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II

Auf dem Heimweg vom Hause seines Bruders im Adelphiviertel ging Laurence Darrant nordwärts, erst rasch, dann langsam, dann wieder rasch. Es gibt willensstarke Menschen, die zu einer Zeit nur eine Sache betreiben, und Willensschwache, die bald dies, bald jenes tun – nicht minder eifrig als die Willensstarken. Trifft solch unbeherrschte Naturen ein Schicksalsschlag, wie er gerade sie leicht ereilt, so lassen sie sich dadurch keineswegs bestimmen, fortan mehr Selbstbeherrschung zu üben. Im Gegenteil, es bestärkt sie nur in ihrem Lieblingsgedanken: ›Was tut's! Morgen müssen wir sterben!‹ Die Willensanstrengung, die Larry der Besuch bei Keith gekostet, hatte ihn erleichtert, erschöpft und aufgereizt. Diese drei Empfindungen bestimmten nun abwechselnd sein Verhalten auf dem Heimweg. Zuerst war er fest entschlossen, nach Hause zu gehn und dort ruhig die Ankunft seines Bruders abzuwarten. Keith hatte ihn ganz in der Hand, Keith würde schon wissen, was zu tun sei. Kaum aber war er dreihundert Schritt gegangen, da wurde er körperlich und seelisch so todmüde, daß er sich auf der Stelle eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte, wäre nur eine Pistole in seinem Bereich gewesen. Und vor dieser plötzlichen, trostlosen Schwermut hätte ihn nicht einmal der Gedanke an das Mädchen bewahrt – dieses junge, unglückliche, ihm so völlig ergebene Geschöpf, das ihn die letzten fünf Monate hindurch aufrechterhalten und in ihm eine Neigung wachgerufen hatte, so tief, wie er sie nie zuvor empfunden. Wozu noch weiterleben, als Spielball der eignen Leidenschaften, als schwankendes Rohr, das sich jedem Windhauch beugt? War es nicht besser, ein für allemal Schluß zu machen, endlich Schlaf zu finden?

Er näherte sich der verhängnisvollen Gasse, wo er und das Mädchen die frühen Morgenstunden verbracht, und eng umschlungen in der Geborgenheit der Liebe einen Augenblick Angst und Grauen zu vergessen gesucht hatten. Sollte er zu ihr gehn? Er hatte Keith versprochen, es zu unterlassen. Warum hatte er das versprochen? In dem erleuchteten Schaufenster einer Apotheke erblickte er sein Spiegelbild. Eine Jammergestalt, ein Schatten! Und plötzlich fiel ihm ein Hund ein, den er einst in den Straßen Peras aufgelesen hatte, ein schwarzweiß geflecktes Tier, von andrer Art als die übrigen Hunde, ein Ausgestoßner selbst unter den Ausgestoßnen, der sich irgendwie verlaufen hatte. Ganz im Gegensatz zu den Landesbräuchen hatte er ihn mit sich in seine Wohnung genommen und gewann ihn lieb; vor seiner Abreise jedoch zog er es vor, ihn eher eigenhändig zu erschießen, als ihn der Barmherzigkeit der andern Straßenköter auszuliefern. Zwölf Jahre war es her! Und jene Armbänder aus kleinen türkischen Münzen, die er dem Mädchen in dem Londoner Barbierladen, wo er sich gewöhnlich rasieren ließ, von der Reise mitgebracht hatte – ein anmutiges Wesen, wie eine wilde Rose! Als Dank hatte er einen Kuß von ihr verlangt. Wie seltsam war ihm zu Mut gewesen, als sie ihr Antlitz seinen Lippen genähert – schier leidenschaftliche Zärtlichkeit und Beschämung hatte ihn ergriffen, als er Wärme und Weichheit jener errötenden Wangen fühlte, des Mädchens Schönheit und dankbares Vertrauen sah. Die hätte sich ihm bald geschenkt, jawohl! Doch nie wieder war er hingegangen! Und bis zum heutigen Tag konnte er nicht sagen, warum er so zurückhaltend gewesen; bis zum heutigen Tag wußte er nicht, ob es ihn freute oder ihm leid tat, daß er jene Rose nicht gepflückt hatte. Damals mußte er gewiß ganz anders gewesen sein als heute! Wie seltsam doch das Leben war, wie seltsam! – Tag um Tag verstrich und man wußte nie, wessen man am nächsten fähig war. Ach, wer doch wie Keith sein könnte, selbstsicher, die Brust von Erfolg geschwellt; ein Kerl mit eherner Stirn, eine Stütze der Gesellschaft! Als Knabe hätte er einmal, gereizt durch eine höhnische Bemerkung, Keith um ein Haar umgebracht. In Süditalien hätte er einmal einen Kutscher, der sein Pferd peitschte, fast erwürgt. Und jetzt hatte er diesen dunkelhäutigen Schweinehund, den Verderber des Mädchens, das ihm so ans Herz gewachsen, tatsächlich ermordet! Ermordet! Einen Menschen ermordet!

