Ludwig Ganghofer
Schloß Hubertus
Ludwig Ganghofer

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16

Unter blauem Himmel, bei strahlendem Frühlingswetter fuhren die Kleesberg und Komtesse Kitty in einer mit drei Pferden bespannten Kalesche vom Albergo de' Cappuccini ab und durch Amalfi. Zwischen Lärm und Leben rollte der Wagen über die Piazza, an der Kathedrale vorüber und am Hafen entlang. Bei einer Wendung der Straße tauchten wie ein schimmerndes Märchenbild die weißen Häuser von Atrani auf.

Gundi Kleesberg, deren seidener Staubmantel im Meerwind flatterte, hielt mit beiden Händen Kittys Hand umschlossen und stammelte immer wieder: »Wie schön! Wie schön!«

Kitty schien nicht zu hören. Die schlanke, etwas voller gewordene Gestalt, von den schmiegsamen Falten eines schwarzen Kreppkleides umflossen, lag stumm in den Wagen zurückgelehnt. Der Schleier war über das Hütchen geschoben, und die schimmernden Löckchen umzitterten mit unruhigem Spiel das schmale, von einem Zug des Leidens durchgeistigte Gesicht. Manchmal bewegte Kitty leis die Schultern, als möchte sie, liebkost von der Wärme des blühenden Frühlingsmorgens, die Erinnerung an den kalten, trostlosen Winter auf Schloß Eggeberg von sich abwenden.

Vor ihren Gedanken stieg das Bild jener Einsamkeit auf, wie sie es hundertmal gesehen, wenn sie am Fenster stand: die kahlen Bäume des Schloßhügels, die plumpen Dächer der Wirtschaftsgebäude mit ihren knarrenden Windfahnen, die öden Weinberge mit den zu Stößen geschichteten Rebstöcken, der vereiste Fluß im Tal und über dem winterlichen Wald der graue Himmel mit seinen Schneewolken. Dazu in ihrer Seele die Erinnerung an die Kummertage von Hubertus und der Gedanke an den Vater, der über Elchhirschen und Bären seines Kindes vergaß, an die Mutter, deren Leidensgang und Schicksal sie nun kannte, an Tassilo und Anna, von deren Glück und Liebe sie geschieden war. Und zwischen diesen beglückenden Bildern klang in ihrem verschlossenen Herzen ruhelos ein schwermütiges und dennoch sehnsuchtsvolles Lied – die Erinnerung an einen, an den sie nicht denken sollte, nicht denken durfte.

Den stillen gleichförmigen Schneckengang dieser grauen Wintertage unterbrachen zwei Ereignisse. In der Weihnachtswoche traf Werners »Spätherbst« in Eggeberg ein, um die Kleesberg in einen andauernden Zustand unzurechnungsfähiger Ekstase zu versetzen. Und im März, an einem Sonntag, der ein bißchen Sonne hatte, kam Tante Gundi gleich einer glückselig Beschwipsten in Kittys Stübchen gezappelt, mit einem Zeitungsblatt, das sie wie eine Fahne schwenkte. »Kind! Das mußt du lesen! Du mußt! Komm her, Kind! Komm! Und lies, was da gedruckt steht! Schwarz auf weiß!«

Es war die Nachricht, daß Hans Forbeck für sein großes, »Der letzte Sonnenstrahl« betiteltes Gemälde, das der Liebling aller Besucher der Berliner Jahresausstellung war, die Goldene Medaille erhalten hatte.

Heiß flog es über Kittys schmächtige Wangen. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und brach in Schluchzen aus.

