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Früh am Morgen hatte Forbeck sich erhoben, um vor seinem Gang nach Hubertus noch einige Stunden für die Arbeit zu gewinnen. Er öffnete das Fenster und rückte die Leinwand in das beste Licht. Er nahm auch die Palette. Doch als er vor das Bild trat und den Blick auf die leuchtende Mädchengestalt heftete, die vor ihm zu leben schien, umschimmert von einem letzten Sonnenstrahl, den das ausbrechende Unwetter schon zu ersticken droht – da schien er seine Arbeit wieder zu vergessen. Er hörte nicht, daß Mali die Stube betrat, um das Frühstück zu bringen. Erst als die Tasse klirrte, erwachte er und nickte zerstreut einen Gruß, den Mali nicht erwiderte. In Hast verließ sie die Stube. Forbeck hüllte die Leinwand in ein weißes Tuch, legte den Malkasten auf den Tisch und machte sich zum Ausgang fertig, ohne das Frühstück zu berühren. Im Flur begegnete ihm Mali mit dem kleinen Netterl auf den Armen.
»Wenn jemand von Schloß Hubertus kommt, um meine Geräte zu holen,« sagte er, »ich habe droben alles bereitgestellt. Und bitte, sagen Sie dem Diener –« Da verstummte Forbeck und sah erschrocken in das Gesicht des Mädels.
Mali sah aus wie ein Gespenst ihrer selbst. Der Ausdruck eines trostlosen Kummers lag auf ihren vergrämten Zügen, und dunkle Ränder zogen sich um die Augen.
»Was ist Ihnen?« fragte Forbeck. »Sind Sie krank?«
Mali schüttelte den Kopf. »Bloß a bißl übernächtig bin ich, 's Kindl hat mich net schlafen lassen.« Sie trat in die Stube.
Forbeck verließ den Brucknerhof, folgte einem Pfad, auf den ihn der Zufall führte, und irrte zwei Stunden in dem Wald umher, der den Park von Schloß Hubertus umgab. Immer wieder geriet er in die Nähe des Tores, stand unschlüssig, warf einen Blick auf die Uhr und wandte sich wieder in den Wald zurück. Endlich ging es auf die zehnte Stunde. Mit dem ersten Glockenschlag, der von der Dorfkirche herübertönte, trat Forbeck in den Park. Als er sich dem Adlerkäfig näherte, begegnete ihm Moser mit einer blutfleckigen Holzschüssel; der Alte war am Morgen mit dem Wildtransport von der Jagdhütte heruntergekommen, hatte Roberts Brief zur Post getragen, die Arbeit in der Zwirchkammer erledigt und brachte nun den Adlern die rohe Wildleber zum Futter. Mit Gönnermiene nickte er dem jungen Künstler zu: »Die Damen sind schon bei die Malersachen im Park hint und warten!« Die Adler hatten die ihnen wohlbekannte Schüssel bereits gewahrt und flatterten hinter dem Gitter lärmend durcheinander, so daß sich vom Boden des Käfigs eine schmutzige Wolke erhob. Während Moser das Gitter öffnete, beschleunigte Forbeck den Schritt – der Anblick des Käfigs hatte immer peinlich auf ihn gewirkt, und das blutige Menageriegeschäft, das er den alten Jäger üben sah, mehrte in ihm noch das Gefühl des Widerwillens. Als der den offenen Platz vor dem Schloß erreichte, verschlang sein irrender Blick die Blumenbeete, das zitternde Lichterspiel im Gezweig der Bäume und den blitzenden Tropfenfall der rauschenden Fontäne.
»Wie schön! Und heute zum letztenmal!«
Da hörte er die Stimme der Kleesberg und sah auf dem Rasen die Staffelei mit der Leinwand bereits aufgestellt. Kitty und Tante Gundi standen vor dem Bild, und Forbeck, während er näher kam, hörte noch ein wortreiches Stück der begeisterten Rede, mit der die Kleesberg dem in Schweigen versunkenen Mädchen die »unglaublichen Fortschritte« der Arbeit pries. So aufmerksam Kitty auch lauschte, sie vernahm doch den Schritt, der sich näherte. »Er kommt!«
Tante Gundi begrüßte den jungen Künstler mit erregter Herzlichkeit, und als ihr Forbeck, der nicht zu sprechen vermochte, die Hand küßte, sah sie so verträumt auf ihn nieder, als wären ihre Gedanken weiß Gott in welcher Ferne und vergangenen Zeit.
