel vollkommen zu seinen Gunsten aus. Frau Ebeling, anfangs so gesprächig und reich an Fragen, ward immer stiller, sinnender; die Sätze, die sie vorbrachte, wurden immer kürzer. Sie dachte mehr, als sie sprach, und was sie dachte, hinderte sie am Sprechen, so daß sie ordentlich froh war, als endlich die Thür aufging und ihr Mann hereintrat, der nun mit frischen Kräften erschien, um das fast in's Stocken gerathene Gespräch in neuen Fluß zu bringen.

Der Banquier Ebeling war ein hochgewachsener stattlicher Mann mit festen ausdrucksvollen Gesichtszügen, denen man die ihm inwohnende Characterstärke und den Arbeitsdrang, und doch auch eine wohlwollende Gesinnung gegen Jedermann auf der Stelle ansah. Er trug sehr kurz geschnittenes, schon ziemlich ergrautes Haar, war aber kräftig gebaut, vollkommen gesund und konnte kaum sein fünfzigstes Lebensjahr erreicht haben. Vorwiegend auf seinem klugen Gesicht war ein Zug ernster Entschlossenheit, gemischt mit einer behaglichen Selbstgenügsamkeit, und wenn er sprach, kamen seine Worte wohl gewählt, aber nicht zahlreich aus seinem Munde, denn er war gerade kein übermäßig gesprächiger und in unnützen Plaudereien sich gern ergehender Mann.

So war auch seine Unterhaltung mit Paul bei diesem seinem ersten Besuch eher kurz und gemessen, und doch befriedigte sie diesen vollständig. Herr Ebeling zeigte sich sogleich als ein Mann, der mit dem umfangreichen Studium des jungen Studenten vollkommen vertraut und ein Freund seiner schönen Kunst war. Seine Fragen in dieser Beziehung erwiesen sich fast in's Detail derselben eingehend und betrafen meist die jetzige Richtung der Architektur, namentlich in der Stadt, die er bewohnte. Paul erfuhr hierbei auch, daß Herr Ebeling mit einigen Professoren und Lehrern der Bauakademie bekannt sei und daß er selbst jedenfalls überzeugt sein könne, in demselben einen Protector seiner eigenen künstlerischen Bestrebungen gefunden zu haben.

Nachdem dies Gespräch aber eine geraume Zeit gedauert hatte, in welches Frau Ebeling sich nur wenig eingemischt, fühlte Paul, daß sein erster Besuch ein Ende nehmen müsse, und so erhob er sich und sprach einige Abschiedsworte.

Da stand der Banquier auf, trat dicht vor ihn hin und reichte ihm bieder die Hand. »Seien Sie mir noch einmal willkommen in meinem Hause,« sagte er mit ruhigem Lächeln, »und eben so wünsche ich, daß auch Ihnen unsere Bekanntschaft willkommen sein möge. Da Sie uns jetzt häufiger besuchen werden, so bitte ich Sie, alles alltägliche und überflüssige Ceremoniel zwischen uns fallen zu lassen, wovon ich eben kein Freund bin. So oft Ihre Zeit es erlaubt und Ihre Neigung Sie hertreibt, sprechen Sie bei uns vor, Einer von uns wird immer für Sie bei der Hand sein, und ich werde mich freuen, wenn Sie an meinem Sohn ein kleines Gefallen finden, wie er an Ihnen ein so großes gefunden hat. Leben Sie wohl und lassen Sie uns gute Nachbarn sein.« –

Als am späteren Abend dieses Tages der Banquier aber mit seiner Frau allein war und zum ersten Male wieder ungestört mit ihr reden konnte, sagte sie mit einiger Spannung auf ihren freundlichen Zügen:

»Ebeling, wir haben noch nicht über unsern heutigen Besuch sprechen können. Ich möchte wohl wissen, wie Dir der junge Mann gefallen hat.«

Der Banquier lächelte behaglich vor sich hin und erwiderte: »Sage Du mir zuerst, welchen Eindruck er auf Dich gemacht hat.«

»Einen eben so tiefen wie vortrefflichen,« versetzte sie rasch. »Einen sehr vortrefflichen und ich glaube ganz bestimmt, daß wir uns gratuliren können, für Fritz eine solche Bekanntschaft gewonnen zu haben.«

Herr Ebeling nickte beistimmend und sah seine Frau dann fragend an. »Du willst noch etwas bemerken,« fügte er dann gleich darauf hinzu.