Von diesem Tag an entfaltete Gundi Kleesberg eine geheimnisvolle Tätigkeit. Briefe gingen, und Briefe kamen. Und immer häufiger begann die Kleesberg unter Seufzern und Kopfschütteln von dem »bedenklichen Aussehen des armen Kindes« zu sprechen. Graf Benno und die Gräfin suchten die wunderlich aufgeregte Dame zu beruhigen, und auch Kitty versicherte immer wieder, daß sie siech wohl fühle, und daß ihr nicht das geringste fehle. Aber täglich entdeckte Gundi Kleesberg an dem »armen Kind« ein neues Anzeichen, das den Ausbruch einer schweren Krankheit befürchten ließ. Hoch und teuer schwor sie, daß es ihre heilige Pflicht wäre, dem »drohenden Unglück« vorzubeugen. Schließlich gelang es ihr wirklich, mit ihrer Sorge auch Graf Benno und die Gräfin anzustecken. Dem ruhigen Naturell der beiden war jede übertriebene Ängstlichkeit fremd, aber sie konnte sich der Wahrnehmung nicht verschließen, daß Kittys Gesichtchen – obwohl gerade in diesen Wochen ihre Gestalt sich sichtlich entwickelte – von Tag zu Tag schmächtiger und blasser wurde, ihr Wesen immer stiller und gedrückter. Diesem seltsamen Widerspruch im »Habitus der Patientin« stand auch der alte, gutmütige Dorfarzt ratlos gegenüber, und er zog sich diplomatisch aus der Klemme, indem er die Berufung einer medizinischen Autorität als »empfehlenswert« bezeichnete. Gundi Kleesberg holte den Herrn Professor von der Bahn ab. Als sie mit ihm auf Schloß Eggeberg eintraf, zeigte sie bei aller schußligen Aufregung eine so zuversichtliche Miene, als hätte sie dem Professor Kittys Leidensgeschichte bereits geschildert und von ihm einen Rat gehört, der ihre Sorge verstummen machte. Und aufatmend nickte sie zu dem mit leisem Lächeln abgegebenen Votum des Professors: sofortige Luftveränderung, längerer Aufenthalt im südlichen Italien. Die ganze Nacht saß Gundi Kleesberg über dem schwierigen Brief an Graf Egge, und als das zustimmende Telegramm aus Hubertus eintraf, betrieb sie das Packen der Koffer mit einer Hast, die das ganze Schloß rebellierte.

Die Reise begann. Doch sonderbar! Seit Wochen hatte Tante Gundi sich in zärtlicher Sorge für Kitty und in ängstlichen, für das Wohl des »armen, kranken Kindes« bedachten Maßregeln erschöpft; über diese »aus Gesundheitsrücksichten« unternommene Reise schien sie aber eine merkwürdige Ansicht zu haben. Die Fahrt entwickelte sich zu einer wahren Hetzjagd. Zuerst in einer Eisenbahntour bis Genua. Gleich am folgenden Tage wieder weiter mit dem Dampfer. Und obwohl die Fahrt so stürmisch war, daß Tante Gundi einen Anfall von Seekrankheit bekam und ein paar Ruhetage dringend nötig gehabt hätte, wurde in Neapel unverzüglich das nach Capri gehende Schiff bestiegen.

Bei der Landung an der Marina Grande befand sich Gundi Kleesberg in einem Zustand so verstörter Ungeduld, daß Kitty, die bisher die ganze Hetze klaglos ertragen hatte, in Sorge zu fragen begann: »Aber Gundi? Was hast du nur?«

»Ich freue mich, Kind, ich freue mich!«

Als man im Wagen saß und über die schöne Bergstraße emporfuhr, drückte die Kleesberg immer wieder Kittys Arm an ihre Brust und beteuerte: »Hier sollst du gesund werden, du mein armes Herzkind! Ganz gesund! Das schwör ich!« Dabei guckte sie so erwartungsvoll über die Straße voraus und nach allen Seiten, als müßte sich mit jedem Moment ein wundersames Ereignis vollziehen. Diese hochgespannte, traumhafte Stimmung hielt an, bis Tante Gundi im Hotel Quisisana in die Federn sank. Doch am folgenden Morgen, als die Kleesberg von einem frühzeitig unternommenen Ausgang zu Kitty zurückkehrte, war ihre rosige Laune ins graue Widerspiel verwandelt. Sie schalt über den »wahnsinnigen« Professor, der sie und das »arme Kind« in diesen »von unangenehmen Menschen wimmelnde, meerumschlossenen steinernen Spucknapf« verbannt hätte. Von jedem kühlen Lüftchen behauptete sie, daß es den sicheren Tod brächte. Und als die linde Sonne kam, jammerte sie, daß man »zerschmelzen müsse in dieser afrikanischen Glut!« Am liebsten wäre sie gleich wieder abgereist. Erst nach langem Zureden vermochte Kitty ein paar Ruhetage zu erwirken.

