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XXXII

In Michaels Haus wurde der ‹Tagesfunk› zu jenen Blättern gezählt, die ein Politiker lesen muß, um sich über die genaue Temperatur der Presse zu orientieren. Michael schob die Zeitung Fleur beim Frühstück hin.

Während der sechs Tage, die Dinny bei ihnen zu Gast war, hatten beide ihr gegenüber nur ganz wenig von Wilfrid gesprochen. Dinny fragte: «Darf ich es auch sehn?»

Fleur reichte ihr das Blatt. Sie las es, schauerte ein wenig zusammen und aß weiter. Die Stille, die danach eintrat, unterbrach Kit durch die Bemerkung, der berühmte Kricketspieler Hobbs sei nur ein mittelmäßiger Sportsmann. Ob Tante Dinny ihn wohl für so groß halte wie den berühmten W. G. Grace?

«Ich hab keinen von beiden gesehn, Kit.»

«Wie, du hast W. G. nicht gesehn?»

«Ich glaub, er starb, noch ehe ich zur Welt kam.»

Kit musterte sie mit zweifelndem Blick.

«So?»

«Er starb 1915», stellte Michael fest, «als du elf warst.»

«Aber hast du Hobbs wirklich nicht gesehn, Tante?»

«Nein.»

«Ich sah ihn dreimal. Der ‹Tagesfunk› erklärt, Bradman ist jetzt der beste Kricketspieler der Welt. Glaubst du, er spielt besser als Hobbs?»

«Es gibt interessantere Neuigkeiten als Hobbs.»

Kit starrte sie an.

«Neuigkeiten? Was ist das?»

«Das, wofür die Zeitungen da sind.»

«Machen die die Neuigkeiten?»

«Nicht immer.»

«Welche Neuigkeit hast du grade gelesen?»

«Die würde dich nicht interessieren.»

«Woher weißt du das?»

«Kit, sei nicht so zudringlich!» mahnte Fleur.

«Kann ich ein Ei haben?»

«Ja.»

Wieder trat Stille ein, bis Kit seinen Eierlöffel in die Luft hielt und einen Finger hob:

«Da seht her! Heut ist mein Nagel noch schwärzer als gestern. Wird er runtergehn, Tantchen?»

«Wie hast du das wieder angestellt?»

«Ihn in eine Schublade geklemmt. Aber geweint hab ich nicht!»

«Nicht prahlen, Kit.»

Kit sah mit klarem Blick zu seiner Mutter empor und aß das Ei weiter.

Eine halbe Stunde später, als Michael vor seiner Korrespondenz saß, kam Dinny in sein Arbeitszimmer.

«Hast du zu tun, Michael?»

«Nein, liebe Dinny.»

«Diese Zeitung! Warum lassen sie ihn nicht in Ruh?»

«Du siehst ja, ‹Der Leopard› findet reißenden Absatz. Dinny, wie steht die Sache jetzt?»

«Ich weiß nur, daß er Malaria hatte, hab aber keine Ahnung, wo er sich aufhält und wie es ihm geht.»

Michael sah wieder Dinnys starres, verzweifeltes Lächeln und fragte zögernd:

«Soll ich mich vielleicht erkundigen?»

« Ich bitte dich nicht darum, Michael. Er weiß, wo ich bin, wenn er mich braucht.»

«Ich suche Compson Grice auf. Ich selbst hab mit Wilfrid kein Glück.»

Als sie fort war, saß er halb bestürzt, halb verärgert vor seiner unbeantworteten Post. Arme Dinny! Es war infam! Er schob die Briefe weg und ging aus.

Compson Grices Büro befand sich in der Nähe von Covent Garden; aus noch unerforschten Gründen bevorzugt das Literatenvolk diese Gegend. Bei Michaels Eintritt, es war Mittagszeit, saß der junge Verleger in dem einzigen gutmöblierten Zimmer des Gebäudes, einen Zeitungsausschnitt in der Hand, ein Lächeln auf den Lippen. Er erhob sich und rief: «Ah, Sie sind's, Mont! Haben Sie das im ‹Tagesfunk› schon gesehn?»

«Ja.»

«Ich hab den Ausschnitt Desert zugeschickt. Er sandte ihn mit dieser Antwort zurück.»

Michael las folgende, von Wilfrid geschriebene Zeilen:

‹Gehorsam tut der Hund, was ihn sein Herrchen heißt:
«Kusch!» ruft der, und er kuscht. «Beiß!» ruft er, und er beißt.›

«Er ist also in London?»

«Vor einer halben Stunde war er's noch.»

«Sahn Sie ihn persönlich?»

«Seit dem Erscheinen des Buchs nicht mehr.»

