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Neuntes Kapitel

Unter der Eiche

Als ihr Besucher sich entfernt hatte, standen Jon und seine Mutter schweigend da, bis er plötzlich sagte:

»Ich hätte ihn hinausbegleiten sollen.«

Aber Soames war bereits auf dem Fahrweg, und Jon ging in das Atelier seines Vaters hinauf und wagte sich nicht zurück.

Der Ausdruck im Gesicht seiner Mutter, als sie dem Manne gegenüberstand, mit dem sie einst verheiratet war, hatte seinen Entschluß besiegelt, den er gefaßt, seit sie ihn in der vorigen Nacht verlassen hatte. Er war der letzte Anstoß dazu. Fleur zu heiraten, wäre ein Schlag ins Gesicht für seine Mutter, hieße seinen toten Vater betrügen! Er konnte es nicht tun! Jons Natur war durchaus nicht nachtragend. Er grollte seinen Eltern nicht in diesen Stunden des Schmerzes. Für seine Jugend besaß er eine merkwürdige Gewalt, die Dinge in einem gewissen Verhältnis zueinander zu sehen. Es war schlimmer für Fleur, sogar schlimmer für seine Mutter, als es für ihn war. Härter als aufzugeben war, aufgegeben zu werden oder die Ursache dazu zu sein, daß jemand, den man liebte, etwas aufgeben mußte. Er durfte nicht, wollte nicht grollen! Während er dort stand und die langsam untergehende Sonne beobachtete, hatte er wieder die plötzliche Vision von der Welt, die er in der Nacht vorher gehabt. Meere über Meere, Land über Land, Millionen von Leuten, alle mit ihrem eigenen Leben, ihren Kräften, ihren Freuden, ihrem Kummer und Leid – alle mit Dingen, die sie aufgeben mußten, und jeder mit seinem besonderen Kampf ums Dasein. Selbst wenn er bereit wäre, alles sonst für das eine aufzugeben, das er nicht haben konnte, wäre er ein Narr, zu glauben, daß seine Gefühle viel zu sagen hätten in einer so großen Welt, und sich zu benehmen wie ein Schreibaby oder ein schlechter Kerl. Er stellte sich die Menschen vor, die nichts besaßen – die Millionen, die ihr Leben im Kriege gelassen, die Millionen, denen der Krieg das Leben gelassen und sonst nur wenig; die hungernden Kinder, von denen er las, die verstümmelten Männer, Leute in Gefängnissen, alle Arten von Unglücklichen. Doch – es half ihm nicht viel. Wenn man nichts zu essen hatte, welch ein Trost war es, zu wissen, daß es andern ebenso ging? Der Gedanke, von hier fortzukommen, in die weite Welt hinaus, von der er noch nichts kannte, war eher eine Ablenkung für ihn. Er konnte nicht weiter hier bleiben, gehegt und beschützt, wo alles so bequem und schön war, und nichts zu tun als zu grübeln und daran zu denken, was hätte sein können. Er konnte nicht zurück nach Wansdon mit den Erinnerungen an Fleur. Wenn er sie wiedersah, konnte er sich nicht trauen; und wenn er hier blieb oder dorthin zurückging, würde er sie sicher sehen. Solange sie einander erreichbar waren, mußte es dazu kommen. Weit fort zu gehen, und zwar rasch, war das einzige, was er tun mußte. Doch so sehr er seine Mutter auch liebte, wünschte er nicht, mit ihr fortzugehen. Dann aber hatte er das Gefühl, brutal zu sein, und beschloß verzweifelt, ihr vorzuschlagen, mit ihm nach Italien zu gehen. Zwei Stunden lang versuchte er, in dem melancholischen Raum sich zu beherrschen, dann zog er sich feierlich zum Essen an.

Seine Mutter hatte es ebenfalls getan. Sie aßen wenig, und sie sprachen über den Katalog seines Vaters. Die Ausstellung war für Oktober bestimmt, und außer einigen schriftlichen Einzelheiten war nichts mehr zu tun.

Nach dem Essen zog sie einen Mantel an, und sie gingen hinaus, unterhielten sich eine Weile und blieben schließlich schweigend unter der Eiche stehen. Von dem Gedanken geleitet: »Wenn ich mir etwas merken lasse, merkt sie alles«, schob Jon seinen Arm unter den ihren und sagte wie zufällig:

»Laß uns nach Italien gehen, Mutter.«

Irene drückte seinen Arm und sagte ebenso:

»Das wäre sehr schön, aber ich dachte, du müßtest mehr sehen und mehr tun, als du es würdest, wenn ich mit dir wäre.«

»Aber dann bliebst du allein.«

»Ich war einst mehr als zwölf Jahre allein. Außerdem wäre ich gern zur Eröffnung von Vaters Ausstellung hier.«

Jons Griff um ihren Arm ward fester, er ließ sich nicht täuschen. »Du kannst nicht ganz allein hierbleiben, das Haus ist zu groß.«

»Nicht hier vielleicht. In London aber, und ich könnte nach Paris gehen, wenn die Ausstellung eröffnet ist. Du müßtest mindestens ein Jahr für dich haben, Jon, und die Welt sehen.«

»Ja, ich würde gern die Welt sehen und mich durcharbeiten. Aber ich möchte dich nicht ganz allein lassen.«

»Mein Lieber, das wenigstens bin ich dir schuldig. Es ist zu deinem Besten und zu dem meinen. Warum nicht morgen aufbrechen? Du hast ja deinen Paß.«

»Ja, wenn ich gehe, wäre es das beste, es gleich zu tun. Nur – Mutter – wenn – wenn ich mich entschließen sollte, irgendwo draußen zu bleiben – in Amerika oder sonstwo, würdest du dann später nachkommen?«

»Wann und wohin du mich haben willst. Aber schreibe nicht nach mir, bis du mich wirklich brauchst.«

Jon holte tief Atem.

»Ich finde England erstickend.«

Sie blieben noch ein paar Minuten unter der Eiche stehen und blickten in die abendlich verhüllte Ferne. Die Zweige verbargen das Mondlicht vor ihnen, so daß es nur auf die Felder und weit dahinter fiel, auch auf die Fenster des umrankten Hauses, das bald zu vermieten sein würde.


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