»Ja, lieber Mann, das will ich. Außer diesem ersten, mich sogleich ergreifenden günstigen Eindruck, habe ich später noch einen zweiten und vielleicht noch günstigeren gehabt, den ich mir aber noch nicht recht klar machen kann. In der kräftigen und doch weichen Stimme dieses jungen Mannes, die nur bisweilen so eigenthümlich, fast traurig vibrirt, und dann in seinem mächtig blitzenden Auge, seinen festen, gespannten Zügen liegt etwas Wunderbares, was mich gefesselt und mir große Theilnahme für sein Geschick eingeflößt hat. Ich kann in einer Beziehung nicht recht klug aus ihm werden. Wenn wir nicht durch Fritz wüßten, daß er ein armer Mensch ist, der mit der Noth des Lebens schon wacker gekämpft hat, so würde ich es nicht glauben, nachdem ich ihn in der Nähe gesehen. Er hat in dieser Beziehung einen eigenthümlichen Eindruck auf mich gemacht.«

»Wieso?« fragte des Banquiers aufmerksam sie anblickendes Auge.

»Er hat etwas Stattliches, Siegreiches, ich möchte beinahe sagen – verzeihe mir diesen Ausdruck – etwas Vornehmes an sich, in allen seinen Bewegungen, seinen schlagenden Redewendungen, etwas was man nur bei wohlhabenden, ja bei reichen Leuten von einem gewissen Stande sieht, die ihrer Stellung sich bewußt und ihres Erfolges sicher sind. Und zu diesen gehört er doch nach Allem nicht, was wir von ihm wissen.«

»Nein, da bist Du doch wohl im Irrthum, Liebe,« erwiderte Herr Ebeling nachdenklich. »Ich erkläre mir die Sache so, denn auch mir ist diese Deine Stattlichkeit sogleich an ihm aufgefallen. Trotz ihrer Armuth hat er von seiner Mutter, einer gewiß edlen Frau, eine gute Erziehung genossen, sie hat von Geburt an einen guten Keim in ihn gelegt, und das haftet an den Menschen und man sieht es ihnen in allen Lebenslagen an. Dabei ist sein Herz rein und sein Geist gebildet, das Unedle hat ihn noch nicht berührt, er hat sich frei gehalten von den Schlacken der Welt. Dies Alles hat Dir unbewußt imponirt, und mit Recht, und gerade Dir, einer Frau, ist seine, ich möchte sagen, jungfräuliche Klarheit und Unbescholtenheit in die Augen gefallen. Mir – ich will Dir hier meine Gedanken während meines ersten Gesprächs mit ihm sagen – kam er vor wie ein rüstiger Schwimmer, der nicht gegen den Strom schwimmen, oder wie ein Vogel, der sich nicht frei ausschwingen kann, weil ihm die Flügel gebunden sind. Löse ihm einmal diese Flügel, dann wird er fliegen mit Windesschnelle, denn seine Schwungkraft ist nicht gelähmt und sein innerer Muth nicht gebrochen, wenn auch die Noth und manche Entbehrung seine Wangen ausgehöhlt und seine natürliche Farbe gebleicht hat. Alles in Allem scheint er mir ein bedeutender Mensch, mit großer Naturkraft und schönen Anlagen begabt, und Gott gebe, daß wir uns nicht in ihm täuschen. Es wäre mir das wegen unsers Jungen schmerzlich, denn er hat eine Liebe zu ihm gefaßt, als ob er eine Jungfrau wäre, die ihm des Himmels Seligkeit aufschließen kann. Nun denn, er liebe ihn, und wir wollen redlich das Unsrige dazu beitragen, daß diese Liebe glücklich wird. So sei es und nun gute Nacht, Charlotte!« –

Als Paul selbst aber nach jenem ersten Besuche wieder in sein Zimmer trat, bemächtigte sich seiner zuerst eine traurige Empfindung, die er bisher nicht gekannt. Niemals war ihm sein kleines Stübchen und dessen Inhalt so ärmlich vorgekommen und niemals hatte er sich in demselben so einsam gefühlt. Während er sich aber umkleidete und dabei jedes Wort im Geiste wiederholte, was er so eben aus dem Munde jener vortrefflichen Leute gehört hatte, wurde er allmälig ruhiger und freudiger bewegt, und als er das Zimmer verließ, um in seine Speiseanstalt zu gehen, sagte er sich still den schönen alten Spruch seiner Mutter vor, nur den letzten Vers wiederholte er zweimal hinter einander und dieser Vers lautete ja, wie wir wissen:

»Denn das Glück kann alle Tage kommen!« –

Als Paul am Nachmittage aus seinen Vorlesungen abermals in seine Stube trat, war er verwundert, etwas ganz Neues darin vorzufinden. Vor den Fenstern hingen zum ersten Mal ganz neue Mullgardinen, die fest zugezogen werden konnten und dem kleinen Zimmer einen freundlichen Anstrich gewährten.