Michael blickte das hübsche, feiste Gesicht durchdringend an. «Mit dem Absatz zufrieden?»

«Wir halten beim einundvierzigsten Tausend und das Buch geht noch immer stark.»

«Sie wissen wohl nichts darüber, ob Wilfrid wieder nach dem Osten zurückkehrt?»

«Keine blasse Ahnung.»

«Die Sache muß ihm schon zum Hals herauswachsen!»

Compson Grice zuckte die Achseln. «Wie vielen Dichtern tragen hundert Verse tausend Pfund?»

«Für eine Menschenseele ein wohlfeiler Preis!»

«Im ganzen werden sie mehr als zweitausend tragen!»

«Ich war immer gegen die Veröffentlichung des ‹Leoparden›. Da er sich's nicht nehmen ließ, hab ich das Gedicht verteidigt, aber ich halte die Publikation nach wie vor für einen verhängnisvollen Fehler.»

«Dieser Ansicht bin ich nicht.»

«Offenbar. Sie bilden sich noch etwas drauf ein.»

«Und wenn Sie auch höhnisch lachen», rief Grice ein wenig erregt, «er hätte mir das Gedicht nicht eingesandt, wäre ihm nichts an dem Erscheinen gelegen. Bin ich denn der Hüter meines Bruders? Der finanzielle Erfolg hat mit dieser Frage nichts zu schaffen.»

«Kaum; aber für ihn ist es kein Spaß. Es geht um sein Leben.»

«Da stimm ich Ihnen auch nicht zu. Sein Leben hat er doch durch den Abfall gerettet. Alles andere ist nur die Sühne und obendrein ein verdammt gutes Geschäft. Sein Name ist jetzt im Munde Tausender, die sonst nie von ihm gehört hätten.»

«Allerdings», entgegnete Michael nachdenklich, «verfolgt werden ist der beste Weg zum Ruhm. Grice, wollen Sie mir einen Gefallen tun? Trachten Sie irgendwie herauszukriegen, was Wilfrid vorhat. Ich bin mit ihm über Kreuz geraten und kann nicht selbst hingehn, aber mir läge viel dran, es zu erfahren.»

«Hm!» sagte Grice, «er ist bissig.»

Michael lächelte spöttisch. «Seinen Wohltäter wird er doch nicht beißen. Es wär mir wirklich wertvoll. Wollen Sie mir den Gefallen tun?»

«Ich werd's versuchen. Damit ich nicht vergesse, eben hab ich ein Buch dieses Franzosen aus Kanada verlegt. Ein Reißer, sag ich Ihnen! Ich send Ihnen ein Exemplar – Ihre Frau wird es gewiß mit Interesse lesen.» ‹Und›, fügte er für sich hinzu, ‹darüber reden!› Er strich sich das glatte dunkle Haar zurück und streckte die Hand aus. Michael schüttelte sie mit einer Wärme, die ihm nicht ganz von Herzen kam, und ging.

‹Was ist es im Grund genommen für Grice mehr als bloße Geschäftssache›, dachte er, ‹Wilfrids Schicksal ist ihm schnuppe. Heutzutag heißt es nehmen, was einem das Glück in den Schoß wirft.› Und plötzlich begann er zu grübeln, was wohl die Leute bewegen mochte, ein Buch zu kaufen, das weder erotische Abenteuer, noch sensationelle Memoiren, noch Mordgeschichten enthielt. Die Ehre des britischen Weltreichs vielleicht? Oder das Prestige der englischen Nation? Schwerlich. Das brennende Interesse an der Frage, wie weit ein Mensch bei der Rettung seines Lebens gehen dürfe, ohne, wie man es hieß, seine Seele zu verschachern, das trieb die Leute zum Kauf. Mit andern Worten, jenes winzige, von vielen totgeglaubte Etwas, das Gewissen, brachte dem Buch solche Scharen von Käufern zu. Dem Leser wurde ein schwer lösbares Problem vorgelegt und gleichzeitig mitgeteilt, der Dichter habe das selbst erlebt; das brachte ihn wohl auf den Gedanken, auch er könne sich jederzeit vor eine ähnliche verhängnisvolle Entscheidung gestellt sehn. Und wie würde dann der arme Teufel von Leser handeln? Plötzlich empfand Michael gewaltigen Respekt vor dem Publikum. Schon öfters war es ihm so ergangen und seine klügeren Freunde hatten dann stets mitleidig bemerkt: ‹Armer Michael!›

In diese Gedanken versunken, betrat er sein Arbeitszimmer im Parlament. Eben hatte er sich in einen Antrag zum Schutze gewisser Naturschönheiten vertieft, als man ihm eine Visitenkarte übergab.

