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Viertes Kapitel.
Eine Maske wird gelüftet.

In einem kleinen, runden Cabinet, dessen Wände und Decke mit rosenrothem Papier und darüber mit faltigem, weißem Mousselin bekleidet waren, saß die schöne Dina in einem blaßgrünen Cachemirüberrock.

Der Fauteuil, auf welchem sie saß und das kleine Boule-Tischchen, das vor ihr stand, waren die ein [52]zigen Möbel im Zimmer, denn rund um die Wand herum lief ein mit blaßrother Seide bezogener, niederer Divan. Die schöne Frau mit dem dunklen Haare hätte keinen besseren Hintergrund finden können, als dies kleine rosenrothe Gemach, dessen Frische nur ihre eigne hob.

Vor ihr auf dem Tischchen stand ein Majolica-Teller mit einer Masse Ringe und kleiner Schmucksachen, – es war der Spielteller für die sie besuchenden Herren, denn sie unterstützte die Unart derselben, immer Etwas zwischen den Fingern zu verarbeiten, indem sie ihnen lächelnd den Teller hinschob, während sie selbst ihre schönen Arme kreuzte und, in weicher Ruhe auf ihrem Sessel hingegossen, ihre Anbeter sich bemühen ließ.

Heute hatte sie ein Buch in der Hand, es war die Sprüchwörtersammlung von K. Simrock, und sie las und blätterte darin, während sie Felix Walram erwartete, den sie ja auf heute Morgen bestellt.

Endlich meldete ihn der Diener. Nachdem er aus dem Salon einen Sessel hereingeschoben, entfernte er sich wieder und Felix trat ein. Er war [53] heute dunkler und einfacher als gewöhnlich gekleidet und Dina's scharfem Blick entging das nicht.

»Wie, nicht im Reitcostüme, Frau Gräfin?«

»Nein, ich sehe, Sie sind gestiefelt und gespornt, aber es ist vergebens, wenigstens mit mir werden Sie heute nicht reiten, denn ich lerne Lebensweisheit aus diesem Buche, – und da steht drin, daß eine gute Frau sein soll wie ein Ofen und zu Hause bleiben – und also nicht ausreiten, und da bleibe ich denn zu Hause.«

»Sie sind aber keine Frau, sondern eine Wittwe, und die kann thun, was sie will.«

»Gott sei Dank, ja! Warum waren Sie gestern Abend nicht auf dem Balle?«

»Weil es mich langweilt, immer dieselben Menschen mit denselben Ideen beschäftigt zu sehen.«

»Ideen! wirklich Ideen? ich traute den Leuten en masse das nicht einmal zu.«

»Oder Gegenständen, um richtiger zu sprechen.«

»Was meinen Sie denn?«

»Haben Sie je auf allen Bällen, allen Gesellschaften in der ganzen Welt eine einzige Person ge [54]sehen, von der Sie hätten glauben können, sie denke an etwas Anderes, als an – sich selbst?«

»Oh,« lachte Dina ausgelassen, »das ergötzt mich über die Maßen! Ist das wirklich Ihre Ansicht und woraus schließen Sie das, – vielleicht aus sich selbst?« setzte sie mit einem kleinen, allerliebsten Fingerdrohen hinzu.

»Ich, gnädige Frau, mache eine glückliche oder vielmehr unglückliche Ausnahme. Ich komme gar nicht in Betracht, denn ich leide an einer fixen Idee!«

»Sie erschrecken mich! Wie heißt die?«

»Noch kann ich Ihnen das nicht sagen. Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen überhaupt sagen darf. Um eine Verrücktheit zu verstehen, muß man selbst ein klein wenig den Spleen haben!«

»Sagen Sie, sagen Sie! Ich werde Sie verstehen! Ich bin so neugierig, was ein solcher ›Lion‹ ambitioniren kann.«

»Herr von Huber behauptete gestern, ich gehe damit um, eine neue Mode zu gründen,« sagte Felix ironisch.

