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Es war eine sehr glänzende Soirée bei dem russischen Gesandten. Die ganze brillante Welt der Börse und Diplomatie war da versammelt; er selbst, ein kleiner, breiter Mann mit aufrecht stehenden weißen Haaren, stand geschäftig in der Nähe des Eingangs, um jeden Ankommenden zu begrüßen und einzuführen. Eben war er besonders eifrig und freundlich, denn er führte am Arme eine schöne, hohe Frau, in weißem Seidenkleide und grünem Blätterkranze, durch die Reihe der Zimmer, um ihr im letzten einen Sessel anzubieten.
[18] Eine alte Dame aus dem Frankfurter Stift, die in feierlicher Ordenskleidung erschienen war, flüsterte, als das ungleiche Paar vorüberschritt, ihrer Nachbarin, einer Banquiersfrau, in's Ohr:
»Ist denn das Trauerjahr schon herum?«
»Es muß wohl sein, da sie die Trauer abgelegt hat,« entgegnete gleichmüthig die Andere.
»Aber der Anstand erfordert doch, bei dem Tode des Mannes ein Jahr und sechs Wochen lang kein buntes Kleid zu tragen –«
»Sie hat ja auch kein buntes Kleid an.«
»Einen Epheukranz aber in den Haaren – ist das denn Trauer?«
»Der arme Lord Waterford,« fuhr redselig die Stiftsdame fort, »er ahnte nicht, als er die junge, üppige Pflanze in seinen Wintergarten versetzte, daß dieser Wintergarten bald zum Kirchhof für ihn, und der Kirchhof dann für sie zum Salon und Tanzsaal werden sollte, ehe noch ein Jahr verflossen.«
»Kennen Sie die Gräfin Waterford genau?«
»Ob ich sie kenne? Ich habe sie sogar aus der Taufe gehoben, sie ist das einzige Kind meiner besten [19] Freundin. Die arme Hammerstein sagte immer zu mir: Dina kommt hoffentlich später in's Stift, da mußt Du Dich ihrer annehmen. Jetzt hat mich die junge Wittwe nicht nöthig und denkt auch nicht an mich, – das ist so der Weltlauf!«
Eben trat eine auffallend bleiche, junge Frau, die wie Lady Waterford ebenfalls allein kam, ein.
Die Stiftsdame flüsterte wieder, indem sie die Vorübergehende musterte: »Sie sieht elend aus!« und auch die Banquiersfrau sagte diesmal sehr spöttisch: »Meine theure Elise scheint an einer unglücklichen Leidenschaft zu laboriren, denn als ich sie letzthin besuchte, – Sie wissen, wir sind sehr intim, – saß sie am Klavier und sang: ›Leidvoll und freudvoll.‹ Ich bitte Sie! Clärchens Lied von der Mutter von fünf Kindern gesungen, ist das nicht lächerlich?«
»Ich glaube, es ist Gretchens Lied!« sagte die Stiftsdame, die dasselbe Zimmer bewohnte, welches einst die Günderode in ihrem Stifte inne gehabt und die deshalb das Buch von Bettina gelesen hatte und dann um Bettina's willen den ganzen Goethe.
[20] »So ist es Gretchen. Das kann sein! Ich liebe Goethe nicht, – sein Hauptwerk, Wilhelm Meister, ist mir zu sentimental.«
»Sentimental? Wilhelm Meister?«
»Nun, ist es denn nicht sentimental, – wenn sich Einer aus Liebe erschießt?«
»Aber Meister erschießt sich gar nicht –«
»Nein,« sagte ein Lieutenant in knapper Uniform, der hinter den beiden Damen stehend ihre letzten Erörterungen angehört, – »nein, er erschießt sich nicht, er wird erschossen, wie ich mir hab' erzählen lassen, denn zum Lesen bleibt unser Einem keine Zeit, aber ich habe gehört, daß Meister als Demokrat erschossen wird.«
»Du lieber Gott,« sagte die Stiftsdame, die Hände mit einem gewissen literarischen Entsetzen faltend, »er kommt ja gar nicht um's Leben.«
»Das ist sehr unrecht,« versetzte nun laut ein junges, rothwangiges Mädchen, die Tochter der Banquiersfrau, mit einem Blick nach der glänzenden Uniform, denn es wurde eben ein Walzer gespielt [21] und sie hatte keinen Tänzer; – »man sollte diese Demokraten nicht schonen!«
Der Lieutenant führte augenblicklich die loyale Dame in das Tanzzimmer, wo man auf dem Klavier ein paar Tänze improvisirte; die Stiftsdame aber konnte ihren literarischen Schrecken nicht überwinden und sagte zu ihrer Nachbarin:
»Der selige Geheimerath wird Ihnen heute Nacht erscheinen und Ihnen vorhalten, daß Sie Gretchen mit Clärchen und Werther mit Meister verwechselt.«
Die Dame schien aber nicht an Geister zu glauben, denn sie sagte ruhig: »So eine Verwechselung kann jedem passiren, und besonders, seitdem wir Goethe hier an seinem Geburtstage auf der Bühne gesehen, hat er alle Popularität verloren. Ich bitte Sie, haben Sie je eine ähnliche Geschmacklosigkeit gesehen, wie die ist, einen Franzosen auf der Bühne einen ganzen Abend hindurch deutsch radebrechen zu lassen? Wir haben genug, wenn wir das den Tag über von unseren Köchen anhören müssen!«
»Aber dafür kann ja Goethe nicht, das Stück ›der Königslieutnant‹ ist ja nicht von ihm,« sagte [22] wieder die Stiftsdame, die heute Abend zu einem Blaustrumpf wurde, ohne daß sie selbst wußte, wie es zuging, »er kann sich ja doch nicht selbst auftreten lassen!«
»So, hat Goethe das Stück nicht geschrieben? – Sieh', sieh', das meinten wir Alle!«
Damit schloß diese Literatur-Unterhaltung und die Damen kehrten auf ihnen geläufigere Gegenstände zurück. Die beiden Frauen aber, über die sie im Anfange so liebevolle, wohlwollende Urtheile fallen ließen, die hohe Gräfin Waterford und die bleiche Legationsräthin Lavallon saßen Hand in Hand in einem der letzten Zimmer und unterhielten sich freundlich miteinander, nicht ahnend die boshaften Angriffe, zu denen der Epheukranz der Einen und die blassen Wangen der Anderen Veranlassung gegeben.
Dina Waterford blickte jetzt auf, denn ein ungewöhnlich starker Parfüm erweckte ihre Aufmerksamkeit und vor ihr stand Felix Walram, unser Bekannter aus dem Römischen Kaiser.
»Ich höre so eben, daß Sie morgen auf dem Ball erscheinen werden, gnädige Gräfin; darf ich [23] Sie um einen Tanz bitten,« sagte er mit einem gewissen Eifer.
»Morgen, – ach Gott, Baron Walram, ich weiß noch gar nicht, ob ich Morgen erlebe! Heute denk' ich das nie!«
»Und doch,« sagte Felix lächelnd, »haben wir Deutsche so viel fürsichtige, vortreffliche Sprüchwörter über den morgenden Tag, die Zukunft, das Ende!«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe zu Hause einige Sprüchwörtersammlungen durchblättert –«
»Ah! das ist also Ihre Lectüre. Heute Morgen wurde zwischen einigen Damen die Frage aufgeworfen, ob Sie seit Ihrem Abgang von der Universität überhaupt ein Buch in die Hand genommen –«
»Was sagten Sie, gnädige Frau?«
»Ich sagte, höchstens in der Oper – den Text!«
»Da brauche ich schon nicht mehr zu fragen, was die Andern sagten.«
»Das sollen Sie aber dennoch hören. – Die eine, die einmal gehört, Lord Byron sei ein vor [24]nehmer Roué gewesen, denn gelesen hat sie ihn nicht, – meinte, Sie läsen Lord Byron; und die andere meinte gar, Paul de Kock. –«
»Lord Byron und den Operntext will ich nicht erörtern, aber ich bitte mir doch eine Erklärung aus, wodurch ich verdient habe, daß man mir Paul de Kock Charles Paul de Kock (1793-1871), französischer Romanschriftsteller und Dramatiker. Mit seinen pikanten, oft etwas frivolen Darstellungen der Sitten und Gebrechen der Pariser Gesellschaft wurde Paul de Kock der Liebling des französischen und in den kommenden Jahrzehnten auch des europäischen Leihbibliothekenpublikums. – Anm.d.Hrsg. als Lieblingslectüre zutraut?«
Die schöne Dina zuckte gleichmüthig die weißen Schultern.
»Sie sind mir das wahrhaftig schuldig, gnädige Gräfin! Sie müssen mir wenigstens die Frage beantworten, was Sie betrifft. – Habe ich Ihnen je Veranlassung gegeben –?«
Die junge Wittwe bewegte unmuthig das epheuumschlungene dunkle Haupt. »Werden Sie nicht umständlich, lieber Baron –«
»Das heißt: langweilig,« schaltete Felix gereizt ein.
»Oder auch langweilig!« sagte mit einem kleinen, geringschätzigen Gähnen die schöne Frau, und hielt, um das zu verdecken, den durchbrochenen chinesischen Elfenbeinfächer vor den Mund.
[25] »Wo haben Sie diesen wunderbaren Fächer her?« frug Felix.