Das gleiche sonderbare Launenspiel wiederholte sich nach der Ankunft in Sorrent: himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Zwischen den beiden Phasen lag eine von Gundi Kleesberg allein und geheim unternommene Wagenfahrt nach Cocumella, einer zwischen blühenden Orangengärten gelegenen Künstlerherberge. Als sie zurückkehrte, zappelt die Kleesberg atemlos in Kittys Zimmer und beteuerte: »Sei mir nicht bös, Kindchen, aber hier halt ich es nicht aus! Keinen Tag! Diese engen, trostlosen Mauergassen, dieser Schmutz, dieses Geschrei! Das ist, um zu verzweifeln! Ich hab's doch immer gesagt: Capri, Sorrent, das ist ein ganz unglaublicher Einfall! Hätte man auf mich gehört, wir wären direkt nach Ravello gegangen! Direkt!«

Kitty konnte sich zwar nicht erinnern, daß Gundi Kleesberg je einen solchen Vorschlag gemacht hätte; aber sie ergab sich in Geduld und ließ sich am folgenden Morgen wieder in den Wagen packen.

Müde traf man am Abend in Amalfi ein und ging bald zur Ruhe, um sich – wie Gundi sagte – »tüchtig auszuschlafen für den großen Tag«. Diese mystische Bezeichnung wurde nicht näher erklärt. Doch eine Stunde später, als Kitty schon in den weißen Kissen ruhte, kam die Kleesberg noch einmal zur Tür hereingeschlichen, umarmte Kitty mit stürmischer Zärtlichkeit und stammelte: »Morgen, mein liebes Kind! Morgen! Morgen!«

Die Nacht verging. Ein paarmal erwachte Kitty aus unruhigen Träumen, dann hörte sie aus der Tiefe herauf das Rauschen des Meeres, das melodische Geplätscher, mit dem die Wellen an die steinernen Dämme schlugen, und manchmal den verschwommenen Ruf eines Hafenwächters.

Durch das offene Fenster leuchteten aus dem Stahlblau des Himmels ein paar Sterne herein, die lebhaft funkelten. Allmählich dämpfte sich ihr Feuer, der blaue Grund begann sich zu lichten, und der Morgen kam, strahlend in Schönheit, mit Glanz und Duft.

Und da fuhren sie nun, während Amalfi und das Meer in der Tiefe langsam entschwanden, über die herrlichste aller Straßen empor, Gundi Kleesberg in neugespannter Erwartung, wie von einem Freudentaumel befallen, und Kitty versunken in genießendes Staunen und in ihre stillen Gedanken.

Langsam stieg der Weg zwischen den niederen Mauern der Zitronengärten, eröffnete für Augenblicke eine wundersame Fernsicht über die im Duft des Morgens blauende Küste von Salerno und lenkte mit klimmenden Serpentinen in das stundenlange Tal von Atrani ein. Der Straße zu Füßen lagen wie ein grüner, welliger See die ununterbrochen aneinandergereihten Orangenhaine, deren Bäume zugleich mit den roten Früchten die weißen Blüten trugen, das weite Tal mit herbem Wohlgeruch erfüllend. Verstohlen lugten aus dem Grün die Dächer einzelner Villen hervor; und über den höchsten Häusern, die wie weiße Punkte waren, schob sich ein Felshügel hinter dem andern hervor, immer ärmer an Grün, bis hinauf zu den kahlen Schrofen, mit denen der Mont'Angelo seine wuchtige Zinne in den Himmel streckte. Da droben waren nur noch die beiden Kontraste zu sehen: blendendes Sonnenlicht und blau verschwommener Schatten.

Im Wagen, der bei sachtem Trab der Pferde über die Straße emporrollte, war seit dem begeisterten Entzücken, in das die Kleesberg beim Anblick von Atrani ausgebrochen, keine Silbe mehr laut geworden. Kitty blickte mit trinkenden Augen über das schöne Tal, und in Tante Gundi schien, je mehr man sich der Höhe von Ravello näherte, um so merklicher jener Zustand der Unruhe wieder zu erwachen, der sie während der vergangenen Reisetage bei jeder Ankunft an einem neuen Ort befallen hatte.

