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V

Larry war noch einige Minuten auf dem Bett sitzen geblieben. Einem Unschuldigen drohte nie ernste Gefahr! Das hatte Keith gesagt – der berühmte Rechtsanwalt! Durfte er wirklich darauf bauen? Durfte er mit dem Mädchen zwölftausend Kilometer weit fortgehn und einen Mitmenschen in Gefahr zurücklassen, in Lebensgefahr vielleicht, wegen einer Tat, die er verübt?

In der vergangenen Nacht war er sich, wie er glaubte, über seine Lage klar geworden, hatte er sich auf alles gefaßt gemacht. Hätte ihm Keith beim Kommen geraten: ›Stelle dich dem Gericht!‹, er wäre ohne den leisesten Widerspruch dazu bereit gewesen. Er war entschlossen, den Rest seines Lebens von sich zu werfen, wie die Reste seiner Zigaretten. Und der lange Seufzer, den er ausstieß, als er von der Galgenfrist hörte, war nur halb ein Seufzer der Erleichterung gewesen. Dann hatte ihn ganz unerwartet ein Gefühl unsäglicher Freude und Hoffnung durchströmt. Spurlos verschwinden – in ein neues Land, ein neues Leben beginnen! Er und das Mädchen! Dort draußen würde es ihn nicht mehr quälen, im Gegenteil, sogar freuen, daß er solch schädliches Ungeziefer vertilgt hatte. Dort draußen! Unter einer andern Sonne, wo das Blut rascher durch die Adern floß als in diesem nebeligen Lande, dort, wo die Menschen sich mit eigener Hand ihr Recht verschafften. Denn es war nur eine gerechte Strafe gewesen, die er an diesem viehischen Kerl vollzogen, wenn er ihn auch nicht mit Absicht getötet hatte. Und nun mußte er von dieser Verhaftung erfahren! Heute würde man den Mann verhören. Er konnte hingehn und den armen Teufel des Mords beschuldigt sehn, den er begangen! Da mußte er lachen. Hingehn und erfahren, ob es wahrscheinlich sei, daß ein Mitmensch statt seiner an den Galgen käme? Er kleidete sich an und ging zu einem Barbier, da seine Hand zum Rasieren zu unsicher war. Dort im Laden las er die Nachricht, die Keith bereits gesehen hatte. Diese Zeitung erwähnte auch den Namen des Verhafteten: ›John Evan, obdachlos. Zum Verhör auf das Polizeigericht gebracht.‹ Er mußte hingehn! Unbedingt! Ein-, zwei-, dreimal ging er am Gerichtsgebäude vorüber, ehe er eintrat und sich durch den Zuhörerpöbel hindurchdrängte.

Der Saal war überfüllt; Larry entnahm den geflüsterten Bemerkungen, daß seine eigene Sache so viel Leute hieher gelockt habe. Halb betäubt verfolgte er eine Verhandlung nach der andern, alle wurden mit Blitzesschnelle erledigt. Wann endlich würde seine Angelegenheit an die Reihe kommen? Plötzlich sah er die kleine Vogelscheuche von gestern nacht zwischen zwei Schutzleuten zur Angeklagtenbank schreiten; jetzt, bei Tageslicht, schien er noch zerlumpter und elender, wie ein zottiges, abgehetztes, graues Tier, das von Jagdhunden gestellt wurde.