Bei Kitty war die Begrüßung schneller abgetan; eins vermied den Blick des andern. Während Kitty langsam auf den Sessel zuging, um ihre Stellung einzunehmen, fand Gundi Kleesberg ihre Fassung wieder. »Beginnen Sie nur gleich mit der Arbeit!« mahnte sie. »Die letzte Sitzung! Da müssen wir die Zeit noch gut benützen.« Das klang, als wäre auch ihr bei dieser letzten »Sitzung« eine wichtige Rolle zugewiesen. Sie griff nach ihrem Buch und ließ sich auf die Rohrbank nieder, die heute dicht neben die Staffelei gerückt war. »Es stört Sie doch nicht, wenn ich so nahe sitze?«
»Gewiß nicht!« Die Palette zitterte in Forbecks Hand, während er die Farben aus den Tuben drückte; dann trat er vor die Leinwand. Die Falten an Kittys Kleidern waren einer Korrektur bedürftig. »Gestatten Sie?«
»Oh, bitte!«
Als er zurücktrat und das Werk seiner zitternden Hände einer letzten Musterung unterzog, verirrten sich seine Augen bis zu Kittys glühendem Gesichtchen, und da tauchte Blick in Blick, so seltsam erschrocken, als sähe eines im anderen ein unbegreifliches Rätsel.
Wie ein Träumender ging er zur Staffelei zurück und begann die Arbeit. Lautlose Minuten. Ab und zu das Gezwitscher eines Vogels. Und manchmal knisterte es leise, wenn Gundi Kleesberg ein Blatt ihres Buches umschlug. Es schien ihr mit dem Lesen nicht sonderlich ernst zu sein. Immer wieder glitt ihr Blick zu Forbeck hinüber. Endlich klappte sie das Buch zu. »Sind Sie bei der Arbeit immer so schweigsam? Sie haben es wohl nicht gern, wenn geplaudert wird?«
Forbeck erwachte aus seiner Verlorenheit. »Im Gegenteil, ich bin seit Jahren gewohnt, mit Werner zusammen zu arbeiten. Wir haben immer was zu plaudern.«
»Wie lange leben Sie schon in München?«
»Seit vierzehn Jahren, seit Werner mich in sein Haus nahm.«
»Ja, richtig, Sie erzählten uns neulich, daß Sie – mit Professor Werner verwandt wären?«
»Aber Tante Gundi!« rief Kitty von ihrem Sessel herüber. »Herr Forbeck erzählte das Gegenteil, auf der Veranda, als uns Tas diese merkwürdige Ähnlichkeit erklärte.«
»Diese Ähnlichkeit –« lispelte Gundi Kleesberg vor sich hin.
In Kitty war, als sie den Namen des Bruders ausgesprochen hatte, der Gedanke erwacht, daß Tassilo vielleicht in dieser Stunde vor dem Vater stünde, ringend um sein Glück. Ihre Augen suchten die Berge, und unter einem Seufzer zog sie die beiden Daumen ein.
»Sagten Sie nicht auch, daß Professor Werner Sie erziehen ließ?« begann die Kleesberg von neuem ihr Verhör.
»Ja, gnädiges Fräulein. Was aus mir geworden, verdanke ich Werner. Ich war neun Jahre alt, als er mich fand.«
»Als er sie fand? Er wußte von Ihrer Existenz und suchte Sie?«
»Nein. Werner wußte früher von mir sowenig wie ich von ihm. Er hat meine Eltern nie gekannt. Das waren arme Leute in einem kleinen Dorf, und sie waren nicht mehr jung, als ich geboren wurde. Ich hatte noch drei Geschwister. Sie starben vor meiner Geburt.« Ein Schatten tiefer Schwermut legte sich über Forbecks Züge. »Ich hatte keine glückliche Kindheit.« Verstummend sag er auf die Palette nieder, während er eine Farbe mischte. In seiner Erinnerung tauchte das Bild einer ärmlichen Stube auf, mit verwahrlostem Gerät; ein vierjähriger Bub, in Lumpen gehüllt, kauerte hinter dem Herd, auf dem die Mutter sitzt, mit verdrossenem Faltengesicht, die irdene Kaffeetasse in der Hand; schweigend leert sie eine Tasse um die andere, bis sie draußen schwere Tritte poltern hört; nun versteckt sie das Geschirr, und der Vater stolpert in die Stube, betrunken, mit glasigen Augen. Ein Fluch ist sein Gruß, und der Bub im Herdwinkel beginnt zu zittern; er weiß, was ihm bevorsteht.