Erstaunt blieb er eine Weile stehen und sah diese neue Einrichtung an, dann aber rief er Frau Zeisig herbei und fragte sie: »Was haben Sie denn mit meinen Fenstern gemacht, Frau Zeisig?«

Die Waschfrau erröthete lebhaft, wollte nicht recht mit der Sprache heraus und zupfte verlegen an ihrer Schürze. Endlich sagte sie, ohne die Augen aufzuschlagen: »Ich dachte, Sie würden mit dieser Einrichtung nicht unzufrieden sein, Herr Baumeister. Als ich heute gleich nach Tische drüben bei Banquiers wegen der nächsten Wäsche vorsprach, rieth mir Frau Ebeling dazu, diese Vorhänge anzubringen.«

»Frau Ebeling?« fragte Paul van der Bosch noch mehr erstaunt.

»Ja, ich sage es Ihnen ja, Frau Ebeling hat mir dazu gerathen, und ich habe auf der Stelle ihren Rath befolgt.« –

Frau Zeisig hatte ihrem Miether hiermit die Wahrheit gesagt, wiewohl nicht die ganze Wahrheit. Denn daß die reiche, wohlthuende Frau ihr die Gardinen geschenkt und sie gebeten hatte, dem Herrn van der Bosch nichts davon zu sagen, das verschwieg sie weislich, jetzt und fernerhin, und erst lange Jahre nachher erfuhr Paul den wahren Zusammenhang, zu einer Zeit, als seine Verhältnisse sich schon längst um ein Bedeutendes geändert hatten.

Von diesem Tage an, der eine neue Aera in Fritz Ebeling's Leben zu bezeichnen schien, so glücklich wenigstens war er von jetzt an, kam er fast jeden Tag zu Paul herübergesprungen, und wenn er sich auch nur fünf Minuten bei ihm aufhalten sollte. Einmal ihn sehen, ihm einen guten Tag bieten und die Hand reichen, mußte er nothgedrungen, »sonst schliefe er nicht ruhig,« scherzte Frau Ebeling einmal gegen ihre Schwester, als sie mit dieser über den Studenten im Nachbarhause sprach. Oft brachte Fritz einen Gruß von seiner Mutter mit herüber oder irgend eine kleine Bestellung, und am ersten Sonnabend nach dem Besuch sogar eine Einladung: »am nächsten Sonntag Punct drei Uhr bei seinen Eltern zu speisen.« Es sei keine Gesellschaft, fügte Fritz hinzu, sie wären ganz allein, und Paul brauche keinen Frack anzuziehen, das habe sein Vater wie seine Mutter ausdrücklich gesagt.

Und daß er wirklich keinen Frack anzog, dafür sorgte Fritz schon, denn er kam um halb drei Uhr zu ihm herüber, um ihn abzuholen, und wiederholte hier den Wunsch seines Vaters so nachdrücklich, daß Paul den Frack zu Hause ließ und bald gewahrte, daß er auch im Ueberrock von seinen Wirthen so freundlich begrüßt und behandelt wurde, wie das erste Mal.

Dieser Tag des ersten gemeinschaftlichen Mittagsessens mit seinem Freunde im Hause seiner Eltern war für Fritz ein so rechter und vollkommener Freudentag, denn an diesem Tage gehörte Paul van der Bosch zum Theil ihm allein. Als man abgespeist, und die Eltern sich ein Stündchen auf ihr Zimmer zurückgezogen hatten, führte Fritz seinen Gast durch das ganze Haus, mit Ausnahme der Wohnung seines Onkels, des Oberforstmeisters, und zeigte ihm alle Zimmer, alle Sammlungen und Kunstschätze seines Vaters. Zuletzt aber geleitete er ihn in sein eigenes Zimmer, welches unmittelbar an den Garten stieß, und hier hielt er ihn länger auf, da er sich vielleicht schon lange gefreut hatte, den ›vielwissenden‹ Studenten sein kleines Heiligthum sehen zu lassen. Hier mußte Paul alle seine Bücher, sein Pianoforte, seine Albums und sonstigen Besitzthümer besichtigen.