Von allen Seiten erhob sich beifälliges Murmeln und mit Entsetzen bemerkte Laurence, daß dies, ja dies der Mann war, den man der Tat beschuldigte, die er begangen – dieser heruntergekommene arme Narr, dem er im Vorbeigehn ein paar freundliche Worte gesagt hatte. Dann verdrängte das gruselige Interesse des Zuhörens jedes andere Empfinden. Die Zeugenvernehmung war ganz kurz: Identifizierung der Leiche durch den Gastwirt, bei dem Walenn gewohnt hatte – er erkennt einen schlangenförmigen Ring, den Walenn an jenem Abend beim Speisen getragen. Das Zeugnis eines Pfandleihers, daß als erster Gegenstand gestern früh dieser selbe Ring von dem Beschuldigten bei ihm versetzt worden sei. Das Zeugnis eines Schutzmanns, daß er Evan mehrmals in der Glove Lane gesehen und zweimal von seinem Schlafplatz unter jenem Torbogen verscheucht habe. Das Zeugnis eines andern Schutzmanns, Evan habe bei seiner Verhaftung um Mitternacht gesagt: ›Ja, ich hab' ihm den Ring vom Finger gezogen. Ich hab' den Mann schon als Leiche gefunden … Ich weiß, ich hätt' es nicht tun sollen … Ich bin ein gebildeter Mensch; es war dumm von mir, den Ring zu verpfänden. Der Mann hatte die Taschen nach außen gekehrt.‹

Es war spannend und schrecklich zugleich, so dazusitzen und den Menschen anzustarren, dessen Platz eigentlich ihm gebührt hätte, abzuwarten, ob diese kleinen, hellgrauen, blutunterlaufenen Augen ihn erspähen würden – wie sollte er dann diesem Blick begegnen? Wie ein in die Falle gegangenes Wild stand der kleine Mann mit dem grauen borstigen Haar und Bart in eine Ecke gedrückt da, traurig, zynisch, ergrimmt; sein durchfurchtes gelbes Gesicht hatte einen stumpfen Ausdruck. Dann und wann irrte sein Blick über die Menge hin. Laurence nahm seine ganze Kraft zusammen und sah gleichgültig drein. Dann fiel das Wort ›vertagt‹, und der Mann, der mehr denn je einem gehetzten Tier glich, wurde abgeführt.

Laurence blieb sitzen, kalter Schweiß stand ihm in hellen Tropfen auf der Stirn. Jemand andrer hatte sich also über den Leichnam hergemacht und die Taschen geleert, noch ehe John Evan den Ring genommen. Ein Mensch wie Walenn ging des Nachts ganz gewiß nicht ohne Geld aus. Auch hätte Evan nie den Ring zu entwenden gewagt, wenn er Geld bei dem Leichnam gefunden hätte. Ein anderer mußte also vor ihm auf die Leiche gestoßen sein. Der hatte jetzt die Pflicht, als Entlastungszeuge zu erscheinen und auszusagen, daß der Ring sich noch am Finger des Toten befand, als er ihn verließ. Larry klammerte sich an diesen Gedanken, der ihm seine eigne Schuld an der Lage des kleinen Mannes zu verringern schien, der seine eigne Tat ein wenig in den Hintergrund schob. Wenn man den Dieb des Geldes fand, mußte Evans Unschuld ans Licht kommen. Wie ein Schlafwandler verließ er das Gerichtsgebäude. Heftiges Verlangen überkam ihn, sich zu betrinken. So konnte er nicht weiterleben, ohne sich wenigstens vorübergehend Vergessen zu schaffen. Könnte er sich nur einen Rausch antrinken und nicht eher nüchtern werden, bis entschieden war, ob er sich stellen müsse oder nicht. Er hatte jetzt nicht die mindeste Angst, daß jemand ihn verdächtigen könne, nur Angst vor sich selbst, Angst davor, daß er sich stellen werde. Nun durfte er das Mädchen besuchen; die Gefahr, dabei gesehn zu werden, war nichts im Vergleich zur Gefahr, die ihm durch sein Gewissen drohte. Freilich hatte er Keith versprochen, sie nicht zu besuchen. Keith war ihm gegenüber so treu und anständig gewesen – der liebe alte Keith! Doch er würde nie verstehn, daß dieses Mädchen das einzige war, was für Larry noch Wert besaß, daß er lieber das Leben lassen wollte als sie. Diese Neigung schwand nicht, sondern wuchs von Tag zu Tag – ein seltsames, erschütterndes Erlebnis! Nach tiefstem Elend hatte sie Glück gefunden – durch ihn; nach einem schmutzigen, ruhelosen Leben war sie aufgeblüht, hatte sie wieder innere Festigkeit erlangt, durch ihre hingebende Liebe zu ihm, zu ihm von allen Menschen in der Welt! Ein Wunder war es! Sie begehrte nichts von ihm, betete ihn an wie kein andres Weib zuvor; durch sie hatte sein schwankes Schiff wieder Anker geworfen, durch ihre verständnisvolle, treue Güte und die heiße Glut eines Weibes, das zum ersten Mal wahrhaft liebte, nachdem es lange von den Männern als Sache mißbraucht worden.