Aus solcher Stimmung fuhr sie einmal auf und atmete tief, weil sie den Wohlgeruch empfand, der die Luft erfüllte. »Ach, dieser Duft! Orangenblüten und Myrte!« Zärtlich legte sie den Arm um Kittys Schultern. »Denk' nur, Kind, ich habe immer die Vorstellung, als wär' ich in der Kirche und hätte ein geschmücktes Bräutlein vor den Altar zu führen.«

Es zuckte schmerzlich um Kittys Mund.

Der Wagen bog in die letzte, steile Serpentine ein, auf deren Höhe sich schon der Campanile von Ravello und die brüchigen Zinnen des maurischen Tores zeigten. Neben der Straße erhoben sich die Trümmer einer alten, aus gewaltigen Blöcken gefügten Festungsmauer, und hinter diesem Klötzen erschien eine Ruine mit geborstener Kuppel; wirr verwobenes Schlinggewächs rankte sich um das graue Gemäuer, und leuchtend hingen die Blumen zwischen dem Grün.

Gundi Kleesberg ließ den feuchten Blick über Tag und Höhe gleiten. »Wie schön! Das alles hat Gott erschaffen, damit sich die Menschen ihres Lebens freuen möchten! Aber das wollen die Schafsköpfe nicht erkennen! Da zerstört der eine das Glück, das ihn der Himmel finden ließ, und der andere hat nicht den Mut, nach dem Geschenk zu greifen, das Gott ihm bietet, und macht sich elend fürs ganze Leben!«

Kitty sah verwundert auf. »Tante Gundi?«

»Ja, Kind! Sieh mich nur an! Mich altes, zweckloses Geschöpf! Auch ich war einmal jung wie du! Auch zu mir kam das Glück. Aber ich war zu feig, um es festzuhalten! Und ich hätte, um meinem Leben Inhalt und Wert zu geben, nur ein einziges Wort zu sprechen brauchen – ein Wort, wie es dein Bruder Tas zu seinem Vater sprach!«

Blässe rann über Kittys Gesicht.

»Und nun sieh mich an, Kind! Mich mit meinen Runzeln unter der Schminke! Mich! Mit allem, was über ein Frauenherz kommen kann an Schmerz und Reue! Nimm dir eine Warnung an mir! Du bist jung, bist schön und so herzensgut! Du verdienst das Glück. Wer weiß, ob es dir nicht begegnet bei deinem nächsten Schritt? Wenn es vor dir steht und lächelt dich an mit treuen Augen, dann sei nicht feige Kind! Greif zu mit beiden Händen! Sage dir, daß das Glück alles andere aufwiegt, Name, Stellung, Besitz! Sieh mich an, Kind! Wie glücklich hätt' ich werden können! Und bei aller Reue liegt noch wie ein schwerer Stein der Vorwurf auf mir, daß ich durch meine Feigheit auch einen anderen fürs ganze Leben einsam machte. Einen herrlichen Menschen! Ich bin ja viel zu bescheiden, um glauben zu können, daß ich ihm mehr geworden wäre als eine brave Frau, die ihm ein freundliches Haus geschaffen hätte – während er, der Begnadete, in seiner Kunst eine Stufe um die andere erstieg, bis zur Höhe des Ruhmes! Wie glücklich wäre ich gewesen in meinem stillen Winkelchen! Und hätte mit Stolz und Liebe zu ihm aufgeblickt – zu ihm, den alle Welt bewundert und verehrt!«

Erschrocken, von einer Ahnung durchzuckt, umklammerte Kitty Gundis Hand und stammelte: »Werner?«

Da hielt der Wagen auf der Piazza von Ravello. Aus der Kathedrale, deren Bronzetüren offen standen, tönte Gesang und Orgelspiel.

Gundi Kleesberg hob wie eine Erwachende das Gesicht.