Forbeck richtete sich auf, als möchte er diese Erinnerung gewaltsam von sich abwerfen.
»Sie haben Ihre Eltern früh verloren?« fragte Gundi Kleesberg bewegt, während Kitty lautlos saß, mit erblaßtem Gesicht.
»Meine Mutter starb, als ich noch nicht fünf Jahre alt war. Ein paar Monate später verunglückte mein Vater.« Wieder verstummte Forbeck. Vor seinen Gedanken stand das Bild jenes Abends, an dem der Vater nicht wie sonst nach Hause kam. Bei sinkender Nacht brachte man ihn getragen, Leute drängten sich in die Stube, alle kreischten durcheinander; das dauerte nicht lange; die Leute verliefen sich wieder, und neben der Asche hockte der kleine Bub im Herdwinkel und spähte furchtsam nach dem Heubett, von dem die Wassertropfen herunterfielen. Stunde um Stunde verging, und der Schläfer lag immer unbeweglich; er schnarchte auch nicht. Vom Hunger getrieben, kam der Bub aus seinem Winkel hervorgeschlichen. Er sah den Vater in triefenden Kleidern liegen; die nassen Haare hingen über die offenen Augen. So, mit diesen bläulichen Lippen, so unbeweglich war vor einem halben Jahr die Mutter auf dem gleichen Bett gelegen. An allen Gliedern zitternd, in der ziellosen Furcht, die der Tod auch in jenen erweckt, die ihn nicht erkennen, rannte das schreiende Kind aus der Stube und verbrachte die Nacht unter freiem Himmel auf der Hausbank. Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war: Wer wird mich morgen schlagen?
Mit erschrockenen Augen hing Kitty an Forbeck, als wäre in ihr eine Ahnung der harten Kindheit erwacht, die hinter seinen kargen Worten verborgen lag. Und Gundi Kleesberg sagte bedrückt: »So früh verwaist! Wer sorgte für Sie, als Ihre Eltern gestorben waren?«
»Niemand. Zwei Jahre lebte ich –« Eine leise Bewegung der Schultern vollendete den Satz. »Dann durfte ich Gänse hüten. Und da kamen bessere Zeiten. Man gab mir Unterkunft im Gemeindehaus, ich bekam täglich zu essen und empfand so etwas wie Freude. Der Wald, die Wiesen, der Bach, die Sonne, das war mein Reichtum, aus dem ich immer schöpfte. Die Einsamkeit reifte meinen Kinderverstand, ich begann und denken, begann mein Leben mit dem Leben anderer Kinder zu vergleichen. Neid hab' ich nie empfunden. Aber immer war in mir eine Sehnsucht, die mir fast das Herz verbrannte.«
Gundi Kleesberg mußte sich plötzlich ihres Wortes von der »guten Kinderstube« erinnern.
»Oft lag ich lange Stunden, das Gesicht ins Gras gedrückt. Wenn ich mich müde geweint hatte, begann ich zu träumen,. begann mit dem Finger oder mit einem Reis in den Sand zu zeichnen, mit Kohle auf die Stallwände, Ställe und Scheunen. Ich zeichnete Häuser mit Gärten, zeichnete meine Gäns und die anderen Tiere, den Kirchturm mit der Sonne darüber, den lieben Gott und den Teufel. Und schließlich versuchte ich die Menschen nachzubilden.«
Forbeck schwieg – die feinen Linien des unter dem Gewandsaum hervorlugenden Füßchens, an dem er gerade malte, nahmen seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Es währte eine Weile, bis er wieder zu erzählen anfing: »Meine Kritzeleien begannen im Dorfe von sich reden zu machen, in einer Weise, die mir nicht erfreulich war. Die Besitzer der schönen weißen Mauern waren nicht gut auf mich zu sprechen.« Er lächelte. »Ich mußte mich früh daran gewöhnen, für meine Kunst zu leiden.« Nun schwieg er und arbeitete mit doppeltem Eifer, als wüßte er nichts mehr zu erzählen.