[55] »Ja, etwas Aehnliches denke ich mir auch! – Heraus damit!«

»Sagen Sie mir lieber, was das für ein Buch ist, in dem Sie da gelesen haben!«

»Eine Sprüchwörtersammlung, die Lectüre, die Sie mir letzthin empfohlen.«

»Es war die Lieblingslectüre meines Vaters, – der ein vollkommenes Original war.«

»Erzählen Sie von ihm, – ist er todt?«

»Seit mehreren Jahren. Er war der größte Egoist, den je die Erde getragen.«

»So liebte er Sie nicht?«

»Außerordentlich, denn ich war ja sein Sohn und zwar sein einziger Sohn, sein einziges Kind. Es sollte durchaus ein Wunder aus mir werden; den ganzen Tag prägte er mir seine Lebensregeln ein, und selbst die Nacht sorgte er für mein Fortkommen in der Welt, indem er mich, als kleines Kind, mit Salben für den Haarwuchs beschmierte und mit Handschuhen und Hütchen an den Fingern zu Bett bringen ließ, um die Form und die Haut meiner Hände zu verschönern.«

[56] »Ah! Ich begreife, Ihre Sorge für Ihren ›äußeren Menschen‹ ist also eine früheingelernte Tugend,« lachte Dina spöttisch.

Felix gab darauf keine Antwort und fuhr fort, in der Erinnerung an seine Kindheit verloren: »Ich wurde behandelt wie ein Mädchen, durfte nichts als Hühnerfleisch essen, weil alles Andere den Teint ruiniren würde, und nie bei Sonnenschein ausgehen. Mein Vater behauptete, man müsse seine äußere Erscheinung auf das Sorgfältigste pflegen, weil es eigentlich nur drei Gewalten gebe: Schönheit, Geburt und Geld! Die Macht des Geistes läugnete er ganz und gar, obgleich er selbst unendlich viel Geist besaß. Er meinte, nichts sei leichter, als Andere zu beherrschen; man müsse nur immer fest auf die Schlechtigkeit der Menschen und auf – ihre Dummheit rechnen. ›Du hast gar keinen Begriff,‹ sagte er oft zu mir, ›wie dumm die Masse der Menschen ist. Sie glauben Alles, Alles imponirt ihnen, wenn eine der drei Mächte im Leben es unterstützt, – ein schöner, noch mehr aber ein vornehmer und ein reicher Mensch kann alle Welt um den Finger [57] wickeln, Geist ist nur eine Einbildung, Niemand hat Respect davor, und jeder Dummkopf glaubt ihn selbst zu besitzen. Etwas Menschenkenntnis, basirt auf die Ueberzeugung, daß man nur Schurken und Dummköpfe vor sich hat, genügt, um Alles zu erreichen, sobald man nur die drei Gewalten oder nur eine davon besitzt.‹«

»Mir schaudert vor Ihnen, Baron Walram,« sagte Dina, ihren Sessel von ihm wegrückend, »Sie sind in einer fürchterlichen Schule aufgewachsen!«

»Und dennoch galt mein Vater für das Muster eines Ehrenmannes. Ueberall, wo ich seinen Namen nannte, fand ich die größte Achtung, ja, ich kann wohl sagen, Ehrfurcht für ihn, und ich, sein einziger Sohn, bin vielleicht der Einzige, der sich einen Tadel bei seinem Andenken erlaubt.«

»War er denn höflich mit den Menschen?«

»Nicht doch! Er behandelte eigentlich alle Welt äußerst geringschätzend. Ich erinnere mich, daß ich oft dabei zugegen war und darüber ganz verlegen wurde. Aber grade dies, so scheint es, hat den Menschen imponirt. Außerdem bezahlte er richtig [58] seine Steuern, seine Rechnungen, seine Dienstboten und Untergebenen, – sprach aber nie mit ihnen etwas Anderes, als das unumgänglich Nöthigste, und das auf die barscheste Art, – aber alle fürchteten ihn und, glauben Sie mir es, – verehrten ihn.«