Er, der keiner Fliege weh tun wollte! Da brachte ihn plötzlich das Schaufenster der Apotheke auf den tröstenden Gedanken, daß er ja zu Hause etwas besitze, was ihn bei einer Verhaftung retten könnte. Nie wieder würde er ausgehn, ohne ein paar jener kleinen weißen Pillen ins Rockfutter eingenäht zu tragen. Ein beruhigender, ja aufmunternder Gedanke! Die Leute sagten, es sei Sünde, sich das Leben zu nehmen. Sie sollten einmal das Grauen kennenlernen, diese moraltriefenden Spießer! Sie sollten einmal leben wie jenes Mädchen, wie Millionen auf der Welt lebten unter der Herrschaft ihrer heuchlerischen Dogmen! Besser sich das Leben nehmen, als ihrer vermaledeiten Unmenschlichkeit länger zusehn.

Er ging in den Apothekerladen, um ein Brompulver zu kaufen; und während es der Mann bereitete, stand Larry da, einen Fuß hochgezogen wie ein Gaul. Was war das Leben wert, das er diesem Kerl entrissen! Mußten nicht Tag für Tag zahllose Wesen das Leben lassen, quetschte man es nicht in den meisten Fällen gewaltsam aus ihnen heraus? Und vielleicht verdiente von ihnen allen kein einziges so sehr den Tod wie dieses Scheusal. Das Leben! Ein Atemzug – ein flackerndes Licht! Ein Nichts! Warum aber preßte ihm dann ein eisiger Griff das Herz zusammen?

Der Apotheker brachte ihm den Trank.

»Sie leiden an Schlaflosigkeit?«

»Ja.«

Der Blick des Mannes schien zu sagen: ›Aha! Wieder einer, der die Kerze an beiden Enden anzündet – kennen wir!‹ Ein sonderbares Leben führte so ein Apotheker; Pillen drehn und Pulver mischen den lieben langen Tag, um die Maschine Mensch in Gang zu halten! Verteufelt sonderbares Handwerk!

Beim Hinausgehn starrte ihm sein Gesicht aus einem Spiegel entgegen; es sah eigentlich viel zu vertrauenerweckend aus für das Gesicht eines Mörders. Es schien geradezu liebenswürdig, ein inneres Leuchten nahm den Schatten ihre Schärfe. Wie, wie nur konnte es das Gesicht eines Mannes sein, der eine Tat verbrochen wie er? Nun war ihm leichter ums Herz, die Füße schienen nicht mehr so bleischwer; rasch schritt er wieder dahin.