»Hotel Palumbo?« klang eine dünne Tenorstimme; ein alter Mann, der eine schwarze Samtjacke trug und auch sonst wie ein verbummelter Maler aussah, trat an den Wagenschlag und war den Damen beim Aussteigen behilflich. Bei aller Erregung hatte Gundi Kleesberg doch einen staunenden Blick für die auffallende Reinlichkeit, die im Hofraum und Foyer der Pension Palumbo herrschte; das Wunder klärte sich auf, als die Padrona erschien, um die Damen zu begrüßen – eine deutsche Frau. Sie führte ihre Gäste in einen Seitentrakt des Hauses; alle Wendungen der Treppe waren durch nette Vorhänge abgeschlossen, und der Korridor mit seinen klaren Fenstern spiegelte vor Sauberkeit. An einem Zimmer, in dem ein Mädchen Ordnung machte, stand die Tür offen – und Gundi Kleesberg geriet in wunderliche Aufruhr, als sie in dem Raum verschiedene Malgeräte gewahrte, eine Staffelei und mehrere mit Leinwand überspannte Rahmen.

»Nur schnell, Kind! Schnell!« stammelte sie, als die Padrona für Kitty ein allerliebstes Zimmerchen öffnete, mit Möbeln aus Olivenholz und mit Gardinen aus weißem Leinenplüsch. »Ich werde in fünf Minuten fertig sein!« Sie faßte den Arm der Padrona. »Kommen Sie, liebe Frau, ich bitte, kommen Sie, ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Kitty hatte ihr Zimmer betreten. Der kleine freundliche Raum heimelte sie an und erinnerte sie an ihr Stübchen in Hubertus. Am offenen Fenster, durch das der Blick über grünes Rebengelände hinunterglitt in das Tal von Minori und auf das ferne Meer, ließ sie sich in einen Lehnstuhl sinken und preßte die Hände über die glühenden Wangen. Ohne den leisen Wechsel der beiden aus dem Nebenzimmer klingenden Frauenstimmen zu hören, war sie versunken in ziellose Gedanken, befangen von einer Stimmung, deren rätselhafte Art sie sich selbst nicht zu erklären wußte. Und dann ging die Tür auf, und Gundi Kleesberg stand vor ihr, halb erschrocken und halb empört. »Um Gottes willen, Kind! Was hast du denn getrieben die ganze Zeit? Eine Viertelstunde fast! Da soll sie fertig sein und sitzt noch immer in Hut und Mantel!« Sie griff wie eine flinke Kammerjungfer zu, um Kitty behilflich zu sein. »Nur schnell, Kind! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen zum Palazzo Rufalo. Das ist das erste. Das wichtigste! Alles andere wird sich finden. Komm nur! Komm!« Aus einer Blumenvase zerrte sie drei schöne Rosen.

Kitty wehrte: »Du weißt, ich trage keine Blumen.«

»Doch, Kind! Nimm sie nur! Heute!« Wie sonderbar Gundi Kleesberg dieses Wort betonte! »Heut! Ich dulde nicht, daß du so gehst, in diesem unfreundlichen Schwarz! Nimm die Rosen! Ich bitte dich!« Sie setzte ihren Willen durch. Und dann rückte sie an Kittys Hut, nestelte am Schleier und an den Falten des Kleides, als stünde die Komtesse vor der Fahrt zu ihrem ersten Hofball. Die letzte Prüfung fiel zu ihrer Zufriedenheit aus. »So, jetzt gefällst du mir! Und nun komm!« In einem Anfall mütterlicher Rührung streckte sie die Arme, um Kitty an sich zu ziehen. »Aber nein! Nein! Ich könnte dir die Rosen zerdrücken! Komm nur, komm!« Sie rauschte zur Tür, als wäre jede Minute kostbar.

Betroffen schüttelte Kitty den Kopf. »Aber Tante Gundi? Was ist denn nur mit dir?«

»Komm nur! Kümmere dich nicht um mich! Ich bin ein bißchen verrückt. Es ist so schön hier, so unglaublich schön! Und alles andere, du ahnst ja nicht –« Gundi Kleesberg verstummte erschrocken, als hätte sie zuviel gesagt. »Komm nur! Komm!«

Vor dem Hotel erwartete sie der Cicerone mit dem schwarzen Samtflaus. Er zog den grauen Schlapphut. »Primieramente,« begann er mit seiner quiekenden Tenorstimme, »condurrò le signore alla bella vista nel giardino degli Affliti –«