»Und Ihre Mutter, was sagte die dazu?«

»O, das war ein Engel! Ich habe von ihr nur noch eine geisterhafte, lichte Erinnerung, sie starb, als ich zehn Jahr alt war. Sie hatte auf meinen Vater nicht den mindesten Einfluß. Das Frauenzimmer ist schwach! war seine einzige Ansicht vom andern Geschlecht. Unter der Rubrik ›Schwachheit‹ rangirte er alle guten und alle schlimmen weiblichen Eigenschaften und beachtete sie weiter nicht. Im Sommer, wenn wir auf dem Lande waren, – den Winter brachten wir gewöhnlich in Reval zu, – mußte meine Mutter mit den weiblichen Domestiken immer ein abgesondertes Haus bewohnen, weil er behauptete, ich werde, wenn ich meine Mutter nur stundenweise im Tage sehe und nicht immer bei ihr sei, ›vernünftiger‹, und was die Dienstboten betraf, so meinte er, die Mägde ver [59]rückten seinen Dienern den Kopf und ihm werde dann nicht so musterhaft aufgewartet, wie er es verlangte.«

»Liebten Sie ihn?«

»Nein!«

»Bemerkte er das nicht, und verdroß ihn das nicht?«

»Er bemerkte es wohl, aber ihm genügte vollkommen, daß ich ihn fürchtete, und das geschah im höchsten Grade. Mein Gefühl für ihn, das in meiner ersten Jugend gereizt war, hat aber jetzt alle Bitterkeit verloren. Ich liebe ihn noch nicht, denn das ist nicht möglich, einem Manne gegenüber, den man als solchen Egoisten erkannt hat, – aber ich schätze ihn, denn er war vollkommen ehrlich, offen und wahr.«

»Sie haben Recht,« sagte Dina lebhaft, »mehr kann man eigentlich von Niemandem verlangen, und wenn jeder das wäre, so wäre die Menschheit gerettet.«

»Sie machen das um wohlfeilen Preis ab, gnädige Gräfin.«

[60] »Was meinen Sie denn noch? Mir scheint der einzige Feind der Gesellschaft: die Lüge, die Falschheit, die Verstellung.«

»Der Gesellschaft, ja! aber nicht der Menschheit!«

»Mein Gott, Baron Walram, denken Sie denn je daran, daß es außerhalb der Gesellschaft noch Menschen giebt?«

»Ich denke an weiter nichts, gnädige Gräfin!« sagte Felix mit einem so durchdringenden Ernst, daß Dina gar nicht zu antworten wagte und ihn nur mit erschrockener Verwunderung betrachtete.

In diesem Augenblicke wurde ein Besuch gemeldet. Felix stand auf und nahm seinen Hut.

»Denken Sie, Sie hätten geträumt, Frau Gräfin!« sagte er, indem er mit einer Verbeugung hinter der rosenrothen Portière verschwand.

Und so war es auch Dina, es war ihr, als hätte sie geträumt.

Was sollte das heißen: Ich denke an weiter nichts! Er hatte sie offenbar zum Besten gehabt, und sie erwartete mit Ungeduld den Moment, wo sie ihn darüber zur Rede stellen konnte.

 

[61] Es vergingen aber mehrere Tage, ehe sie ihn wieder zu sehen bekam. Endlich, in einer Abendgesellschaft, sah sie ihn mit Huber eintreten. Er gewahrte sie sogleich und kam zu ihr, lächelnd wie immer, ausgesucht elegant wie immer, parfümirt wie immer. Wie konnte dieser Dandy jemals an die ›Menschheit‹ gedacht haben! Und dennoch fragte sie ihn: »Sie sind mir noch eine Erklärung von letzthin schuldig, Herr von Walram!«

»Ich hoffte, Sie hätten das vergessen,« sagte er heiter, »muß Ihnen aber auf jeden Fall Hartherzigkeit vorwerfen, daß Sie eher daran denken, Ihre Neugierde zu befriedigen, als zu bemerken, wie blaß und elend mein armer Huber aussieht, den ich beinahe mit Gewalt heute Abend hierher geschleppt! Denken Sie, Huber melancholisch, Huber unglücklich!«

»Wir leben in einer wunderbaren Zeit, Baron Walram! Es giebt jetzt leichtsinnige Roués, die melancholisch sind, und in sich verliebte Dandy's, die Menschenliebe predigen.«

»Wirklich,« sagte Walram, als habe er nichts verstanden, »aber Sie fragen gar nicht, was dem armen Huber fehlt?«

[62] »Hat er vielleicht seinen ganzen Cassenvorrath im Spiel verloren, oder ist ihm bei einer Tänzerin irgend ein reicher Russe zuvorgekommen, oder hat ihn sein Schneider im Stich gelassen? In welchem seiner drei großen Lebensmotive: Geld, Frauen und Spiel, hat er Havarie gelitten?«

