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Viertes Kapitel

In der Green Street

Es war ungewiß, ob der Eindruck, daß Prosper Profond gefährlich war, auf seinen Versuch, Val die Mayflystute zu schenken, einer Bemerkung Fleurs: »Er ist wie die Heerscharen Midians – er streift unaufhörlich umher«, seiner albernen Frage an Jack Cardigan: »Was hat es für einen Zweck, sich gut ›in Form‹ zu halten?« zurückzuführen war oder einfach auf die Tatsache, daß er ein Fremder war oder ein Ausländer, wie es jetzt genannt wurde. Sicher war, daß Annette ganz besonders hübsch aussah, und daß Soames ihm seinen Gauguin verkauft und dann den Scheck zerrissen hatte, so daß Monsieur Profond selbst sagte: »Ich bekam das kleine Bild nicht, das ich von Mr. Forsyte gekauft habe.«

Wie argwöhnisch man ihn auch betrachtete, besuchte er Winifreds immergrünes Haus in der Green Street doch mit einer gutmütigen Abgestumpftheit, die niemand für Naivität ansah, ein Wort, das auf Monsieur Profond auch kaum anwendbar war. Winifred fand ihn immer noch »amüsant« und schrieb zuweilen kleine Billette an ihn, in denen sie ihn zu einem »gemütlichen Abend« einlud; es war ihr eine Lebensbedingung, die üblichen Phrasen aufrechtzuerhalten.

Das Geheimnis, das ihn nach Ansicht aller umgab, lag darin, daß er alles getan, gesehen, gewußt und nichts daran gefunden hatte – das war unnatürlich. Der englische Typ des Blasierten war Winifred, die sich immer in vornehmen Kreisen bewegt hatte, vertraut genug. Er hatte etwas Distinguiertes, hatte ein eigenes Gepräge, so daß man auf seine Kosten dabei kam. Aber an keiner Sache etwas zu finden, nicht als Pose, sondern weil nichts daran war, war nicht englisch; und was nicht englisch war, mußte man unwillkürlich für gefährlich halten, wenn auch nicht gerade für schlechte Manier. Es war wie die Stimmung, die der Krieg hinterlassen hatte, finster, dumpf, lächelnd, gleichgültig, war, als höre man sie ausgesprochen von dicken roten Lippen über einem kleinen diabolischen Bart. Es war, wie Jack Cardigan es ausdrückte, für den englischen Charakter »ein wenig zu stark«, denn wenn wirklich nichts einer Erregung wert war, gab es doch immer noch Spiele, bei denen man sie finden konnte! Selbst Winifred, die im Herzen stets eine Forsyte war, fühlte, daß man von einer solchen blasierten Stimmung nichts hatte und sie daher völlig überflüssig sei. Monsieur Profond gab diese Stimmung in der Tat viel zu offen zu erkennen in einem Lande, das solche Wahrheiten mit Anstand verhüllte.

Als Fleur nach ihrer eiligen Rückkehr von Robin Hill an diesem Abend zu Tisch herunterkam, stand er am Fenster von Winifreds kleinem Wohnzimmer und schaute mit einer Miene auf die Green Street hinunter, als sähe er nichts darin. Und rasch starrte Fleur mit einer Miene in den Kamin, als sähe sie ein Feuer, das nicht da war.

Monsieur Profond kam vom Fenster. Er war in vollem Staat, mit weißer Weste und einer weißen Blume im Knopfloch.

»Nun, Miß Forsyte«, sagte er, »ich freuen mich ungemein, Sie zu sehen. Geht es Mr. Forsyte gut? Ich sagten heute gerade, daß ich ihn gern einmal vergnügt sähe. Er ist verstimmt.«

»Finden Sie?« sagte Fleur kurz.

»Verstimmt«, wiederholte Monsieur Profond, das »r« rollend.

Fleur drehte sich um. »Soll ich Ihnen sagen«, sagte sie, »was ihm Vergnügen machen würde?« Aber die Worte: »Zu hören, daß Sie verduftet wären«, erstarben bei dem Ausdruck in seinem Gesicht. Alle seine schönen weißen Zähne waren sichtbar.

»Ich hörte heute im Klub von seinem alten Kummer.«

Fleur riß die Augen auf. »Wie meinen Sie das?«

Monsieur Profond bewegte seinen glatten Kopf, wie um seine Behauptung einzuschränken.

»Bevor Sie geboren waren, die kleine Geschichte«, sagte er.

Obwohl sie merkte, daß er sie klüglich von seinem eigenen Anteil an der Verstimmung ihres Vaters ablenkte, war es Fleur nicht möglich, einer Anwandlung von nervöser Neugierde zu widerstehen. »Sagen Sie mir, was Sie hörten.«

»Aber«, sagte Monsieur Profond, »das wissen Sie ja alles.«

»Das nehme ich wohl an. Aber ich wüßte gern, ob Sie nichts Falsches gehört haben.«

»Seine erste Frau«, murmelte Monsieur Profond.