»Hier, an diesem Tische,« sagte der Secundaner unter Andern mit vor Freude leuchtendem Antlitz, »habe ich auch den ersten Brief an Sie geschrieben, worin ich Ihnen meine Bewunderung Ihres Fleißes aussprach und Ihnen meine Freundschaft antragen wollte. Natürlich habe ich ihn nicht abgesandt, weil ich ihn nicht für gut genug hielt, und Betty, glaube ich, muß ihn noch haben, da sie mir ihn, so viel ich weiß, nicht wiedergegeben hat. Doch, da ich eben von Betty spreche, sehen Sie da« – und er öffnete eine Flügelthür, die auf einen kleinen Balcon vor seinem Zimmer führte – »bemerken Sie wohl den offenen niedlichen Pavillon am Ende dieses Weges? Nun ja, er ist im Sommer mit Weinlaub bezogen und darin pflegt sie in guter Jahreszeit den halben Tag zu sitzen, zu sticken oder zu lesen, denn das ist ihr Lieblingsplatz. Sobald es nun gut Wetter und warm wird, können Sie hierher auf meinen Balcon kommen, und zeichnen und malen, so viel Sie wollen. Dann bin ich doch bei Ihnen, Sie versäumen nichts, und wir haben das gute Mädchen immer vor Augen – ich meine meine Cousine – die so recht eigentlich früher meine einzige Spielgefährtin war und jetzt meine Vertraute ist, denn sie ist sehr gut und freundlich und versteht mich immer, wenn die Anderen mich nicht verstehen.«

Paul hörte diese offenherzigen Mittheilungen ruhig an und kein Zug in seinem Gesicht verrieth, daß die letztere Offenbarung ihm eine besondere Freude bereite, aber auch kein Wort entschlüpfte seinem Munde, welches irgend einen Wunsch nach weiterer Mittheilung über denselben Gegenstand kund gegeben hätte. –

So wie dieser Sonntag nun im Banquierhause verlief, flossen auch viele nachfolgende dahin, jeden Sonnabend kam Fritz zu rechter Zeit und lud seinen Freund zum Sonntag zu Tische ein, und jedesmal folgte er dieser Einladung, bis der Banquier Ebeling endlich, nachdem seine Ueberzeugung von Paul van der Bosch's sittlichem Werth sich längst festgestellt, eines Tages zu ihm sagte:

»Von jetzt an, mein lieber Bosch, werden Sie nicht mehr besonders zu unseren Sonntagsmahlzeiten eingeladen werden, Sie sind es ein für alle Mal, und wir hoffen Sie stets zu der bewußten Stunde bei uns zu sehen. Sollte meine Frau und ich einmal außerhalb speisen, so werden Sie sich allerdings mit Fritz allein begnügen müssen, jedoch wird das nur selten vorkommen, da ich den einzigen freien Tag in der Woche, eben den Sonntag, gern in meiner Familie und zu Hause verbringe.«

So geschah es denn auch und, als die Witterung erst besser und die Wege gangbarer wurden, pflegte Paul mit Fritz jeden Sonntag Nachmittag einen weiteren Spaziergang zu unternehmen, der ihnen zuletzt so zur Gewohnheit wurde, daß sie ihn Jahre lang fortsetzten und dabei in gereifterem Alter des Jüngeren und bei zunehmender Erfahrung des Aelteren den größten Genuß im Austausch ihrer gegenseitigen Gedanken fanden. Im Anfang ihrer Bekanntschaft, als sie einst im werdenden Frühjahr über die grünen Felder wanderten und eben ein frisch knospendes Wäldchen berührten, sprach Paul, der in der Regel der Belehrende und Unterrichtende des jüngeren Kameraden war, mit Enthusiasmus von den neuen Bauwerken, an denen man eben vorübergekommen; auf dem freien Felde aber, wo das junge Korn in wogender Fülle stand, ging er auf den Landbau über und entwickelte hier einen großen Schatz von Kenntnissen, wie Fritz sie noch nie aus dem Munde eines seiner Lehrer vernommen hatte.

Er war darüber auf das Höchste erstaunt. Das reiche Wissen in so verschiedenen Fächern zog seinen wachsenden Geist alle Tage mehr an und spornte ihn so, über Alles, was er sah und hörte, nachzudenken und sich eine eigene Meinung zu bilden.