»Seine Geliebte ist ihm durchgegangen!«

»Ich wollte, sein Freund ging ihm auch durch!«

»Was heißt das?«

»Daß ich nicht begreife, wie Sie sich die Freundschaft dieses Menschen gefallen lassen! Er ist ja geradezu um seines leichtsinnigen Lebens willen verrufen!«

»Glauben Sie mir, gnädige Frau, er ist um nichts schlimmer, als alle die jungen Leute, die Sie bei sich sehen und deren Huldigungen Sie sich gefallen lassen. Nur mit dem einzigen Unterschiede, daß er seine Streiche selbst erzählt, während Andere sie leugnen.«

»Glauben Sie?«

»Gewiß! Und ich möchte Ihre Theilnahme für ihn gewinnen. Das Mädchen, das ihn verlassen, hat er wirklich geliebt, das sehe ich jetzt an der [63] Apathie, in die er versunken, seit sie weg ist. Als sie hier war, verging freilich kein Tag, an dem er ihr nicht eine Treulosigkeit beging, aber auch keiner, an dem er nicht zu ihr zurückkehrte.«

»Abscheulich!«

»Das nannte er höchst komischer Weise Treue! Er behauptet, nicht im Festhalten, sondern im Wiederkehren nach der Flucht liege die Treue, und diese Treue einzuflößen sei allein schmeichelhaft, eine andere könne nur Faulheit oder Bequemlichkeit des Liebhabers sein.«

»Abscheulich! Dreimal abscheulich!«

»Es war nur vielleicht eine üble Gewohnheit, gnädige Gräfin,« und mit einer gewissen Malice setzte Felix hinzu: »So wie oft die edelsten Frauennaturen aus Gewohnheit die Huldigung eines Jeden annehmen, so giebt es auch genug Männer, die, ohne Etwas dabei zu denken, jedem hübschen Gesicht, das ihnen begegnet, so lange nachlaufen, als dies Gesicht es sich gefallen läßt.«

Dina sah ihn groß an, sie verstand den Stich und war zu stolz, dies zu leugnen. »Ihr Vergleich [64] paßt nicht, Herr Baron,« sagte sie kalt, »weil eine Frau nichts thun kann, um einen Ueberlästigen zu entfernen, während ein Mann sich noch dazu bemühen muß, um diese ›schlechte Gewohnheit‹, wie Sie es nennen, zu befriedigen; im allerschlimmsten Falle ist die Dame passiv.«

»Die Dame braucht nur einen solchen Blick, wie Sie mir eben zuwerfen, gnädigste Gräfin, in Anwendung zu bringen, und sie wird Alle los!« Er stand nun lächelnd auf, verbeugte sich und wollte gehen. Dina aber rief ihn zurück.

»Erst erzählen Sie mir Huber's unglückliche Liebesgeschichte.«

»Wie Sie befehlen!« Und er setzte sich wieder neben sie. Es war ein von Lauschern freies Plätzchen, das die Beiden einnahmen. In der Ecke eines Zimmers zwischen Blumentöpfen standen die zwei Fauteuils, durch ein eingelegtes Tischchen, das mit Albums bedeckt war, von der Gesellschaft gesondert.

»Huber,« begann Walram, »hatte schon seit mehreren Jahren in Wien ein Verhältniß mit einer jungen Schauspielerin, einer Waise aus den untersten [65] Ständen, aber mit Schönheit und Mutterwitz begabt. Sie war seit einigen Monaten hier unter dem Namen ›Günther‹ engagirt.«

»Ah! ich erinnere mich, ein hübsches Ding, mit stark ausgeprägtem Wiener Accent, in naiven Rollen durch ihr frisches, unternehmendes Wesen ganz anziehend, aber –«

»Nichts Bedeutendes; sie weiß das selbst. Huber hatte ihr das Engagement hier verschafft, weil ihm die Trennung von ihr zu schwer fiel, und sie nicht ihm hatte folgen wollen, bloß als seine Geliebte.«

»Und dieses Mädchen ist vor einigen Tagen verschwunden?«

»Ja. Damit hängt aber nun eine andere Geschichte zusammen, die ich Ihnen erzählen muß, wäre es auch nur, um Huber einmal in einem guten Lichte zu zeigen.«

Er theilte ihr nun die Rettung Lieschens durch Huber mit, und zugleich die anspruchlose Weise, in welcher dieser seine Wohlthat gegen ihn erwähnt; dann auch, daß Huber das Mädchen an Lori empfohlen, die ihr Arbeit geben sollte, damit sie [66] nicht mehr gezwungen sei, das Haus des Schusters zu betreten.

