Ludwig Ganghofer
Schloß Hubertus
Ludwig Ganghofer

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4

An jedem Morgen in diesen vergangenen Tagen hatte Willy den Vater an des in einer schwachen Minute gegebene Versprechen erinnert: an den »Besuch bei unserer kleinen Schmalgeiß«. Graf Egge verschob den Abstieg nach Hubertus von einem Morgen zum Abend, von jedem Abend zum andern Morgen. Immer wieder hielt ihn ein Gemsbock fest, den Schipper mit dem Tubus ausfindig machte, oder ein starker Hirsch, dessen Wechsel bestätigt wurde. Und Graf Egge zeigte sich um so hartnäckiger in seiner Ausdauer, je weniger ihm in diesen Tagen die Gunst des grünen Heiligen lächeln wollte. Jedes Treiben mißlang, jeder Pirschgang mißglückte. Schipper hatte dabei einen bösen Stand. Doch je übler Graf Egge mit ihm umsprang, desto aufmerksamer bediente er seinen Herrn, schmierte ihm die Bergschuhe tadelloser als je, behandelte seine Gewehre wie ein Goldarbeiter den Filigranschmuck und lief sich die Füße krumm in dem Bestreben, das gewandelte Jagdglück seines Herrn wieder auf bessere Wege zu bringen. Dennoch wollte Graf Egges Laune nicht besser werden.

Von Tassilo hatte man während dieser Tage in der Hütte mit keiner Silbe gesprochen. Ein einziges Mal hatte Willy versucht, dieses Thema zu berühren, um auf die Stimmung des Vaters günstig zu wirken. Graf Egge war ihm mit zorniger Schärfe ins Wort gefallen: »Davon schweig'! Oder es hat ein Ende mit unserer Freundschaft!« Wütend war er aus der Stube gegangen und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Eine Stunde später, als Willy verdrossen hinter der Hütte auf dem Brunnen saß, kam der Vater und drückte ihm einen kleinen, sorgfältig in Papier gewickelten Gegenstand in die Hand. »Nimm, Junge, das schenk' ich dir! Es sind meine schönsten!« Lächelnd blieb er vor Willy stehen, um die Wirkung des Geschenkes zu beobachten.

Es waren zwei Hirschgranen von selten dunkler Färbung; Graf trug sie seit Jahren in der Geldbörse, um sie gleich bei der Hand zu haben, wenn in seinem Jägerherzen die Sehnsucht nach ihrem Anblick erwachte. Willy war von diesem Geschenk mehr verblüfft als freudig überrascht; die beiden Beinstückchen hatten für ihn einen höchst zweifelhaften Wert; doch er wußte, daß dieses Granenpaar in der Schätzung seines Vaters höherstand als ein paar der kostbarsten Edelsteine.

»Aber Papa!« sagte er halb verlegen und halb gerührt. »Das kann ich wahrhaftig nicht annehmen. Ich weiß doch, wie schwer du dich von diesen Granen trennst.«

»Ja, Junge, es sind die besten, die ich zu verschenken habe. Aber nimm sie nur! Dir geb ich sie gern. Dich hab' ich lieb!« Mit beiden Händen griff er in Willys Haar und zog ihm sacht den Kopf hin und her. »Vergiß das dumme Wort von vorhin, aber tu mir den Gefallen und laß die andere Geschichte begraben sein. Ich hab's hinuntergewürgt und will Ruhe haben. Mach' du mir Freude, und alles ist ausgeglichen.« Er küßte den Sohn auf beide Wangen, nickte ihm lachend zu und trat in die Hütte.

Ein bißchen konsterniert über den ungewohnten Zärtlichkeitsausbruch, sah Willy dem Vater nach und steckte die Granen zu dem Rubin in der Westentasche. Er machte auch keinen Versuch mehr, von »der anderen Geschichte« zu sprechen. Im stillen schmiedete er allerlei Pläne. Als er den Bruder ins Vertrauen ziehen wollte, erfuhr er eine kühle Abweisung. »Ich mische mich nicht in diesen Quark,« sagte Robert, »und rate dir, das gleiche zu tun. Laß den Narren seiner Wege gehen und sei froh, daß du selbst beim Vater schön Kind bist!« Willy erwiderte gereizt, und die Sache endete zwischen den Brüdern mit verletzenden Worten.