»Aber, mein Gott,« sagte er an diesem Tage zu Paul, »Ihre Kenntnisse sind ja unerschöpflich! Woher wissen Sie denn das Alles und wer hat Sie darin unterrichtet?«

»Das ist kein großes Wissen, mein Lieber,« erwiderte Paul mit seiner gewöhnlichen ruhigen Bescheidenheit, »und meine wenigen Kenntnisse habe ich auf sehr einfache Weise erlangt. Ich habe es nicht allein in Büchern studirt, sondern auch in den Vorlesungen auf der Universität gehört, die ich, so weit es mir möglich ist, zu besuchen fortfahre. Dies Alles zu wissen, macht mir große Freude, und Sie sehen, es liegt etwas Lohnendes darin, denn auch in Ihnen erweckt mein kleines Wissen Anklang und Theilnahme und hoffentlich werden Sie künftig noch mehr davon empfinden, wenn Sie erst verschiedene Fächer desselben überblicken können.«

»Ach ja, wenn ich nur auch erst Vorlesungen hören könnte! Die Zeit bis dahin wird mir sehr lang und ich bin durch Ihren Umgang meinem Schulleben eigentlich weit vorausgeeilt, wie mich manchmal bedünken will.«

»Sie hören ja alle Tage Vorlesungen in Prima, wo Sie jetzt sitzen,« erwiderte Paul beschwichtigend, da er den rastlos vorwärts strebenden Geist des jungen Mannes oft in Schranken zu halten hatte, »und die Prima, weislich benutzt, ist auch schon eine kleine Universität, das können Sie mir glauben, ich habe es erst nachher eingesehen, als ich schon längst darüber hinaus war.«

»Das mag wohl sein, aber ich sehne mich nach höherem Wissen, welches unmittelbar in das Leben eingreift, wie zum Beispiel Ihr Studium, und dazu legt das Schülerleben doch eigentlich nur den untersten Grund.«

»Legen Sie einen guten untersten Grund, dann können Sie Ihr späteres Lebensgebäude um so fester und sicherer darauf bauen. Vor allen Dingen aber seien Sie mit Ihrer Lebensstellung zufrieden, in welcher Entwickelungsperiode Sie sich auch befinden mögen. Ihr Geschick hat es gut mit Ihnen gemeint und Ihnen mehr in der Jugend gegeben, als Andere in ihrer ganzen Lebenszeit erreichen.« –

Wir führen alle diese kleinen, einzelnen Unterhaltungen nicht deshalb an, weil wir sie für besonders interessant oder lehrreich halten, sondern allein deshalb, weil sie die Art und Weise andeuten, wie Paul nach und nach auf Fritz wirkte, den Geist des jungen Freundes zu allem Guten weckte und ihn so allmälig zu und an sich empor zog. Die Frucht davon sollte auch nicht ausbleiben und noch war kein Jahr vergangen, da gewahrten die Eltern des damaligen Primaners schon, von welchem Vortheil der Umgang mit Paul für ihren Sohn gewesen sei. Daß Jener dadurch nur um so mehr und um so rascher in der Achtung und Liebe derselben stieg, war natürlich, und die Zeit sollte nicht fern sein, in der sie ihm ihre Gesinnung in dieser Beziehung offenkundig an den Tag legten, so daß Paul selbst nicht mehr zweifeln konnte, daß die Bekanntschaft mit Fritz eine segensreiche für ihn geworden und das Glück mit demselben wirklich in sein Haus eingetreten war.

Ein ganz eigenthümliches und schönes Verhältniß hatte sich insbesondere bis zu dieser Zeit zwischen Frau Ebeling und Paul van der Bosch gebildet. Diese Frau, eben so edel als Weib wie sorgsam als Mutter, hatte von Allen, die mit Paul verkehrten, mit ihrem feinen weiblichen Tact zuerst herausgefühlt, wie richtig der Instinct gewesen, der ihren Sohn zu dem fremden jungen Manne geleitet hatte, und da sie sich dadurch beruhigt und befriedigt fühlte, so war es sehr natürlich, daß sie ihre Neigung ganz besonders auf Den übertrug, der ihrem Herzen so wohl gethan und so manche mütterliche Sorge von demselben abgenommen hatte. Ein Umgang mit edlen und seinem Naturell entsprechenden Menschen ist jederzeit und für Jedermann ein schwerwiegender und durch nichts Anderes zu ersetzender Vortheil, am meisten aber für einen heranwachsenden, strebsamen jungen Mann, dem Mittel zu Gebote stehen, wie sie Fritz Ebeling zu Gebote standen. Einen solchen hatte sie sich für ihren Sohn immer gewünscht und der Umstand, daß sich ihr keiner bot, war es allein gewesen, warum sie ihr einziges Kind so einsam hatte aufwachsen und mit wenigen anderen Kindern in Berührung kommen lassen. Nun hatte sie endlich Jemanden gefunden, der ihr nach allen Richtungen und in jeder Beziehung gefiel und würdig zu sein schien, ihrem Sohne für jetzt ein Gefährte und später ein Freund für's Leben zu werden, und durch eine natürliche Wechselwirkung war sie bemüht, diesen Freund des Sohnes auch zu ihrem eigenen und dem ihres ganzen Hauses zu machen.