»Was kümmert mich die Aussicht im ›Garten der Betrübten‹!« unterbrach ihn Gundi Kleesberg. »Wir wollen zum Palazzo Rufalo.«

Der Cicerone machte zu dieser Eigenmächtigkeit eine nachsichtsvolle Miene und zuckte die Achseln. »Come Le piace.« Doch als sie die Ecke der Kathedrale erreichten, dozierte er nach seiner Gewohnheit: »Ed ora entriamo nel santo duomo. Fu costrutto nel secolo undicesimo –«

Tante Gundi wurde ungeduldig. »Ich will nicht wissen, wie alt Ihr Dom ist. Ich will zum Palazzo Rufalo.«

»Come Le piace!« Der Cicerone war gekränkt.

»Das ist doch ein unglaublicher Mensch!«

Kitty suchte die Empörte zu beruhigen, aber Gundi Kleesberg ereiferte sich immer mehr.

»Jede Minute ist kostbar, und da vertrödelt uns dieses Ungeheuer die Zeit mit seinen eingepaukten Redensarten!«

Sie kamen zu einer hohen grauen Mauer, an der ein paar sarazenische Arabesken der Verwitterung entgangen waren. Über dem Kamm der Mauer sah man ein Gewirr von Zypressenwipfeln und Baumkronen, zwischen deren dichtem Grün sich ein von Laub umschleiertes Gemäuer zeigte, eine graue Zinne, ein Turm mit maurischer Galerie und schwarz gähnenden Rundfenstern – ein Bild, aus dem es herauswinkte wie ein Geheimnis.

Ein dunkler Torweg wurde durchschritten, und der Cicerone hielt vor einer kleinen eisernen Pforte. »Eccolo, il Suo palazzo Rufalo!« Er deutete auf einen Glockenzug, legte die Hände hinter den Rücken und sagte trocken: »Si campanella«.

Gundi Kleesberg atmete tief, streifte Kittys Gesicht mit verwirrtem Blick und faßte den Draht. Dumpf, mit einem greisenhaften Klang, hallte der Glockenton durch den stillen Garten. Schlurfende Tritte kamen auf das Tor zu; als es geöffnet wurde, knarrten die alten Angeln. Der Pförtner, ein mürrischer Greis, übernahm die Führung der Damen, während der Cicerone verdrossen im Gäßchen zurückblieb.

Eine kühle, feuchte, von Blumengeruch erfüllte Luft wehte den Eintretenden entgegen. Das dichte Laubwerk, das den schmalen Pfad zu beiden Seiten begleitete, gewährte kaum einen Durchblick; nun erweiterte sich der Pfad, und überschattet von alten Baumriesen, deren Stämme mit Schlingwerk behangen waren, erhob sich die Ruine der maurischen Torhalle mit der schön geschwungenen Kuppel. Ein Hauch von Schwermut flüsterte aus den grauen, durch Raub und Alter des Schmuckes beraubten Steinen; sie hatten glanzvolle Zeiten gesehen; diese Pracht und Macht war untergegangen – sie allein noch standen, wie ein trauerndes Denkmal über Gräbern. Und den gleichen melancholischen Charakter zeigte der tiefschattige Garten, der sich an die Halle schloß: zwischen ernsten schwärzlichen Zypressen und scharf duftenden Pfefferbäumen lagen kleine Beete mit feurig blühenden Orchideen, überall lugten aus verwilderten Rosenbüschen verblichene Marmorreste hervor, zertrümmerte Statuen, gestürzte Säulen; leise murmelten die versteckten Brunnen, zuweilen ließ sich ein süßer Vogelschlag vernehmen, und der sachte Windhauch, der durch die Laubengänge strich, spielte mit den Rosenblättern, die auf allen Wegen lagen und gleich winzigen Schifflein auf den kleinen, stillen Teichen umherschwammen. Träumende Märchenstimmung war unter diesen Bäumen, in dieser Luft. Nun wieder erhob sich graues Gemäuer, und klingend hallten die Schritte auf den Steinfliesen des Torweges, der in das Allerheiligste dieser Ruinen führte, in den maurischen Säulenhof.