Die Kleesberg war mit diesem Schluß nicht einverstanden. »Und – wie kam das? Mit Professor Werner?«
»An einem Sommertag – auf der Bachwiese lag ich zwischen meinen Gänsen im Gras – da sah ich nicht weit von mir einen fremden Mann stehen, in städtischer Kleidung –«
»Werner?« stammelte Gundi Kleesberg.
Forbeck nickte. »Der breite Hutrand warf einen dunklen Schatten über das schmale Bartgesicht, in dem zwei Augen glänzten, über die ich mich wundern mußte, ich weiß nicht, warum. Nie hatte ich ein gutes Wort gehört, nie einen freundlichen Blick empfangen. Der fremde Mann da, vor dem ich mich zuerst ein bißchen fürchtete, das war der erste Mensch, der mich ansah in herzlichem Erbarmen. Lange stand er so vor mir, ohne ein Wort zu sagen. Dann ging er auf mich zu –«
Forbeck sah wie ein Erwachender auf – von der Ulmenallee klang die schreiende Stimme des alten Büchsenspanners, dazu eine schrille Mädchenstimme. Kitty ließ sich vom Sessel heruntergleiten, während Gundi Kleesberg stumm in sich versunken saß. Das Geschrei wurde lauter. Nun kam der Diener vom Schloß herübergelaufen.
»Fritz? Was ist denn?«
»Moser hat am Adlerkäfig die Tür nicht versperrt, und der Steinadler, den der gnädige Herr vor drei Jahren aus der Bärenwand herunterholte, ist ausgeflogen. In der Allee sitzt er auf einer Ulme.«
»Ach du lieber Himmel! Wenn Papa das erfährt!« stammelte Kitty. »Kommen Sie, Herr Forbeck! Der Adler muß wieder eingefangen werden. Oder es gibt einen bösen Tag für uns alle, wenn Papa heimkommt!«
Forbeck hatte schon die Palette aus der Hand geworfen und rannte mit Kitty und Fritz nach der Ulmenallee.
Gundi Kleesberg ermunterte sich aus ihrer Verstörtheit und fuhr mit beiden Händen nach ihrer Frisur, als wäre der Adler schon in Greifnähe ihrer Zöpfe. Dabei schien auch in ihr das Gefühl zu erwachen, daß es auf der Welt ein Wesen gäbe, das sie zu beschützen hätte. »Kitty! Kitty!« Sie sah die Komtesse mit Forbeck um die Ecke des Schlosses verschwinden und schrie in Sorge: »Aber Kinder!«
Die beiden hörten nicht. Atemlos erreichten sie die Allee und sahen unter einer Ulme vier schreiende Menschen stehen: die Beschließerin, Roberts Stallburschen, eine Jungfer und den alten Moser. Mit kalkweißem Gesicht kam ihnen Moser entgegengelaufen.
»Aber Moser!« jammerte Kitty. »Was haben Sie denn angestellt! Papa wird wütend sein, wenn er das hört.«
»Auf Ehr und Seligkeit, ich hab kei Schuld net!« keuchte der Alte. »Und gar net denken kann ich mir, wie 's Unglück passiert is! Ich hab den Schlüssel umdreht, und da hör ich mein Namen rufen, und wie ich mich umschau, steht 's Zauner-Lieserl in der Allee. Auf Ehr und Seligkeit, 's Lieserl wird mir bezeugen können – und ›Mar' und Josef, den Vogel schau an!‹ schreit 's Madl. Und wie ich zum Käfig hinschau, hab ich gmeint, mich trifft der Schlag! 's Türl steht sperrangelweit offen, und der Adler hupft auf der Allee umanand. Wie der Teufel bin ich auf'n Käfig zu, und grad hab ich 's Türl noch zubracht, daß net einer von die andern auch noch aussi fliegt. D' Joppen hab ich abgrissen und bin dem Adler nach. Da fangt er 's Fludern an, und richtig kommt er auffi bis auf'n Baum! Da schauen S', Konteß, da sitzt er droben!«
In halber Höhe des Baumes saß der Adler auf einem Ast, die Fänge weit gespreizt, den flachen Kopf zwischen die Flügel geduckt. Mit blitzenden Augen spähte er bald zur Sonne hinauf, bald wieder hinunter auf das Häuflein Menschen, die ratlos durcheinander schrien.
