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IV

Wie gewöhnlich um fünf Uhr erwachte Keith ohne Erinnerung an das Geschehnis. Aber der grausige Schatten tauchte plötzlich wieder auf, als er in sein Arbeitszimmer trat, wo die Lampe schien, das Kaminfeuer glühte und der Kaffee bereitgestellt war, ganz wie am vorigen Nachmittag, als Larry an der Wand gelehnt hatte. Einen Augenblick wehrte sich Keith gegen die wiederkehrende Erinnerung; dann trank er seinen Kaffee und setzte sich verdrießlich an den Schreibtisch, zu seiner täglichen dreistündigen Aktenarbeit.

Kein einziges Wort seiner Auszüge konnte er recht behalten. Trübe Bilder und Sorgen drängten sich immer dazwischen, und eine volle halbe Stunde lang war er geistig fast wie gelähmt. Um halb elf Uhr vormittags stand ein Fall zur Verhandlung, über den er sich notgedrungen ein wenig informieren mußte, daher zwang er sich, seine Gedanken zu sammeln, konnte aber Unbehagen keineswegs ganz unterdrücken. Dennoch empfand er, als er sich um halb neun erhob und ins Badezimmer hinüberging, grimmige Genugtuung über diesen Sieg der Willenskraft. Bis halb zehn mußte er in Larrys Wohnung sein. Ein Schiff nach Argentinien ging morgen von London ab. Wenn Larry sogleich verschwinden sollte, mußte man Geld für ihn flüssig machen. Da stieß er beim Frühstück auf folgende Zeitungsnotiz:

 

Mord in Soho

Wie wir gestern spät abends erfahren, ist es gelungen, die Identität des Mannes zu ermitteln, den man gestern früh unter einem Torbogen in der Glove Lane erdrosselt fand. Der mutmaßliche Täter wurde verhaftet.

 

Zum Glück hatte Keith das Frühstück schon beendet, denn bei diesem Bericht wurde ihm ganz übel. In dieser Minute konnte Larry bereits eingesperrt sein, der Anklage harren – ja man konnte ihn sogar schon des Nachts verhaftet haben, schon vor Keiths Besuch bei dem Mädchen. War jedoch Larry verhaftet, dann mußte sie in die Sache mitverwickelt sein. Wie würde dann er dastehn? Welcher Wahnsinn, den Torbogen zu besichtigen, das Mädchen aufzusuchen! War ihm der Schutzmann wirklich bis nach Hause gefolgt? Helfershelfer eines Mörders nach der Tat! Keith Darrant, Königlicher Gerichtsrat, ein angesehener Mann! Es kostete ihn geradezu heroische Anstrengung, dieses panischen Schreckens Herr zu werden. Nur nicht den Kopf verlieren! Fassung bewahren, abwarten! Er vermied es sogar, sich zu beeilen, suchte ruhig die Akten für die Verhandlung zusammen und erledigte noch einen und den andern Brief, ehe er in einem Taxameter nach der Fitzroy Street fuhr.

Während er im grauen Morgen darauf wartete, daß man ihm auf sein Klingeln öffne, schien er vom Scheitel bis zur Sohle ein Mann, der weiß, was er will, ein Mann entschlossenen Handelns. Doch er mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, um ohne Zittern zu fragen: »Mr. Darrant zu Hause?« und ohne Anzeichen von Erregung die Antwort zu hören: »Er ist noch nicht aufgestanden, Sir.«

»Tut nichts; ich werde hineingehn und ihn sprechen: Mr. Keith Darrant.«

So groß war seine Geistesgegenwart, daß er vor dem Eintritt in Larrys Schlafzimmer ganz erleichtert dachte: ›Diese Verhaftung ist das Günstigste, was passieren konnte. Nun werden sie die falsche Fährte verfolgen, bis Larry fort ist. Auch das Mädchen muß verschwinden, aber nicht mit ihm zusammen.‹ Jetzt, nach diesem panischen Schrecken, war er zu einem festen Entschluß gekommen. Er betrat das Schlafzimmer mit einem Gefühl des Ekels. Der Kerl lag da, die bloßen Arme hinter dem zerzausten Kopf gekreuzt, starrte zur Decke empor und rauchte eine Zigarette; eine Menge Zigarettenstummel lagen schon auf einem Stuhl neben ihm und ihr Geruch verdarb die Luft. Dies blasse Gesicht mit dem starken Kinn und den vorstehenden Backenknochen, die eingefallenen Wangen und die tief in den Höhlen liegenden blauen Augen – wie verwüstet schien dieser Mensch, der so viel versprochen hatte!

Er blickte durch die Rauchwolken zu Keith empor und sagte gelassen: »Nun, Bruder, wie ist das Urteil ausgefallen? ›Deportation auf Lebenszeit und obendrein vierzig Pfund Geldstrafe‹?«

Diese Leichtfertigkeit empörte Keith. Das sah Larry wieder einmal ähnlich! Gestern abend entsetzt und voller Demut, heute morgens sorglos, geradezu frivol. Keith bemerkte säuerlich:

»Ah! Du kannst schon wieder Witze reißen!«

Laurence drehte den Kopf zur Wand.

»Muß wohl.«

Fatalismus! Er verabscheute solche Naturen!

»Ich bin bei ihr gewesen,« erklärte Keith.

»Du?«

»Gestern abends. Man kann ihr vertraun.«

Laurence lachte.

»Hab' ich dir das nicht gesagt?«

»Ich mußte mich selbst überzeugen. Du wirst in kürzester Zeit verschwinden, Larry. Sie kann dir mit dem nächsten Schiff nachkommen, aber zusammen dürft ihr nicht reisen. Hast du Geld?«

»Nein.«

»Ich kann für die Reisekosten aufkommen und dir so viel vorstrecken, daß du ein Jahr davon leben kannst. Aber es darf kein Zurück mehr geben; niemand außer mir darf deinen künftigen Aufenthalt kennen.«

Ein langer Seufzer kam als Antwort.