»Ich fange wirklich an, Ihren Freund in einem vortheilhafteren Lichte zu sehen,« sagte Dina mit der allen besseren Frauen eigenthümlichen Theilnahme am Unglücke einer ihres Geschlechtes.

»Die Prüfungen des armen Mädchens waren noch nicht zu Ende,« sagte Felix. »Huber hatte Lori am Morgen besucht und sie auffallend kalt und übellaunig gefunden. Ich hatte davon nichts bemerkt, als ich sie vielleicht eine Stunde später aufsuchte, um ihr den Gegenstand einer von ihr gewonnenen Wette, ein kleines Bologneser Hündchen zu bringen.«

»Um was wetteten Sie denn?«

Felix that, als überhöre er die Frage und fuhr fort:

»Sie theilte mir nun mit, daß sie Huber und Frankfurt zu verlassen entschlossen sei. Ich rieth ihr ab, nahm aber die Sache als eine vorübergehende Mädchenlaune, die von einem Zank mit dem Geliebten herrührte, – und dachte nicht weiter daran. [67] Am Abend, als wir, wie gewöhnlich, bei unserem gemeinschaftlichen Diner sitzen, Huber, Heathcote und ich, stürzt ein Kellner herein und sagt, draußen sei Jemand von der Polizei, der Herrn Huber ersuche, auf das Hauptamt zu kommen.

Huber sieht aus wie ein vollkommen unschuldiger Mensch – und versichert uns, daß das ein Irrthum sein müsse. Man läßt den Agenten hereinkommen, und da hören wir denn, daß es sich nur um eine Zeugenaussage handle. Ein des Diebstahls verdächtiges Mädchen habe sich auf ihn berufen.

Huber wirft seinen Paletot um und bittet mich, ihn zu begleiten, was ich ihm nicht wohl abschlagen konnte.

Als wir in das Zimmer des Polizeicommissars treten, sehen wir ihn am Tische sitzen und in einer Ecke, auf einem Stuhle, ein blasses, schluchzendes Mädchen.

›Lieschen!‹ ruft Huber. Das Mädchen springt auf und wirft sich ihm zu Füßen.

›Retten Sie mich, gnädiger Herr! Retten Sie mich!‹

[68] Sie konnte vor Schluchzen nicht weiter reden. Der Commissar schlug nun ein Papier, das vor ihm lag, auseinander, – eine Masse von Schmuck und Juwelen, doch offenbar nicht von einer vornehmen Dame herrührend, lag darin.

›Kennen Sie diesen Schmuck?‹ frug er nun. Huber wurde ganz blaß und sah Lieschen an, aber er sagte nichts.

Das Mädchen aber rief: ›Sagen Sie nur, wem er gehört. – Ich habe ihn für sie verkaufen müssen.‹

Da war es, als bekäme Huber einen Dolchstich.

›Verkaufen? Wozu? Will sie fort? Mädchen, rede! rede!‹

Lieschen wollte offenbar nicht mit der Sprache heraus; statt aller Antwort frug sie, wie viel Uhr es sei? Huber aber, dem der Commissar einen Wink gab, rief schnell: ›Es ist sieben,‹ – aber es war kaum sechse! Da sagte das Mädchen: ›dann darf ich reden, sie ist in Sicherheit, der Wagen ist weg!‹«

»Das gute Kind!« sagte Dina, »als wenn man einen Postwagen nicht einholen könnte!«

[69] »Das schien nicht einmal nöthig. Huber überließ es mir, dem Commissar Alles zu erklären und stürzte nach dem Posthofe; hier stellte er sich neben den Wagen, den Lori besteigen mußte, um nach Wien zu kommen; auch ich, als ich später nachkam, hielt am Thore Wache, – aber vergebens, – Lori kam nicht. –