Drei Loggien, die einen düsteren, kellertiefen Hof umschließen, bauen sich leicht und luftig übereinander. An den kahlen Wänden hängen nur noch einzelne Reste der Marmorbekleidung, doch unversehrt sind die schlanken, doppelreihigen Alabastersäulchen erhalten, mit den graziös geschwungenen und zierlich ornamentierten Bogen darüber; hier und dort noch eine Spur der erloschenen Farbe und Vergoldung.

Kittys Wangen brannten, ihre Augen glänzten; sie empfand die hinreißende Macht der Erinnerung, die aus diesen stummen Steinen redet. Zurückversetzt in längst entschwundene Zeiten, sah sie Bilder um Bilder vor ihrer träumenden Seele sich beleben. Schwerter klirrten, und weiße Schleier flatterten, Hufschlag tönte, und die Laute klang. So deutlich vernahm sie die Saiten, als klängen sie wahrhaftig an ihr Ohr – aber nein, das war kein Traum, sie hörte die Saiten wirklich! Aus einem offenen Fenster des Palazzo tönte, mit seltsamer Kunst gespielt, eine Mandoline, von einer Gitarre begleitet. Und Kitty erkannte die Weise. Es war eine Barkarole, die sie in Sorrent hatte singen hören, ein zärtliches Lied, das ihr mit schmeichelnden Locken ins Herz gegriffen hatte:

»Vieni, diletta,
Vieni al mar,
Vieni, t'aspetta
Il marinar!
«

Und wieder – in dieser märchenhaften Umgebung mit gesteigertem Gefühl – empfand sie die heiße, verlangende Sehnsucht, die ihr aus den zärtlichen Worten des Liedes am Sorrentiner Strand in die Seele gefallen war. Hastig, wie um dem Zauber zu entrinnen, der sie in der geheimnisvollen Schattenstille dieser Mauern überfiel, flüchtete sie hinaus in die helle Sonne.

Zwischen Blumen plauderte ein Springbrunnen, und eine Marmortreppe führte zu einer Terrasse, die, von Laubengängen durchzogen, sich hinausbaute über die steil abfallenden Weinberge und einen Rundblick über den Golf von Salerno bot.

Mit einem wehen Zug im die Lippen trat Kitty unter eines dieser Laubdächer, umspielt von flimmernden Sonnenlichtern und farbigem Blätterschatten. Plötzlich verhielt sie den Fuß, von Schreck befallen; das Blut schoß ihr zum Herzen und strömte wieder mit Glut in die Wangen; nach Atem ringend, griff sie an die Augen, als müßte, was sie sah, in der nächsten Sekunde verschwinden wie eine Täuschung ihrer Sinne.

Inmitten des Laubenganges, in dessen Tiefe eine Nische in die Felswand gehauen war, stand eine Staffelei, deren Leinwand die Farben eines frisch begonnenen Bildes zeigte. Hatte den jungen Künstler schon im ersten Werden seines Werkes die Ermüdung befallen? Er saß auf einer Marmorbank, die Palette in der ruhenden Hand, und blickte träumend ins Leere. Da vernahm er einen stammelnden Laut und straffte sich auf – Hans Forbeck. Seine Gestalt war gereift in diesem halben Jahr und hatte breitere Schultern bekommen; dichter sproßte der dunkle Bart, und die südliche Sonne hatte ihm die ernste Stirn gebräunt.

Bei Kittys Anblick erblaßte er, und die Palette entfiel seiner Hand. So standen sie voreinander, Aug' in Auge. Dieser erstarrende Schreck, dieser lähmende Zweifel an der Wahrheit dauerte nicht lang. Wohl blieben ihre Lippen stumm, doch es sprachen ihre Herzen, es redete ihre Sehnsucht, die gewachsen war mit jedem vergrämten Tag, in jeder ruhelosen Nacht. Unter einem Lachen ihrer Freude flogen sie aufeinander zu, hielten sich umschlungen und hingen Mund an Mund in einem dürstenden Kuß, der nimmer enden wollte.

Bei der Marmortreppe stand Gundi Kleesberg wie eine mit sich selbst zufriedene Schicksalsgöttin von etwas barocken Formen.