»Du bist sehr gütig zu mir, Keith, bist es immer gewesen. Ich weiß nicht, warum.«

Keith erwiderte trocken:

»Ich auch nicht. Morgen geht ein Schiff nach Argentinien. Du hast Glück, man hat einen andern verhaftet. Das steht in der Zeitung.«

»Was?«

Der Zigarettenstummel fiel zu Boden, die magere Gestalt im leichten Pyjama sprang empor und umklammerte die Bettkante.

»Was?«

Da durchzuckte Keith der peinliche Gedanke: ›Ich war ein Narr. Das macht ihn ganz verstört. Was nun?‹

Laurence fuhr mit der Hand über die Stirn und setzte sich aufs Bett.

»Daran hab' ich nicht gedacht,« sagte er. »Aus ist's!«

Keith starrte ihn an. In seiner Erleichterung darüber, daß nicht sein Bruder verhaftet worden war, hatte er diese Möglichkeit ganz übersehn. Total verrückt!

»Warum?« fragte er rasch, »einem Unschuldigen droht doch nie ernste Gefahr. Man erwischt immer zuerst den Unrichtigen. Ein Glück für dich, jawohl. Wir gewinnen Zeit dadurch.«

Wie oft schon hatte er nicht diesen nachdenklich fragenden Ausdruck auf Larrys Antlitz gewahrt! Schien Larry nicht zu versuchen, die Sache mit seinen – Keiths – Augen zu betrachten und sich der bessern Einsicht zu fügen? Beinahe sanft sprach Keith auf ihn ein:

»Aufgepaßt, Larry! Die Geschichte ist kein Spaß. Wegen dieser Verhaftung mach' dir keine Sorgen. Überlaß die Sache mir. Halt dich zur Abreise bereit. Ich bestelle dir eine Kajüte und bringe alles in Ordnung. Hier hast du Geld für die Ausrüstung. Zwischen fünf und sechs kann ich herkommen und dir Bescheid sagen. Raff' dich zusammen, Mensch! Sobald das Mädchen dir nachgekommen ist, fahrt ihr am besten nach Chile, je weiter desto besser. Ihr müßt spurlos verschwinden. Ich muß jetzt fort, wenn ich noch in die Bank soll, ehe ich zu Gericht geh'.« Und mit festem Blick auf seinen Bruder setzte er hinzu:

»Sei vernünftig! Du mußt bei dieser Sache auch an mich denken, nicht nur an dich. Du hast dich meinen Anordnungen zu fügen, verstanden?«

Aber noch immer blickte Larry mit jenem nachdenklich fragenden Ausdruck zu ihm empor und erst als Keith wiederholte: »Verstanden?«, erhielt er die Antwort: »Ja.«

Beim Wegfahren dachte er: ›Sonderbarer Kauz! Ich verstehe ihn nicht, werde ihn nie verstehn!‹ und begann dann sogleich seine Gedanken auf die praktischen Anordnungen zu konzentrieren. In seiner Bank behob er 400 Pfund; während er jedoch auf das Abzählen der Noten wartete, kamen ihm Bedenken. Wie plump, so vorzugehn! Hätte er nur mehr Zeit gehabt! ›Helfershelfer eines Mörders nach der Tat!‹ – dieser Gedanke verdarb ihm jetzt alles. Die Herkunft der Banknoten konnte durch ihre Nummern verraten werden. Und doch gab es keine andere Möglichkeit, Larry sogleich fortzuschaffen. Man mußte die geringere Gefahr in Kauf nehmen, um der größeren zu entgehn. Von der Bank fuhr er zum Büro der Schiffahrtsgesellschaft. Er hatte Larry gesagt, daß er für ihn eine Fahrkarte lösen wolle. Aber das ging nicht! Er konnte nur ohne Namensnennung anfragen, ob noch Plätze frei seien. Nachdem er erfahren hatte, es gebe noch unbesetzte Kajüten, fuhr er zum Gerichtsgebäude weiter. Wenn er sich für den Vormittag hätte freimachen können, wäre er aufs Polizeigericht gegangen, um die Anklage gegen jenen Mann zu hören. Aber auch das schien wohl zu riskant, sein Gesicht war zu gut bekannt. Was für Folgen mochte diese Verhaftung haben? Keine, bestimmt keine! Die Polizei verhaftete immer den Nächstbesten, um die Öffentlichkeit zu beruhigen. Dann wieder hatte er plötzlich das Gefühl, dies alles sei nur ein Fieberwahn, Larry habe es nie verbrochen, die Polizei habe den Richtigen erwischt! Doch im selben Augenblick sah er wieder das schreckverzerrte Gesicht des Mädchens vor sich, ihre auf dem Sofa zusammengekauerte Gestalt und hörte ihre Worte: ›Ich seh ihn immer noch vor mir, wie er hinfällt!‹ Herrgott, was für eine Geschichte!

Ihm war, er habe nie einen klareren Kopf gehabt, nie eindringlicher gesprochen, als an diesem Vormittag bei Gericht. Als er zum Lunch ging, kaufte er dasjenige Abendblatt, das die meisten Sensationen brachte. Aber es war noch zu früh für neue Nachrichten und er mußte, ohne weitere Kunde über die Verhaftung, zu Gericht zurück. Nachdem er endlich Perücke und Talar abgelegt, eine Besprechung und andere notwendige Arbeiten erledigt hatte, trat er auf die Chancery Lane hinaus; unterwegs kaufte er sich eine Zeitung. Dann winkte er eine Droschke herbei und fuhr abermals in die Fitzroy Street.


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