Wir gingen nun nach ihrer Wohnung, – sie war fort. Nach sechs Uhr hatte sie das Haus verlassen, – weiter wußten die Leute nichts, denn sie hatten nur um diese Zeit die Thüre der Schauspielerin schließen und ihren wohlbekannten Tritt auf der Treppe gehört.«

»Da konnten Sie Ihr Hündchen wieder mitnehmen!«

»Das hatte sie mitgenommen, – es war das Einzige, denn sogar die Kleider, die ihr Lieschen hatte auf den Posthof bringen sollen, waren noch in der Letzteren Wohnung, weil man das arme Kind auf die Anzeige eines Juweliers, dem sie den Schmuck angeboten, schon am Nachmittag verhaftet hatte.«

»Wie kam es denn, daß erst am Abend Huber gerufen wurde?«

[70] »Das ist das Rührende bei der Geschichte. Als Lieschen am Nachmittage um zwei Uhr von der Polizei aus ihrer Wohnung geholt wurde und erst vor dem Polizeicommissar erfuhr, wessen man sie beschuldigte, sagte sie: ›Die einzige Person, die mich rechtfertigen kann, darf ich nicht vor sieben Uhr holen lassen. Schicken Sie zu meiner Mutter, Herr Commissar, und lassen Sie ihr sagen, um sieben Uhr käme ich frei nach Hause.‹ Alle Bitten, alles Drohen, um früher Etwas von ihr zu erfahren, waren nun vergebens. – Das gute Kind schwieg und saß geduldig auf dem Polizeiamt, um Lori Zeit zu lassen, zu entfliehen. Der Commissar, der in ihrem Schweigen die Absicht zu sehen glaubte, einen Mitschuldigen entwischen zu lassen, täuschte sie über die Zeit und anstatt um sieben wurde schon um sechs Uhr zu Huber geschickt.«

»Dieses Lieschen war wohl der Schauspielerin zu Dank verpflichtet?«

»Durchaus nicht, denn sie sagte nach ihrer Freilassung zu mir, das Frauenzimmer habe ihr gar nicht gefallen und ihre heimliche Flucht von einem [71] solchen Freunde habe ihr schwarzer Undank geschienen; ja, es sei ihr selbst unbeschreiblich peinlich gewesen, in diesem Complott gegen ihren Lebensretter und Wohlthäter mitzuwirken, ›aber,‹ – sagte sie naiv, – ›ich hatte mich von ihr überreden lassen, sie hatte mir nun einmal vertraut, was war da zu machen? Ein Vertrauen kann man doch nicht täuschen, – ich weiß zu gut, wie weh das thut,‹ setzte sie mit einem Seufzer hinzu.«

»Schicken Sie mir das Mädchen, Walram, ich will sie in meine Dienste nehmen, sie soll es gut bei mir haben. – Das Mädchen ist ein Juwel, sie hat noch einen Begriff, daß Vertrauen und Wohlthaten verpflichten.«

»Sie haben Recht, Gräfin! Das Mädchen ist ein Juwel!«

»Ist sie hübsch?« frug mißtrauisch, als Felix in ihr Lob so begeistert einstimmte, die Dame.

»Sie sieht leidend aus; auch ist sie beschränkten Geistes. Sie ist das Ideal derjenigen, denen einst das Himmelreich sein wird!«

[72] »Nun reden Sie auch noch vom Himmelreich, Baron! Je n'en reviens pas! Ein Dandy, der den einen Tag von der Menschheit und den andern Tag vom Himmelreich spricht!«

»Spotten Sie nicht, Frau Gräfin, von Ihnen thut mir das weh, denn gerade auf Sie, auf Ihre große Seele habe ich gerechnet!«

»Zu was?« frug Dina nun auch ernst.

Felix lächelte aber wieder und sagte: »Ich bin ja ein Don Quixote, – sagte ich Ihnen nicht, daß ich an einer fixen Idee leide? Nun wohl, diese fixe Idee ist, einen Lindwurm zu bekämpfen, aber nicht einen Lindwurm, der alle Welt verschlingen will, sondern einen, der sie schon verschlungen hat.«

»Da müssen Sie ja, ein zweiter Jonas, in den Bauch des Ungeheuers kriechen und die ganze Menschheit wieder herausziehen.« –

Felix antwortete nichts darauf, denn er saß in Gedanken versunken, wie ihm das zuweilen widerfuhr; aber Dina weckte ihn auf, indem sie frug: »Wie heißt der Lindwurm?«

» Egoismus,« sagte Felix noch halb in Gedanken.