General Sir Conway Cherrell
Kannst Du mich empfangen?

Mit Bleistift kritzelte er als Antwort: ‹Mit größtem Vergnügen, Sir›, gab dem Diener die Karte zurück und erhob sich. Dinnys Vater kannte er von allen seinen Onkeln am wenigsten. Etwas aufgeregt erwartete er ihn.

Der General trat mit den Worten ein:

«Ein richtiger Kaninchenstall ist das hier, Michael.»

Er schien stramm und adrett wie ein alter Soldat, doch sein Gesicht sah versorgt und vergrämt aus.

«Zum Glück züchten wir hier wenigstens keine Jungen heran, Onkel Conway.»

Der General stieß ein kurzes Lachen aus.

«Das fehlte noch! Hoffentlich störe ich dich nicht. Ich komme wegen Dinnys. Ist sie noch immer bei euch?»

«Ja, Onkel.»

Der General zögerte, umschloß den Stockgriff und sagte mit fester Stimme:

«Du bist doch Deserts bester Freund, nicht wahr?»

«Ich war es. Was ich jetzt bin, weiß ich wahrhaftig nicht.»

«Ist Desert noch in London?»

«Ja; ich glaube, er hatte einen Malariaanfall.»

«Trifft Dinny ihn noch?»

«Nein, Onkel.»

Wieder zögerte der General und wieder umklammerte er den Stockgriff, offenbar um Kraft zu sammeln.

«Weißt du, ihre Mutter und ich wollen nur ihr Bestes. Sie soll glücklich werden, alles andere ist Nebensache. Was haltet ihr davon?»

«Was wir davon halten? Das ist völlig Nebensache.»

Der General runzelte die Stirn.

«Wie meinst du das?»

«Es geht nur die beiden an.»

«Wie ich höre, will er ins Ausland.»

«Das erklärte er meinem Vater, aber er ist noch nicht fort. Soeben erzählte mir sein Verleger, daß er sich heute vormittag noch in seiner Wohnung befand.»

«Wie geht es Dinny?»

«Sie ist gedrückt. Bewahrt aber Haltung.»

«Er sollte doch endlich etwas tun.»

«Was denn, Onkel?»

«Eine unfaire Handlungsweise Dinny gegenüber. Er soll sie entweder heiraten oder auf und davon gehn.»

«Fiele dir an seiner Stelle die Entscheidung so leicht?»

«Vielleicht nicht.»

Michael schritt unruhig in dem kleinen Zimmer auf und ab.

«Meiner Ansicht nach ist es in dieser Sache keineswegs leicht, ‹Ja› oder ‹Nein› zu sagen. Verletzter Stolz spielt dabei die Hauptrolle, und der bringt alle andern Gefühle in Verwirrung. Das müßtest du aus Erfahrung wissen, Onkel. Ähnliche Fälle hast du gewiß beim Kriegsgericht erlebt.»

Bei den letzten Worten schien dem General eine Erleuchtung zu kommen. Schweigend starrte er seinen Neffen an.

«Wilfrid», fuhr Michael fort, «wird von einem Kriegsgericht verurteilt. Aber dieses Gericht läßt sich mit dem Urteil lange Zeit – und das Ende ist nicht abzusehn.»

«Ich verstehe», entgegnete der General ruhig. «Doch Dinny hätte er das ersparen sollen, das wäre seine Pflicht gewesen.»

Michael lächelte. «Kümmert sich Liebe je um Recht und Pflicht?»

«Das ist jedenfalls der moderne Standpunkt.»

«Auch der alte, wie die Geschichte lehrt.»

Der General trat ans Fenster und sah hinaus.

«Ich möchte Dinny nicht besuchen», sagte er, ohne sich umzuwenden, «es würde sie nur quälen. Ihre Mutter ist derselben Ansicht. Wir können gar nichts tun.»

Aus seiner Stimme klang ehrliche Sorge um sein Kind.

Michael war gerührt und erklärte: «Irgendwie wird sich die Sache vermutlich bald entscheiden. So oder so, besser als diese Ungewißheit wird es jedenfalls sein, für die beiden und für uns.»

Der General machte kehrt.

«Hoffen wir's. Ich wollte dich bitten, mit uns in Fühlung zu bleiben und uns von allem zu verständigen, was Dinny unternimmt. Es ist so bitter, die Dinge da draußen abwarten zu müssen. Jetzt will ich dich nicht länger aufhalten. Ich danke dir, der Besuch hat mich beruhigt. Leb wohl!»

Er ergriff Michaels Hand, drückte sie fest und verließ das Zimmer.

Michael dachte: ‹Hangen und bangen! Das ist das Ärgste. Armer alter Knabe!›


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