»Mein Gemahl hat ihn mir in Paris gekauft! Nicht wahr, er ist von seltener Schönheit?«
»Ja, ja,« sagte Felix, »Lord Byron kannte auch diese Instrumente, die nur erfunden sind, uns auf alle Weise wehe zu thun, sei es nun, um ein spöttisches Lächeln oder ein kleines Gähnen zu verbergen, oder was noch das Beste, um uns einen sanften Schlag damit zu versetzen:
Doch oft verletzen Frau'n uns hart damit,
Der Fächer wird zum Schwert in ihrer Hand –
Warum und wie? Noch Keiner hat's erkannt!
Doch ich vergesse über Lord Byron Paul de Kock.«
»Quälen Sie mich nicht mehr!« sagte nun wirklich etwas geängstigt die Dame. »Man muß den Frauen nicht jedes Wort auf die Wage legen, – sonst revanchiren sich die Frauen, und dabei würden sich die Männer sehr schlecht stehen!«
»So sagen Sie mir, ob Sie morgen mit mir tanzen wollen.«
[26] »Ich werde wahrscheinlich gar nicht tanzen.«
Felix verbeugte sich und trat, ohne weiter ein Wort zu verlieren, zurück.
»Sie haben ihn gekränkt,« bemerkte die Legationsräthin, die zugehört.
»Das sollte mir leid thun,« sagte Dina gutmüthig. »Aber er ist heute so unendlich parfümirt, daß ich der Versuchung, ihn etwas zu mißhandeln, nicht widerstehen konnte. Sie glauben nicht, wie diese ›Löwen‹ mir zuwider sind!«
»Aber, mein Gott, Sie sehen ja gar keine andern Männer?«
»Männer? Bitte, liebste Freundin, fällt Ihnen je bei diesen Löwen ein, daß sie zu dem Geschlechte gehören, das Gott ursprünglich zuerst erschuf? Dem Himmel sei Dank, ich sehe zuweilen noch wirkliche Männer, freilich selten genug; hingegen jeden mir geschenkten Tag eine Masse parfümirter, pomadirter, wohlgantirter und geschnürter ›Herren!‹«
»Gehört Walram nur zu den Letztern?«
»Ich habe mir nie die Mühe gegeben, weiter zu forschen, obgleich er mich häufig besucht und auch [27] öfters mit mir ausreitet. Wir sprechen dann wie die Andern nur von Pferden, Toiletten und Musik, – und das geht glatt weg, dabei ziehe ich ihn auf, – denn so oft mir ein Parfüm aus den Kleidern eines Mannes entgegenströmt, muß ich an den Weihrauch und die Specereien denken, mit welchen die alten Priester bei ihren Ceremonien sich vor den Augen des Volkes umhüllten, – es war doch auch nur, um zu verdecken, daß nichts dahinter steckte! So ein Elegant ist auch ein Wunder, das man leicht durchschauen würde, wäre nicht der Dunst und Wohlgeruch!«
»Sie sind eigentlich eine undankbare Frau! Das Gros Ihrer Anbeter besteht doch aus unsern Elegants!«
»Muß man dem Mückenschwarme, der einem den Genuß der Sonne und Luft verkümmert, dankbar sein?«
»Dina, Sie sind bei Gott zu übermüthig!«
Die junge Wittwe lachte laut auf. »Sie haben Recht, so scheint es, – und um Ihnen zu zeigen, wie viel besser ich bin, als Sie glauben, will ich [28] heute Abend noch den Kurländer versöhnen, der mir am Ende doch noch weniger unangenehm ist, wie die meisten Uebrigen, – denn er ist bescheidener!«
»Wissen Sie überhaupt etwas von ihm?«
»Nichts, als daß er sehr reich und ganz unabhängig sein soll! Aber ein Mann, der sein vier und zwanzigstes Jahr zu nichts Besserem anzuwenden weiß, als alle Abend einen andern Frack anzuziehen, die Morgen bei den Damen zu verplaudern und die Nachmittage mit einem Paar anderen Fainéants todt zu schlagen, – der verdient doch eigentlich gar nicht, daß zwei so vernünftige Frauen, wie wir sind, so lange von ihm sprechen.«
»Um Vergebung, Dina, was thun Sie denn den ganzen Tag?« frug boshaft die Legationsräthin.
»Ich! O, das ist etwas Anderes, – ich gehe mit großen Entwürfen um, – ich will ein Landgut kaufen, eine große Reise nach dem Süden machen –!«
»Und einstweilen ziehen Sie jeden Abend ein anderes Kleid an, empfangen jeden Morgen ein Paar Dutzend junge Herren und reiten, fahren oder gehen jeden Nachmittag spazieren?«
[29] »Nun ja,« lachte Dina, »aber Alles nur ›einstweilen.‹«
»Was ist unser ganzes Leben denn anders!« sagte mit einem Anflug melancholischer Schwärmerei die Legationsräthin.