[73] Dina sah ihn verwundert an, dann sagte sie bitter: »Da beklage ich Sie, armer Baron, da ist keine Siegeshoffnung! Gegen den Egoismus der heutigen Welt würde selbst ein Gott vergebens kämpfen!«

Bei diesen niederdrückenden Worten aber erfaßte den begeisterten Schwärmer gerade eine aufsteigende Gluth, und während eine Dame am Clavier im zweiten Zimmer eine französische Romanze von Louise Puget sang, während ab- und zugehende Menschen rings von Nichtigkeiten flüsterten, entfaltete plötzlich hingerissen der moderne Apostel die Wünsche und die Pläne seiner Seele vor der aufmerksam zuhorchenden Frau, während sein Auge glühte und seine Stimme, obgleich gedämpft, in den tiefsten Tönen vibrirte. »Ich hege keinen Zweifel, deutlich ruft eine Stimme in meiner Brust: es muß gelingen, woran ich mein Leben zu setzen entschlossen bin, worauf jede Faser meines Daseins gerichtet ist! Von Kind auf halt' ich nur die eine Frage: Warum das Elend, warum keine Hülfe? Was man mir darauf antwortete, dünkte mir schaal und ungenügend und herzlos. Es [74] darf auf Erden unverschuldetes Unglück geben, – denn das liegt in Gottes Hand, – aber ein unverschuldetes Elend ist ein Schandmal der Menschheit!«

»Sie sind Communist!«

»Ich bin kein Communist, – ich bin nur ein Christ!«

»O Gott!« sagte Dina, denn der Contrast dieser Worte mit ihrer Umgebung überwältigte sie. In dem ganzen Raume war kein Einziger von diesen vielleicht hundert Menschen, der sich nicht Christ nannte, und kein Einziger, der es nicht für eine Lächerlichkeit, ja für eine Absurdität gehalten hätte, das im ernsten Sinne, wie Felix es that, selbst auszusprechen. In diesem Gefühle sagte sie niedergeschlagen:

»Sie werden keine Proselyten machen, mein armer Freund!«

»O, ich werde, ich werde! Denn ich will klug und vorsichtig zu Werke gehen. Die Hölle will ich durch den obersten der Teufel, durch den Egoismus will ich den Egoismus besiegen! Und es wird die [75] Zeit kommen, wo keiner mehr wagen darf, Freudenthränen zu vergießen, ohne dafür Schmerzensthränen zu trocknen!«

Dina sah den glühenden Mann mit Staunen an; ihr war wie im Traume, aber begierig empfing sie jedes seiner Worte in ihrem Herzen.

»Ich bin nach Frankfurt gekommen,« fuhr Walram fort, »wo der Mittelpunkt der deutschen Nation, der gestorbene und wiedererweckte Bundestag, das Herz meines Volkes sein soll, – armes Herz, noch ärmeres Volk! Sie sehen mich erschrocken an,« sagte er bitter, »fürchten sie nichts, Gräfin, ich bin kein Freiheitsheld, und damit Niemand in mir einen solchen fürchte, trage ich die Livrée eines ›gebildeten Menschen‹. Ginge ich im Ueberrock mit langem Haar und Bart, und am Ende gar mit einem bürgerlichen Namen, mit meinem Anliegen zu den Gesandten des Bundestags, – sie würden mir die Thüre zeigen lassen! Aber dem Manne, der mit ihnen gegessen, Whist gespielt, ihre Töchter zum Tanze aufgezogen, ihren Frauen die Cour gemacht und eine siebenspitzige Krone in seinem untadeligen [76] Wappen führt, den werden sie mindestens anhören, und damit ist schon viel gewonnen.«

»Die Gesandten!« sagte Dina schmerzlich, »keiner von ihnen versteht Sie nur!«

»Glauben Sie das nicht! Jeder von ihnen fühlt und weiß, daß eine gähnende Kluft offen steht zwischen uns und der Zukunft, jeder sieht diese Kluft, jeder fürchtet, von ihr verschlungen zu werden, und keiner weiß sie auszufüllen.«