Sie unterdrückte die Worte: »Er war vorher nie verheiratet«, und sagte: »Nun, was ist über sie zu sagen?«

»Mr. George Forsyte erzählte mir, daß die erste Frau Ihres Vaters später seinen Vetter Jolyon geheiratet hätte. Es war ein wenig unangenehm für ihn, glaube ich. Ich sah ihren Sohn – ein hübscher Junge!«

Fleur sah auf. Monsieur Profonds diabolisches Gesicht verschwamm vor ihr. Das also – der Grund! Mit heroischer Anstrengung gelang es ihr, die verschwimmenden Züge festzuhalten. Sie wußte nicht, ob er es bemerkt hatte. Und gerade da kam Winifred herein.

»Oh! Da seid ihr beide ja schon! Imogen und ich hatten einen höchst amüsanten Nachmittag im Babybasar.«

»Was für Babys?« fragte Fleur mechanisch.

»Die Säuglingsfürsorge. Ich machte solch einen guten Kauf, meine Liebe. Eine alte armenische Arbeit – vorsintflutlich. Ich möchte Ihre Ansicht darüber, Prosper.«

»Tantchen«, flüsterte Fleur plötzlich.

Bei dem Ton in der Stimme des Mädchens trat Winifred dicht zu ihr.

»Was ist dir? Bist du nicht wohl?«

Monsieur hatte sich ans Fenster zurückgezogen, wo er außer Hörweite war.

»Tantchen, er – er sagte mir, daß Vater früher verheiratet war. Ist es wahr, daß er sich scheiden ließ und sie Jon Forsytes Vater heiratete?«

Nie im Leben als Mutter von vier kleinen Darties hatte Winifred sich in ernsterer Verlegenheit befunden. Das Gesicht ihrer Nichte war so blaß, ihre Augen so dunkel und ihre Stimme so flüsternd und angestrengt.

»Dein Vater wünschte nicht, daß du es erfahren solltest«, sagte sie mit all dem Nachdruck, den sie aufbringen konnte. »So etwas kommt vor. Ich habe ihm oft geraten, es dir zu sagen.«

»Oh!« sagte Fleur, und das war alles, aber es veranlaßte Winifred, ihr die Schulter zu streicheln – eine feste kleine Schulter, hübsch und weiß! Sie hatte immer einen lobenden Blick in Bereitschaft für ihre Nichte, die natürlich verheiratet werden mußte – wenn auch nicht mit diesem Knaben Jon.

»Wir haben diese Sache, die schon Jahre und Jahre zurückliegt, ganz vergessen«, sagte sie tröstend. »Komm jetzt zum Essen!«

»Nein, Tantchen. Mir ist nicht ganz wohl. Darf ich nach oben gehen?«

»Liebes Kind!« murmelte Winifred betroffen, »du nimmst dir das doch nicht zu Herzen? Du bist ja noch gar nicht richtig in die Gesellschaft gekommen! Der Junge ist ein Kind!«

»Welcher Junge? Ich habe nur Kopfweh. Aber ich kann den Mann dort heute nicht vertragen.«

»Gut, gut«, sagte Winifred, »geh nach oben und lege dich hin. Ich werde dir etwas Brom hinaufschicken und werde mit Prosper Profond reden. Wozu mußte er schwatzen? Obgleich ich sagen muß, daß ich es für viel besser halte, wenn du es weißt.«

Fleur lächelte. »Ja«, sagte sie und schlüpfte aus dem Zimmer. Ihr wirbelte der Kopf, als sie hinaufging, sie spürte eine Trockenheit im Halse, ein unruhiges, erschrockenes Gefühl in der Brust. Bis jetzt hatte sie noch niemals in ihrem Leben auch nur unter einer vorübergehenden Furcht davor gelitten, daß sie nicht bekommen würde, was ihr am Herzen lag. Die Aufregungen des Nachmittags waren gerade stark genug, und diese grausame Entdeckung jetzt noch dazu hatte ihr wirklich Kopfweh gemacht. Kein Wunder, daß ihr Vater die Photographie so heimlich hinter der ihren versteckt hatte – er schämte sich, sie behalten zu haben! Aber konnte er Jons Mutter hassen und doch ihre Photographie aufbewahren? Sie preßte die Hände an die Stirn und versuchte, die Dinge klar zu sehen. Hatten sie es Jon gesagt – hatte ihr Besuch in Robin Hill sie gezwungen, es ihm zu sagen? Darauf kam jetzt alles an! Sie wußte es, alle wußten es, außer – vielleicht – Jon!

Sie wanderte auf und ab, biß sich in die Lippen und dachte angestrengt nach. Jon liebte seine Mutter. Wenn sie es ihm gesagt hatten, was würde er tun? Sie wußte es nicht. Doch wenn sie es ihm nicht gesagt hatten, sollte sie dann nicht – konnte sie ihn nicht für sich haben – sich mit ihm verheiraten, bevor er es erfuhr? Sie rief sich die Eindrücke von Robin Hill zurück. Das Gesicht seiner Mutter, so passiv, mit den dunklen Augen und dem wie gepuderten Haar, seiner Zurückhaltung, seinem Lächeln – machte ihr Kopfzerbrechen; und das seines Vaters – das so gütig war, so eingefallen, so ironisch, ebenfalls. Sie fühlte instinktiv, daß sie davor zurückschrecken würden, es ihm zu sagen, selbst jetzt noch, davor zurückschrecken würden, ihn zu verletzen – denn natürlich würde es ihn furchtbar verletzen, wenn er es erfuhr!