Dina sah sie verwundert an, – welcher Kummer drückte die Frau, die sie bisher immer für eine zufriedene Gattin und sehr glückliche Mutter gehalten?
Als Frau von Lavallon die gespannten auf sie gerichteten Blicke ihrer Freundin bemerkte, lenkte sie mit einer gewissen Aengstlichkeit deren Aufmerksamkeit auf etwas Anderes.
»Der österreichische Gesandschaftssecretair sucht schon lange einen Blick von Ihnen zu erhaschen; lassen Sie sich endlich rühren, Dina!«
»Nein!« antwortete die junge Wittwe aufstehend. – »Sie haben mich beunruhigt mit Ihren Vorwürfen, daß ich Herrn von Walram beleidigt, – ich muß erst meinen Frieden mit ihm machen.«
Sie ging wirklich, um ihn zu suchen und hoffte, daß, sobald er sie sähe, er auf sie zueilen werde und es ihr dann ein Leichtes sei, durch ein Paar [30] freundliche Worte ihn wieder zu beglücken, denn obgleich er ihr ziemlich gleichgültig war, so glaubte sie sich doch von ihm geliebt – oder wenigstens das, was man in der großen Welt angebetet nennt, und was eigentlich sehr wenig ist. Ihre Koketterie – denn wir können es nicht verschweigen, Dina war ein klein wenig kokett – ahnte selbst nicht, daß eben nur der Gedanke sie beunruhigte, einen der glänzendsten ihrer Anbeter verscheucht zu haben.
Sie sah ihn bald in einer eifrigen Unterhaltung mit der verheiratheten schönen Tochter des Hauses begriffen, – sie trat näher, er bemerkte sie nicht –; endlich verdroß sie das so sehr, daß sie sich geradezu neben die junge Russin setzte und mitten in ihre Unterhaltung mit Walram an sie die Frage richtete: »Wie steht es mit Ihrem Pferde, liebe Baronin, haben Sie sich besonnen und wollen Sie mir es verkaufen?«
Die Russin wandte ihr lächelndes Antlitz ihr zu und sagte freundlich: »Ich kann mich nicht von dem Schimmel trennen, Gräfin; Sie müssen sich ein anderes Pferd wählen.« Dina aber sagte Walram [31] fixirend: »O, Sie kennen mich nicht, ich bin eigensinnig, – wenn eine meiner Launen auf Etwas gerichtet ist, dann lasse ich nicht nach!« Walram aber, als sehe und höre er sie nicht, stand auf und wollte fortgehen. Da rief Dina – er war schon beinahe fort –:
»Herr von Walram, wollen Sie morgen früh um zwölf Uhr zu mir kommen? Wir wollen ausreiten, es ist eine große Gesellschaft! Wünschen Sie auch daran Theil zu nehmen?« wandte sie sich zur jungen Russin.
Die junge Frau lehnte ab, weil sie vom heutigen Abend zu sehr ermüdet sein werde.
Walram nahm schweigend durch eine Verbeugung ihre Einladung an; doch Dina wollte heute durchaus Frieden mit ihm haben und sagte nun freundlich, als die andere Dame sich in ein Gespräch mit einem alten Herrn verwickelte:
»Die Legationsräthin Lavallon behauptet, ich hätte Sie beleidigt, Baron Walram, ist das wahr?«
Felix sah ihr lächelnd in die Augen und schüttelte den Kopf.
[32] Dina war das nicht ganz recht, aber sie sagte heiter: »Nicht wahr, das war wieder so eine Phantasie von meiner guten Freundin?«
»Ihre Freundin könnte Recht haben, wenn ich – um meinetwillen in Ihre Nähe mich zu drängen wagte.«
Dina sah auf, wie aus den Wolken gefallen, Walram war aber fort. Was sollte das heißen: »Wenn ich um meinetwillen in Ihre Nähe mich zu drängen wagte«? Hieß das nicht deutlich, daß er für einen Andern sie kennen lernen, sie gewinnen wollte? Für wen denn? Wer konnte das sein? –
Aber das war doch wohl nur eine Rache? Es war freilich die empfindlichste, die er hatte wählen können; denn sagte er damit nicht, daß nicht seine Bewunderung, sein Geschmack ihn so häufig zu ihr führe, sondern nur das Bestreben, einem Andern zu dienen? War das nicht geradezu impertinent? – Sie beschloß, sich zu rächen, und fuhr bald darauf verstimmt nach Hause.
Hatte Walram auch nicht, um sie zu bestrafen, diese Aeußerung gethan, er hätte nichts Klügeres erdenken können, um sich ihr interessant zu machen.