»Aber wie wollen Sie dieses unerreichbare Problem lösen, – wer vermag gegen das Ungethüm ›Pauperismus‹ anzukämpfen!«

»Ich habe Pläne genug, – ganze Bände darüber geschrieben, aber Gott sei dafür, daß ich sie als unfehlbar anpreisen werde! Die neuere Zeit hat Erfindungen, wozu wahrhaftig ein größerer Ideenaufwand gehört, als dazu, Mittel zu finden, hungernde Menschen zu speisen.«

»Es giebt wohl entsetzlich viel Elend in der Welt?« frug mit bleichen Wangen die Dame.

»O Gräfin! Gott behüte Sie davor, zu sehen, was ich gesehen habe und was mir sogar die Frei [77]heit, – denn früher schwärmte ich für sie, – verleidet hat. – In England, im freiesten Lande der Welt, habe ich Menschenjammer gesehen, für den Ihnen selbst der Begriff mangelt, und hier sogar, hier in Frankfurt! Glauben Sie mir, gnädige Frau, daß ich vor einigen Tagen durch meinen Kammerdiener zu einer Frau geführt wurde, die buchstäblich dem Hungertode nahe war.«

»Mein Gott!«

»Ist das nicht schon allein ein Zeichen der Zeit, daß ich nicht selbst bei Tage zu einem armen Menschen gehen darf, ohne allen Credit in der Gesellschaft einzubüßen, – würde man mich nicht für einen philantropischen Narren erklären und auslachen, während man es im höchsten Grade achtet, daß ich jeden Tag eine Stunde an meiner Toilette zubringe und für Cigarren, Pomaden, Essenzen so viel ausgebe, daß eine ganze Familie davon sorgenlos leben könnte. Und diese Narrheiten sind zu dem Credit nöthig, den ich nicht missen kann, wenn ich es an der Zeit halte, meine Mission zu erfüllen und auf die hier versammelten Staatsmänner zu wirken.«

[78] »Ich will für Sie zu den Armen gehen,« sagte mit Thränen im Auge Dina, »mir liegt nichts daran, ob man mich auslacht.«

»Sie können das nicht, Gräfin, – das Elend aufsuchen kann keine vornehme Frau, sie kann sich nur seiner annehmen, wenn ein Anderer es für sie hervorgezogen hat aus den schmutzigen Winkeln, in die sie nicht dringen kann, ohne sich selbst zu beschmutzen.«

»Sind Sie je selbst gegangen?«

»Ja, – doch durfte ich das immer erst thun, wenn ich aus der Gesellschaft kam, – denn wenn ich vorher gegangen, taugte ich für diese nicht mehr. Ich würde, statt Höflichkeiten, Lächeln und Complimente an die Leute zu verschwenden, ihnen meine Verachtung in's Angesicht schleudern müssen! … daß sie so herzlos und egoistisch neben dem Elend ihrer Mitmenschen das leerste, nichtigste Zeug treiben und dafür Summen verschwenden, die jene ein für allemal retten könnten!«

Dina griff in der Bewegung an ihren Busen; da fühlte sie ihre Demantnadel, für welche sie vor wenig Tagen eine große Summe ausgegeben. Sie [79] stellte einen Birnenzweig mit Blüthen und Blättern vor. Die Birnen waren ächte Perlen, die Blüthen rosenrothe Diamanten und die Blätter Smaragde. Sie nahm die Nadel von der Brust und legte sie in Felix Hand.

»Wenn sie heute Abend gehen, so nehmen Sie dies mit, – nichts von Ihnen! Heute gehen Sie für mich und morgen frühe bringen Sie mir den Dank eines Menschen und Lieschen, – vergessen Sie nicht, mir Lieschen zu schicken!«

Sie stand rasch auf, – und ehe noch Felix ihr antworten konnte, war sie davon geeilt, – zum ersten Male in ihrem Leben war die Reue in ihr Herz eingezogen, – zum ersten Male fühlte sie sich tief beschämt! Aber die Thränen der Reue und Beschämung sollte er nicht sehen, – Niemand sollte sie sehen.



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