Plötzlich bezwang er sein Verlangen, sich zu betrinken, und ging in der Richtung nach Soho. Ein Narr war er gewesen, Keith die Schlüssel zu geben. Sie mußte über seinen Besuch erschrocken und seither vielleicht doppelt unglücklich sein, da sie nichts Bestimmtes wußte und sich gewiß alles mögliche einbildete! Keith hatte ihr zweifellos Angst eingejagt. Armes kleines Ding!

Fast im Laufschritt eilte er jetzt die Straße entlang, durch die er im Dunkel, die Leiche auf dem Rücken, geschlichen war. So erreichte er das schützende Dach ihres Hauses; die Tür wurde ihm geöffnet, noch ehe er angeklopft hatte, zwei Arme schlangen sich um seinen Hals, zwei Lippen preßten sich auf die seinen. Das Feuer war erloschen – sie schien vergessen zu haben, daß es kalt im Zimmer war. Ein Schemel stand beim Fenster, offenbar hatte sie die ganze Zeit dort gesessen, wie ein Vogel im Käfig, und auf die graue Straße hinausgestarrt. Obwohl Keith ihr gesagt, Larry dürfe nicht kommen, hatte ein instinktives Ahnen sie dort festgehalten, oder vielleicht die rührende, wehe, sinnlose Hoffnung, von der Liebende niemals lassen.

Nun, da er hier war, galt ihr erster Gedanke seiner Behaglichkeit. Sie zündete das Kaminfeuer an. Er mußte essen, trinken, rauchen. Nie kam ihr in den Sinn: ›Dies tue ich für dich, dafür aber sollst du jenes für mich tun‹, der Leitgedanke so vieler Ehen und Liebesverhältnisse. Sie war wie eine ergebene Sklavin, die ihre Ketten so sehr liebte, daß sie sich ihrer garnicht bewußt ward. Und Laurence, der nicht im mindesten herrschsüchtig war, liebte sie darum nur um so zärtlicher und fühlte sich ihr um so mehr verpflichtet. Er hatte beschlossen, ihr nichts von der neuen Gefahr zu erzählen, die ihm nun durch sein eigenes Gewissen drohte. Wenn sich aber Larry etwas vornahm, tat er dann unfehlbar das Gegenteil und so entschlüpften ihm schließlich die Worte:

»Man hat jemanden verhaftet.«

Ihr Gesichtsausdruck bewies ihm, daß sie die Gefahr sofort erfaßt, ja vielleicht schon erraten hatte, ehe er sprach. Doch sie schlang nur ihre Arme um ihn und küßte ihn auf die Lippen. Und er begriff, daß sie ihn dadurch anflehte, die Liebe zu ihr über sein Gewissen zu stellen. Wer hätte je gedacht, daß ihm dieses Mädchen, das durch so viele Hände gegangen war, so viel bedeuten könne! Die ehrlose und leidvolle Vergangenheit eines geliebten Weibes ruft in manchen Männern nur Ritterlichkeit wach, in andern Leuten der achtbaren Gesellschaft einen grausamen Kitzel, erbitterte Eifersucht auf die Vorgänger. Und manchmal auch beides zugleich. Wenn er sie in den Armen hielt, bereute er ganz und gar nicht, die schöne Bestie, die das Mädchen ruiniert hatte, umgebracht zu haben. Sogar wilde Freude empfand er darüber. Wenn sie jedoch den Kopf an seine Schulter schmiegte und ihm ihr Gesicht zuwandte – es schien ganz blaß, nur die halbgeöffneten Lippen, die Wangen und Lider waren leicht gefärbt – wenn ihre dunklen, weit auseinanderstehenden braunen Augen in seliger Hingabe zu ihm aufsahn, empfand er nur ein zärtliches Beschützergefühl.