Da klang hinter einer mit Blüten übersäten Rosenhecke eine Männerstimme: »Hans!«

Forbeck und Kitty hörten nicht; alles um sie her war ihnen untergegangen in der Taumelfreude ihres jungen, vom Himmel gefallenen Glückes. Doch Gundi Kleesberg fiel aus ihrer stolzen Götterhöhe tief ins Menschliche herunter und begann an allen Gliedern zu zittern, als sie diese Stimme erkannte.

»Hans! Komm doch einen Augenblick!«

Eine Weile war Stille, dann knirschte hinter der Rosenhecke ein Tritt im Sand. Nun kam Leben in die Schlottersäule der Kleesberg. Die Hände streckend, als hätte sie das erste Glück der Liebenden vor einer Störung zu behüten, zappelte sie auf die Hecke zu. Da stand Professor Werner vor ihr, sprachlos vor Überraschung.

»Werner!« stammelte sie. Weiter fand sie keinen Gruß, kein Wort. Mit beiden Händen faßte sie ihn am Arm und zog ihn so weit in den Laubengang, daß er das junge Paar gewahren mußte. Und als ihm, mehr in Schreck als in Freude, ein ersticktes Wort über die Lippen fuhr, zog sie ihn wieder hinter die Hecke zurück und sah zu ihm auf mit stolzer Freude. »Dieses Glück, Werner – diese junge Glück hab' ich geschaffen, ich, die Gundi Kleesberg! Für mein Glück, da war ich feig. Aber für die beiden Kinder hab' ich Mut gehabt. Und nicht nur Mut. Es war auch meine Pflicht. Ich hab' an Kitty die Stelle einer Mutter vertreten. Und als ich sah, wie sie in diesem traurigen Winter hinschwand und sich verzehrte – da hab' ich gesagt zu mir: Gundelchen, jetzt mußt du! Und habe diesen Gewaltstreich begangen und bin euch nachgereist und hab' euch gesucht, in Capri, in Sorrent, in Amalfi, bis ich euch fand. Und jetzt, Werner – diese schöne Stunde hat nicht nur das mutterlose, von Kummer und Sehnsucht kranke Kind gesund und glücklich gemacht – sie hat das Glück auch deinem Sohn gegeben!« Tränen kollerten ihr über die Wangen herunter und zeichneten zwei Feuerlinien durch den weißen Puder. »Deinen Sohn!«

Werner war diesem erregten Gestammel gegenüber nicht zu Wort gekommen; kopfschüttelnd, wie in Sorge, hatte er sie angehört. Bei ihrem letzten Wort schien er ein anderer zu werden. Er widersprach nicht, wie in Hubertus. Schweigend sah er in Gundis Augen, nahm ihre kleine, dicke, zitternde Hand und küßte sie.

»Nur keine Sorge, Werner! Hab' nur keine Sorge um die Kinder! Diese erste Stunde habe ich erzwingen müssen. Jetzt laß sie nur getrost den Weg ihres Glückes weitergehen! An ihm, das weiß ich, wird es nicht fehlen. Er müßte dein Sohn nicht sein. Er ist wie du: treu, redlich und stark. Er wird sie glücklich machen, stolz im Glück und reich an Ehre!«

»Ja, Gundi, das wird er!« Werners Augen leuchteten.

»Und sie? Gib acht, Werner, ich kenne sie! Sie ist nicht, wie ich gewesen bin. Sie wird den Mut des Glückes haben – ihres reinen Glückes. Sie ist Fleisch und Blut ihres Bruders Tas!« Mit beiden Händen, ohne die Dornen zu scheuen, drückte Gundi Kleesberg das Rankengewirr der Hecke auseinander. »Sieh nur, Werner, wie sie den Arm um ihn geschlungen hält! Blut ihres Vaters ist sie doch schließlich auch. Die läßt nimmer aus.«

Flüsternd hauchte der vom Meer heraufziehende Wind durch das zitternde Laubwerk. Leise schwankten die schlanken Wipfel der Zypressen, die Brunnen murmelten, und während lautlos die Rosenblätter fielen, tönten aus dem grauen Tor des Säulenhofes die zärtlichen Klänge der Barkarole.


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