»Was fang ich denn an? Herr Jesus, Jesus!« klagte Moser. »Der gnädige Graf, der jagt mich zum Teufel, wann der Vogel hin is!«
»Vor allem sollen sich die Leute ruhig verhalten!« sagte Forbeck. »Jeder Lärm muß den Vogel noch scheuer machen, als er schon ist.«
Kitty befahl energisch: »Ruhe!« Schweigen trat ein, aber vom Schloß herüber hörte man den Jammerschrei der Kleesberg: »Kitty! Kitty!« Das klang immer näher, niemand kümmerte sich drum, alle spähten nach dem Adler.
»Der Vogel kennt die Kraft seiner Schwingen nicht,« sagte Forbeck zu Kitty, »sonst würde er nicht so ruhig sitzen. er ist an die Gefangenschaft gewöhnt. Wenn wir ihn aufstören, wird er zu Boden flattern. Ihn mit den Händen zu packen, das möchte übel ausfallen. Mit einem Netz vielleicht –«
»Fritz! Das große Forellennetz! Und eine Leiter!« befahl Kitty.
Der Diener rannte mit dem Stallburschen davon.
»Mißlingt die Sache, so wird nichts anderes übrigbleiben, als den Vogel durch einen Schuß zu töten. Wenn er über die Parkmauer hinausflattert und ins Dorf gerät –«
»Was? Den Adler erschießen?« stotterte Moser. »Net um d' Welt! Mar' und Josef, was möcht der Herr Graf sagen!«
»Herr Forbeck hat recht. Was Herr Forbeck anordnet, hat zu geschehen!« entschied Kitty mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete. »Ich werde die Sache bei Papa verantworten. Schnell, Moser, holen Sie ein Gewehr!«
Moser schüttelte den Kopf und ging.
»Kitty! Kitty!« Tante Gundi erschien mit ausgebreiteten Armen in der Ulmenallee.
»Fräulein von Kleesberg ist in Sorge,« sagte Forbeck und faßte Kittys Hand, »ich glaub' auch, es wäre besser, wenn Sie sich entfernen wollten, bis die Sache vorüber ist.«
Mit großen Augen sah ihn Kitty an. »Nein. Ich bleibe bei Ihnen. Angst hab' ich nicht.«
In Verzweiflung kam Gundi Kleesberg herbeigestürzt und umklammerte Kittys Arm. »Fort! Fort! Bist du von Sinnen? Was hast du hier zu schaffen?« Sie sah den Adler, der in verdächtiger Unruhe den Hals streckte. Aufkreischend suchte sie Kitty mit Gewalt von der Stelle zu reißen.
»Aber Gundi! Ich bin doch kein Kind mehr! Da ist wahrhaftig keine Gefahr. Herr Forbeck ist doch bei uns!«
»Ich bitte, gehen Sie!« fiel Forbeck ein. »Sie sehen, in welcher Sorge Fräulein von Kleesberg ist.«
»Fort! Fort! Hörst du denn nicht? Herr Forbeck bittet dich!«
Einen Augenblick sträubte Kitty sich noch. Dann sagte sie: »Gut, ich gehe. Aber dann haben auch Sie keine Veranlassung, hierzubleiben. Moser soll allein sehen, wie er seine Dummheit wieder gutmacht. Kommen Sie, Herr Forbeck.« Sie streckte die Hand nach ihm.
Da kam der Diener mit dem Netz gelaufen, und der Stallbursche brachte eine hohe Leiter. »Seien Sie vorsichtig,« rief Forbeck dem Burschen zu, der die Leiter aufzurichten versuchte, »stoßen Sie mit der Leiter an keinen Ast!«
Die Warnung kam zu spät. Dem Adler schien die Sache nicht mehr geheuer. Er breitete die Schwingen aus. Des Fluges ungewohnt, vermochte er sich aus dem Gezweig der Ulme nicht hervorzuheben und kam ins Fallen.