Er verließ sie um fünf Uhr und war noch nicht zwei Straßen weit gegangen, da übermannte ihn wieder die Erinnerung an den kleinen, grauen Vagabunden mit der trostlos krächzenden Stimme, der sich so scheu wie ein Wild in der Falle in eine Ecke der Anklagebank gedrückt hatte; und Ingrimm erfüllte ihn gegen eine Welt, in der man solche Qualen leiden mußte, ohne daß man je einem Wesen hatte wehtun wollen.

Vor seiner Haustür stieg soeben Keith aus einer Droschke. Sie gingen zusammen hinein, doch keiner von beiden nahm Platz; wie zwei kampfbereite Gegner standen sie da, Keith den Rücken gegen die sorgsam geschlossene Tür gekehrt, Laurence den Rücken zum Tisch gewendet. Keith sagte:

»Es ist Platz genug auf dem Schiff. Geh hin und nimm dir eine Kajüte, ehe sie schließen. Hier ist das Geld!«

»Nein, Keith, ich nehm' nicht Reißaus, ich bleibe.«

Keith trat ein paar Schritte vor und legte ein Bündel Banknoten auf den Tisch.

»Nimm doch Vernunft an, Larry. Ich hab' den Polizeibericht gelesen. Die ganze Sache ist belanglos. Ein paar Wochen im Gefängnis oder draußen, das ist doch einerlei für einen Strolch dieses Schlages. Mach' dir keine Sorgen – das Beweismaterial reicht nicht annähernd für einen Schuldspruch aus. Jetzt hast du die Gelegenheit. Ergreif sie mannhaft und beginne ein neues Leben.«

Laurence lächelte, doch dieses Lächeln hatte etwas Irres, Boshaftes an sich. Er hielt Keith die Banknoten hin.

»Verschwinden soll ich und die Ehre meines Bruders Keith retten! Steck das Geld wieder ein, Keith, oder ich werf es ins Feuer. Los, nimm es!« Er trat zum Kamin und hielt die Noten an die Flammen. »Nimm sie, oder ich schmeiß' sie hinein.«

Keith nahm die Banknoten zurück.

»Ich hab' noch immer etwas wie Ehrgefühl, Keith; wenn ich aber so verschwinde, dann ist auch der letzte Rest dahin. Ich weiß noch nicht, was ich vorziehn werde – ich weiß es noch nicht.«

Lange schwiegen beide, dann erwiderte Keith:

»Du irrst, sag' ich dir. Kein Geschworener wird ihn schuldig sprechen. Und wenn, so läßt ihn kein Richter hängen. Ein Leichenräuber gehört auf jeden Fall ins Gefängnis. Wenn ich's recht bedenke, ist seine Tat schlimmer als deine!«

Laurence hob den Kopf.

»Richte nicht, Bruder,« sagte er, »das Herz ist ein dunkler Brunnen.«

Das gelbliche Gesicht Keiths rötete sich und schien anzuschwellen wie bei einem schweren Hustenanfall.

»Was hast du also vor? Hoffentlich darf ich dich noch ersuchen, ein wenig an unsern Namen zu denken; oder ist eine solche Rücksicht deiner Ehre unwürdig?«

Laurence senkte den Kopf. Die Bewegung sagte klarer als Worte: ›Tritt nicht auf einem Menschen herum, der schon zu Boden gestreckt ist!‹

»Ich weiß noch nicht, was ich machen werde – vorläufig nichts. Es tut mir furchtbar leid, Keith, furchtbar leid.«

Keith sah ihn an und verließ ihn ohne ein weiteres Wort.


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