Ihre Tante durfte ihrem Vater nicht sagen, daß sie es wußte. Solange man weder von ihr noch von Jon annahm, es zu wissen, war noch eine Aussicht – konnte sie frei ihrer Wege gehen und erhalten, was ihr so am Herzen lag. Aber ihre Einsamkeit überwältigte sie fast. Alle waren gegen sie – aber auch alle! Es war, wie Jon gesagt hatte – er und sie wollten nur leben, und die Vergangenheit war ihnen im Wege, eine Vergangenheit, an der sie nicht teil hatten und die sie nicht verstanden! Es war eine Schmach! Und plötzlich fiel ihr June ein. Ob sie ihnen helfen würde? Denn eigentlich hatte June den Eindruck gemacht, als sympathisiere sie mit ihrer Liebe und mißbillige Hindernisse. Doch ganz instinktiv dachte sie: »Ich möchte doch lieber nichts sagen, auch ihr nicht. Ich wage es nicht! Ich will nur Jon, ihnen allen zum Trotz.«

Ihr wurde Suppe gebracht und eins von Winifreds Lieblingsmitteln gegen Kopfweh. Sie verschlang beides. Dann erschien Winifred selbst. Fleur eröffnete ihren Kampf mit den Worten: »Du weißt, Tantchen, ich möchte nicht, daß die Leute glauben, ich sei verliebt in den Jungen. Ich habe ihn ja kaum gesehen.« Winifred war zwar erfahren, aber nicht » fine«. Sie nahm die Bemerkung mit großer Erleichterung auf. Natürlich war es nicht angenehm für das Mädchen, von dem Familienskandal zu hören, und sie bemühte sich, die Sache als belanglos hinzustellen, eine Aufgabe, für die sie sich außerordentlich gut eignete, da sie von einer gemütlichen Mutter und einem Vater »vornehm erzogen« war, dessen Nerven nicht erregt werden durften, und sie außerdem viele Jahre hindurch die Frau Montague Darties gewesen war. Ihre Darstellung der Sachlage war ein Meisterstück absichtlicher Unterschätzung. Die erste Frau von Fleurs Vater sei sehr töricht gewesen. Es sei da ein junger Mann gewesen, der überfahren wurde, und sie hatte Fleurs Vater verlassen. Dann, Jahre danach, wo alles wieder hätte in Ordnung kommen können, hatte sie ihren Vetter Jolyon kennengelernt, und ihr Vater war natürlich genötigt gewesen, sich scheiden zu lassen. Niemand außer der Familie erinnere sich noch der Sache. Und vielleicht hatte sich so alles zum besten gewendet; ihr Vater habe sie, und Jolyon und Irene wären sehr glücklich, sagt man, und ihr Junge ein hübscher Junge. »Und daß Val Holly hat, ist auch eine Art Pflaster, weißt du?« Mit diesen tröstlichen Worten streichelte Winifred die Schulter ihrer Nichte und dachte dabei: »Sie ist ein hübsches, volles, kleines Ding!« Darauf ging sie zu Prosper Profond zurück, der trotz seiner Indiskretion an diesem Abend sehr »amüsant« war.

Für einige Minuten, nachdem ihre Tante gegangen war, blieb Fleur geistig und körperlich unter der Einwirkung von Brom. Doch dann kehrte die Wirklichkeit zurück. Ihre Tante hatte alles weggelassen, worauf es ankam – alle Gefühle, Haß, Liebe, die Unversöhnlichkeit leidenschaftlicher Herzen. Sie, die noch so wenig vom Leben wußte und nur einen Hauch der Liebe gespürt hatte, empfand ganz instinktiv, daß Worte so wenig Beziehung zu Tatsachen und Gefühlen haben wie Münzen zu dem Brot, das sie kaufen. »Armer Vater!« dachte sie. »Ich Arme! Armer Jon! Aber einerlei, ich muß ihn haben!« Von dem Fenster des verdunkelten Zimmers sah sie »jenen Mann« aus der Tür unten treten und sich entfernen. Wenn er ihre Mutter – wie würde das auf ihre Aussichten wirken? Sicherlich würde es ihren Vater noch enger an sie binden, so daß er schließlich in alles einwilligen würde, was sie wünschte, oder sich schneller mit dem versöhnen, was sie ohne sein Wissen tat.

Sie nahm etwas Erde aus dem Blumenkasten im Fenster und warf sie mit aller Kraft der verschwindenden Gestalt nach. Es traf nicht, aber die Handlung tat ihr wohl.

Und aus der Green Street kam ein leiser Lufthauch, gar nicht süß, der nach Petroleum roch.


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