»Jesus Maria!« kreischte die Beschließerin. Und die Jungfer schrie: »Der Adler! Konteß, der Adler!« Krachend stürzte die Leiter zu Boden, die dem Stallburschen im Schreck aus den Händen geglitten war. Gundi Kleesberg stieß einen hellen Schrei aus, und Kitty, als sie das erblaßte Gesichtchen hob, sah den taumelnden Vogel schon dicht über ihrem Kopf. Alle Stimmen schrillten, und Moser kam mit einer Flinte durch die Allee gerannt. Die Schwingen des Adlers trafen schon im Niederschlagen Kittys Arm, und seine Fänge streckten sich, um an ihrer Schulter einen Halt zu finden. Da warf sich Forbeck mit ersticktem Laut über Kitty, und während sie unter dem Stoß zu Boden taumelte, haschte er mit beiden Händen die eine Schwinge des Vogels und riß ihn seitwärts. Mit wütender Kraft wehrte sich der Adler, und Forbecks Kopf und Schultern verschwanden unter dem Gewirbel der mächtigen Flügel. Gundi Kleesberg, totenbleich, griff mit den Händen in die Luft. »Forbeck! Herr Forbeck!« Wie eine Wahnsinnige stürzte sie auf den Bedrohten zu. Mit der einen Hand griff sie nach der Brust des Adlers, mit der anderen faßte sie seinen Hals. »Um Herrgotts willen! Fräuln! Jesses! Was machen S' denn!« kreischte Moser und warf die Flinte ins Gras. »Zruck, sag ich! Auslassen!« Er riß das Netz aus den Händen des Dieners und warf es über den mit Schwingen und Fängen schlagenden Vogel. Für ein paar Augenblicke bildeten die drei Menschen mit dem Adler einen wirren Knäuel –doch ehe Kitty sich erhoben hatte und aus den Händen der schreienden Jungfer sich loszureißen vermochte, lag der vom Netz umwickelte Adler schon auf der Erde und unter Mosers Knien.
Erblassend flog Kitty auf Forbeck zu. Die Weste war ihm von der Brust gerissen, und in Fetzen hing ein Ärmel von der Schulter. »Sind Sie verwundet?«
Forbeck betrachtete lachend seine Hände und griff an seinem Arm herum. »Ich glaube nicht –« Da sah er die Kleesberg und erschrak.
Zitternd, das Gesicht von mehliger Blässe, stand sie vor ihm, als begriffe sie nicht, was geschehen war und was sie getan; ihr Kleid war verwüstet, die Zöpfe hingen auf die Schulter, und aus dem engen Seidenärmel quollen rote Tropfen.
»Tante Gundi!« stammelte Kitty. Und Forbeck: »Fräulein! Um Gottes willen! Was ist Ihnen geschehen?«
Die Kleesberg erwachte, sah verstört an sich hinunter, und als sie die roten Tropfen auf ihrem Arm gewahrte und zwei dünne Blutlinien über ihre Finger schleichen sah, machte sie die Augen zu und setzte sich auf den Boden.
Alle drängten sich um die Bewußtlose, während Moser sich noch immer mit dem Adler balgte, dessen wilde Kraft auch durch die zusammengeschnürten Maschen des Netzes nicht völlig gebändigt wurde.
Forbeck war der erste, der nach dem Schreck die Besinnung wiederfand, und alle fügten sich seinen Anordnungen. Der Stallbursche rannte davon, um den Arzt zu holen, und die Jungfer lief in das Schloß, um in Fräulein von Kleesbergs Zimmer alles zu richten. Forbeck und Fritz hoben die Bewußtlose auf und trugen sie ins Haus; dabei stützte Kitty mit zitternden Händen Tante Gundis blutenden Arm, und die Tränen rannen ihr über die blassen Wangen.
Es war eine schwere Mühe, die Ohnmächtige über die Treppe hinaufzubringen und auf das Bett zu heben. Während Kitty und die Jungfer bei Gundi Kleesberg blieben, stieg Forbeck mit dem Diener in den Flur hinunter. Hier mußte Forbeck es sich gefallen lassen, daß ihm Fritz den Staub und Flaum von den Kleidern bürstete und mit Stecknadeln an der Weste und an den Ärmeln die Risse schloß; Forbeck schien nicht zu sehen, nicht zu hören; als ihn der Diener freigab, trat er auf die Veranda hinaus.