Wie wunderlich! Er empfand Erleichterung und Angst zugleich! Entsetzlich – sich nach Gesellschaft, Gespräch, Zerstreuung zu sehnen, und doch – davor zu bangen! Das Mädchen – das Mädchen und Keith waren nun die einzigen, vor denen er nicht auf der Hut sein mußte. Und selbst von diesen beiden war Keith doch nicht – –! Wie konnte man mit einem Menschen vertraut sein, der ohne Fehl war, einem Muster an Rechtschaffenheit, einem Mann des Erfolgs, der von seinem eigenen Ich nichts wußte, nichts wissen wollte; der unfähig war, je anders als korrekt zu handeln! Umherzuflattern wie ein Blatt, das der Wind bald hierhin bald dorthin trieb, war schlimm genug! Aber Keith zu gleichen – ganz Willensstärke, unbeirrbar über alles hinwegschreiten, auch über die eigenen Gefühle und Schwächen – nein! Einen Menschen wie Keith konnte man nicht zum Kameraden haben, wenn er auch der Bruder war. Für ihn gab es nur ein Wesen auf der Welt: das Mädchen. Sie allein wußte und fühlte, was er fühlte, würde sich mit ihm abfinden und ihn lieben, was immer auch er, was immer man ihm täte. Er blieb stehn, um sich im Schutze einer Haustür eine Zigarette anzuzünden.

Plötzlich hatte er den bangen Wunsch, an dem Torbogen vorbeizugehn, unter den er die Leiche gelegt hatte, ein banger Wunsch, der nicht den geringsten Sinn oder Zweck hatte – nur ein unsinniges, unbändiges Verlangen, den dunklen Ort wiederzusehn. Er überquerte die Borrow Street und schritt in die kleine Gasse. Eine einzige Person zeigte sich auf der andern Seite, ein Mann, der mit hochgezogenen Schultern gegen den Wind ankämpfte; seine kleine, dunkle Gestalt kam jetzt quer über die Gasse im flackernden Laternenlicht auf ihn zu. Welch ein Gesicht! Gelb, verwüstet, fast bis an die Augen von einem angegrauten Stoppelbart überwuchert, schwärzliche Zähne, unheimliche, blutunterlaufene Augen. Total zerlumpt – eine Schulter höher als die andere, ein Bein etwas lahm, und spindeldürr! Warmes Mitleid überkam Laurence für diese Kreatur, die noch unglücklicher war als er. Man konnte also noch tiefer sinken!

»Nun, Bruder,« sagte er, » du scheinst auch nicht gerade auf Rosen gebettet!«

Über des Mannes Antlitz huschte ein Lächeln, unwahrscheinlich wie das Lächeln einer Vogelscheuche.

»Rosen – die blüh'n mir freilich nicht,« gab er mit heiserer, knarrender Stimme zurück. »Ich taug' zu nichts – hab' nie zu was getaugt. Und doch – du glaubst es kaum – ich war einmal ein Geistlicher.«

Laurence hielt ihm einen Shilling hin. Der Mann jedoch schüttelte den Kopf.

»Behalt dein Geld,« sagte er. »Heute hab' ich wahrscheinlich mehr als du. Aber hab' Dank für deine freundlichen Worte. Für einen, der unterm Rad liegt, ist das mehr wert als Geld.«

»Du hast recht.«

»Ja,« fuhr die knarrende Stimme fort, »lieber krepieren als so weiterleben. Und nun hab' ich auch noch meine Selbstachtung verloren. Hab' mich oft gefragt, wie lang wohl ein Hungerleider leben kann, ohne seine Selbstachtung zu verlieren. Auf mein Wort, nicht gar lang!« Und mit unverändert knarrender, eintöniger Stimme fügte er hinzu:

»Hast du von dem Mord gelesen? Es war gerade hier. Ich hab' mir die Stelle angesehn.«

Schon wollten Laurence die Worte über die Lippen: ›Ich auch!‹ In jähem Schreck drängte er sie zurück.

»Hoffentlich siehst du noch bessere Tage,« sagte er. »Gute Nacht!« Er eilte davon. Ein grausiges Lachen entrang sich seiner Kehle. Sprach denn jeder von dem Mord, den er begangen? Sogar die Vogelscheuchen?


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