 

Bei Paul's edlem Naturell und leicht sich hingebender Gemüthsart konnte ihr diese Erwerbung nicht schwer fallen; Paul sah in ihr eine zweite mütterliche Freundin, wie er sie in seinen jungen Jahren allein in der so früh verstorbenen Mutter gehabt hatte, und Frau Ebeling betrachtete ihn wie ihren älteren Sohn, der alle Hoffnungen zu verwirklichen versprach, die sie einst so sehnlich auch für den jüngeren gehegt hatte. Beide fühlten sich daher sympathetisch zu einander hingezogen, der Austausch ihrer innersten Meinungen war ihnen zuerst ein starker Reiz und zuletzt eine süße Gewohnheit geworden, und so sehen wir Paul oft in stillen Dämmerstunden, wenn er nichts zu arbeiten hatte, bei ihr in dem wohnlichen Stübchen sitzen und jene trauliche Plauderei treiben, die vollen Herzen so wohlthut, strebenden wie genießenden Menschen oft ein Bedürfniß wird und einen ganz eigenen, weil reinen und durch keine Unruhe und Leidenschaft getrübten Genuß bereitet.

In diesen stillen Unterhaltungen, an denen selbst Fritz nicht immer Theil nahm, ergoß sich das mütterliche Herz in vollen Strömen gegen den dankbar und herzlich ihr ergebenen jungen Mann; sie theilte ihm alle ihre kleinen Sorgen und Hoffnungen mit und weihte ihn in die stillen heiligen Regungen einer ächt weiblichen und mütterlichen Seele ein. Paul dagegen enthüllte frei und offen, wie er immer war, vor ihr alle seine Aussichten und Bestrebungen für die Zukunft, er ließ sie, wie sie ihn in ihr Herz blicken ließ, in seinen bauenden Geist schauen, und wenige Pläne, sei es, daß sie seine Feder, sei es, daß sie sein Bleistift entwarf, kamen in ihm zum Durchbruch, die er nicht ihrer Prüfung und Genehmigung zuvor unterbreitet hätte.

So war es denn sehr erklärlich, daß Paul van der Bosch bald eine hervorragende Stellung im Hauswesen des reichen Kaufmanns einnahm, daß er, der Freund Aller und keinem feindlichen Widerstande oder Hemmniß begegnend, ein wirkliches und fast unentbehrliches Mitglied des Hauses wurde, und daß man ihm kein Geheimniß der Familie verbarg, weil man überzeugt war, daß er sich stets mit wahrhafter Theilnahme derselben anschließen würde.

Auch der Banquier selbst ward sich der männlichen Gediegenheit und geistigen Fähigkeit seines neuen Hausfreundes bald bewußt und er achtete und ehrte den jungen Mann auf jene zarte humane Weise, die nie empfinden läßt, daß man mehr Mittel besitzt, als ein Anderer, wenn man denselben gern und willig seinen Ueberfluß mitgenießen läßt. Paul freilich machte von diesem Ueberfluß des reichen Mannes keinen wissentlichen Gebrauch, er nahm nur dankbar und ohne Hintergedanken die Genüsse auf, die ihm in diesem Hause geboten wurden, und er hatte noch keinen Augenblick daran gedacht, daß er einst auf den Geldbeutel des reichen Mannes würde rechnen können, falls seine eigenen Mittel für seine besonderen Wünsche einmal nicht ausreichen sollten.

Eben so sparte Herr Ebeling seine Mittel für ganz besondere Fälle auf. Es würde sich schon einmal eine Gelegenheit finden, sagte er einst seiner Frau, um sich in dieser Beziehung bemerkbar zu machen, mit der Zeit würden sich unberechenbare Veranlassungen in Fülle ergeben, wo er dem jungen Manne hülfreich zur Seite stehen könne, und sie dürfe überzeugt sein, daß er darin nicht fehlgreifen würde, da er vor allen Dingen das Zartgefühl ›des armen Studenten‹ zu schonen habe.


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