In der Ulmenallee krachte ein Schuß. Fritz rannte an Forbeck vorüber, kam nach einer Weile zurück und berichtete: »Der Adler mußte erschossen werden, die linke Schwinge war gebrochen. Auch meinte Moser, daß die Risse, die das arme Fräulein bekam, nicht heilen würden, wenn das Tier am Leben bliebe. Die Leute hier sind schrecklich abergläubisch.«
Der Doktor kam, und Forbeck blieb eine Viertelstunde allein. Dann hörte er einen flinken Schritt im Flur. Eine Blutwelle schoß ihm ins Gesicht.
Kitty erschien auf der Schwelle. »Ich bin nur schnell heruntergehuscht, um Sie zu beruhigen. Der Doktor meint, daß die Wunden bald wieder heilen würden. An zwei Stellen des Armes sind die scharfen Klauen tief ins Fleisch gedrungen, aber glücklicherweise sind die Wunden nicht ausgerissen.« Sie schöpfte Atem. »Mir ist ein Stein vom Herzen. Auch die arme Gundi ist schon ein bißchen ruhiger. Wie das nur kommen konnte? Vor einer halben Stunde diese glückliche Stille! Und jetzt –«
Forbeck sah zu Boden. Auch Kitty schwieg. Wie in drückender Schwüle bewegte sie die Schultern und streifte die schimmernden Löckchen von der heißen Stirn. »Und ganz unbegreiflich ist das mit Tante Gundi! Sonst die hilflose Ängstlichkeit! Und plötzlich dieser Mut –«
»Fräulein von Kleesberg hat Sie lieb und war in Sorge.«
»Um mich? Aber ich war doch –« Kitty verstummte. Vor den Stufen der Veranda sah sie den alten Moser stehen, mit dem Hut in der Hand, ein Bild der tiefsten Zerknirschung. »Moserchen! Moserchen!«
Der alte Jäger schien den ganzen Vorwurf dieser verkindlichten Namensform zu erfassen; seine Gestalt schrumpfte zusammen, und wie gesenkte Trauerfähnchen hingen ihm die Schnurrbartspitzen über die Mundwinkel.
In Kitty regte sich das Mitleid. »Was machen wir jetzt? Papa darf die Wahrheit nicht erfahren. Um Ihretwillen.«
Scheu blickte der Alte auf, Hoffnung und Zweifel in den zwinkernden Augen. »Sie haben halt a guts Herzl! Aber da wird sich 's Verheimlichen scher machen. Der Adler beim Teufel, und 's alte Fräulen net weit davon – Mar' und Josef! Und grad der Bärenwandadler, den der Herr Graf am liebsten ghabt hat, weil er ihn am härtesten kriegt hat! Wann der Herr Graf hört, daß der Adler hin is – meiner Seel, dös überleb ich net.«
»Seien Sie ruhig, Moser! Was geschehen ist, können wir nicht mehr ändern. Aber Ihnen muß geholfen werden. Kitty faßte den Arm des Alten und flüsterte ihm ins Ohr: »Schieben Sie nur alles auf mich!«
»Um Gotts willen, Konteß! Net um die ganze Welt!«
»Ich weiß keinen anderen Ausweg. Mich kann Papa nicht davonjagen. Ich werde ihm schreiben: ich hätte eine Krähe geschossen, hätte sie in den Käfig werfen wollen, und da wäre das Unglück passiert. Über alles weitere können wir dann die reine Wahrheit sagen. Still, Moser! Die Sache bleibt unter uns, da können Sie beruhigt sein! Den Adler wird Papa schwer verschmerzen. Aber er wird sich freuen, wenn er hört, daß ich die Krähe getroffen habe. Und weil wir schon lügen müssen, sagen wir gleich, daß ich sie im Flug geschossen. Dann verzeiht er mir alles!«
Diese Logik schien dem Alten einzuleuchten; er wollte noch einen schüchternen Widerstand versuchen, als Fritz auf der Veranda erschien: »Ich bitte, Konteß, Fräulein von Kleesberg verlangt nach Ihnen!«
Kitty wollte ins Haus und blieb erschrocken stehen. »Herr Forbeck!« Sie streckte ihm die beiden Hände hin, die er ungestüm ergriff.
Seine Augen brannten, und seine Lippen zuckten, als ränge, was ihm das Herz erfüllte, gewaltsam nach Sprache. Doch auf den Stufen der Veranda stand der Jäger – und Forbeck sagte mit erzwungener Ruhe: »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, um mir das günstige Urteil des Doktors mitzuteilen.«
»Das war doch selbstverständlich.«
Im Flur klang die Stimme der Jungfer, die von der Treppe dem Diener zurief: »Wo bleibt die Konteß? Das arme Fräulein droben ist außer sich vor Unruh.«
Ein müdes Lächeln, und zögernd löste Kitty die Hände. »Tante Gundi – Sie verzeihen –« Während sie zur Tür ging, tastete sie mit der Hand, als wäre sie von einer Schwäche befallen.
Forbeck sah sie verschwinden, wie ein Erwachender die Bilder einer traumseligen Nacht im kalten Grau des beginnenden Tages zerrinnen sieht – für immer.
»Ich bitte, Herr Forbeck,« fragte Moser, »soll ich Ihnen vielleicht die Malsachen heimtragen? Jetzt wird wohl ausgmalt sein?«
Der Alte redete diese Worte aus seiner ehrlichen Betrübnis heraus; Forbeck empfand ihren Doppelsinn wie einen schmerzenden Stich. Ohne zu antworten, ging er an Moser vorüber. Als er zur Staffelei kam, stand er lange in die Betrachtung des Bildes versunken. Dann deckte er hastig das Tuch über die Leinwand und schloß den Malkasten. Einen letzten Blick noch ließ er über den Rasen gleiten, über den leeren Armstuhl und über die Fenster des Schlosses, aus dessen Mauern die hundert Enden der mächtigen Hirschgeweihe hervorstarrten wie die Spitzen gefällter Lanzen.
Langsam ging er der Ulmenallee entgegen. Vor dem Adlerkäfig blieb er stehen. Scheu rückten die sechs Vögel auf den Stangen hin und her, lüfteten die Schwingen, hoben und duckten die Köpfe. Einer schwang sich gegen das Gitter, daß die Drähte rasselten, und ein anderer ließ sich von der Stange fallen und hüpfte schwerfällig auf dem Boden des Käfigs umher, über den die zerfaserten Reste der Wildleber ausgestreut waren, von Staub und Federn umwickelt.
»Mir scheint, die merken schon, daß der Kamerad nimmer da is!« sagte Moser, als er Forbeck einholte, in der einen Hand das verhüllte Bild, in der anderen den Malkasten.
Schweigend wandte Forbeck sich ab und folgte der Allee.
Als sie am Zaunerhaus vorüberschritten, stand das feine Lieserl im Garten hinter den Johannisbeerstauden und machte dem Jäger heimliche Zeichen. Moser drehte brummend das Gesicht zur Seite. Bis zum Dorfe murmelte er ununterbrochen vor sich hin, nach der Art bejahrter Leute, die im Zorn wie in der Freude laut zu denken pflegen.
Schon wollten die beiden in den Hof des Brucknerhauses treten, als ein junger Bauer von auffälliger Größe, mit einem Stiernacken über ungeschlachten Gliedern, an ihnen vorüberschritt, eine eiserne Brechstange auf der Schulter.
»Dös is der Pointner-Andres, dem 's Zaunerlieserl in d' Augen sticht!« sagte Moser, der bei Forbeck die Kenntnis des öffentlichen Dorfgeheimnisses vorauszusetzen schien. »Bis jetzt hab ich allweil gsagt: die zwei taugen net zueinander. Aber heut! Heut könnt ich ihr den Andres vergunnen. Der möcht ihr die unfürmigen Streich ghörig austreiben. Wissen S', der Andres is a guter dummer Kerl. Aber Spassetteln laßt er net mit ihm machen. Da haut er zu.«
Forbeck hörte nicht und ging an Bruckner, der aus der Scheune kam, ohne Gruß vorüber. Als er die Giebelstube erreichte, suchte er mit zitternden Händen ein Blatt hervor und schrieb in fliegender Hast einige Worte nieder.
Bruckner brachte die verhüllte Leinwand und den Malkasten.
»Ich bitte, Bruckner, tragen Sie diese Depesche auf die Post!«
»Ja, Herr!« Der Bauer nahm das Blatt. Da gewahrte er an Forbeck den zerfetzten Ärmel. »Is Ihnen was passiert?«
Forbeck schüttelte stumm den Kopf.
Zögernd verließ der Bauer die Stube.
Als die Tür geschlossen war, blieb Forbeck eine Weile unbeweglich stehen. Dann fiel er auf einen Sessel hin und vergrub das Gesicht in die Hände.