Nun baute Willy seine ganze Hoffnung auf die Hilfe Kittys. Was ihm selbst nicht gelungen war, das mußte der Schwester gelingen. Willy sah, daß der Vater auch in der übelsten Laune dieser Tage einen freundlicheren Ton anschlug, sobald die Sprache auf die »kleine Schmalgeiß« kam. Und den Verlust des Adlers hatte er ihr so flink verziehen, daß Moser, der Kittys Brief gebracht hatte und das Märchen von der im Flug geschossenen Krähe erzählte, mit einem gelinden »Wischer« davonkam. So ließ nun Willy keinen Tag vergehen, ohne dem Vater die Sehnsucht, die Kitty nach ihm empfände, in den wärmsten Farben zu schildern.

»Ja, Junge,« pflegte die Antwort zu lauten, »nur noch diesen letzten Trieb und morgen die Frühpirsch. Dann gehen wir!«

Am 1. September kam Graf Egge gegen Mittag in die Hütte zurück, mit Zorn geladen wie eine Kartätsche. Auf einen »Kapitalbock« hatte ihm die Patrone versagt, und der zweite Schuß, den er im Ärger der flüchtig gewordenen Gemse nachgeschickt, war ihm »zu kurz« geraten und hatte den Bock weidwund getroffen. Willy suchte den Vater zu beschwichtigen. Das wollte ihm fast gelingen. Da kam Schipper, der die Unglückspatrone geladen hatte, mit Robert von der Pirsch zurück und brachte zu allem Unheil noch die Meldung, daß seinem Schützen ein Doppelschuß auf einen Zehner- und Sechserhirsch gelungen wäre. Nun ging das Gewitter wieder los, und über das gebeugte Haupt des Büchsenspanners prasselte eine Litanei von Schimpfworten nieder. Schipper wartete das Ende dieses Ergusses nicht ab, sondern packte seine Büchse und rannte davon, um den angeschossenen Bock zu suchen.

»Natürlich, jetzt kann er rennen!« schrie Graf Egge hinter ihm her. »Aber wenn er den Bock nicht bringt, soll ihn der Teufel holen, der schon lange auf ihn wartet! Ich möchte nur wissen, für was ich den Kerl bezahle? Meine verläßlichen Leute beißt er mir hinaus, und er selber ist ein Jäger, daß Gott erbarm! Nicht einmal eine Patrone kann er laden! Der Kerl ist nur zu gebrauchen, wenn es eine Schweinerei zu vertuscheln gilt. So ein Aasgräber! Pfui Teufel!«

Während Graf Egge mit solchen Sentenzen und mit dem krachenden Hall seiner Faustschläge die Stube erfüllte, hatte Robert sich auf den Heuboden verzogen, um den durch die Pirsch versäumten Schlummer nachzuholen. Willy fungierte unterdessen beim Vater als Beschwichtigungsrat. Doch als sich Graf Egge über Schipper müde gescholten hatte, kam Robert an die Reihe. »Einen Sechserhirsch niederbrennen! Unerhört! Als ob er an dem Zehner nicht genug gehabt hätte! Natürlich! So maßlos wie am Spieltisch treibt er es auch auf der Jagd. Aber eh ich mir mein Revier ruinieren lasse, schieb ich einen Riegel vor!«

Der Klang dieser Worte drang durch die Decke zum Heuboden hinauf, ohne Robert in seinem beginnenden Schlummer zu stören.

An dieses zweite Kapitel seines Zornes fügte Graf Egge eine Jeremiade über das Jagdpech dieser letzten Tage. »Da könnte man wirklich abergläubisch werden! Es ist gerade, als ob ein Fluch auf meiner Büchse läge, seit –« Die nähere Zeitbestimmung verschluckte er.

»Du hast recht, Papa,« fiel Willy ein, diese Wendung zugunsten seiner Pläne benützend, »du bist in einem ganz schauderösen Pech! Das läßt sich mit Gewalt nicht ändern. Das beste Mittel ist immer, ein paar Tage auszusetzen.« Er legte den Arm um den Hals des Vaters. »Es wäre das beste, um augenblicklich auf die Socken zu machen. Du gehst deinem Pech aus dem Weg, und unserer kleinen Geiß machst du eine Freude. Wir wollen dir drunten die Langweil schon vertreiben! Jeden Nachmittag schießen wir auf Tontauben, und die kleine Geiß muß sich einüben auf den laufenden Hirsch. Ich wette, sie flickt ihm eins aufs Blatt! Sie müßte deine Tochter nicht sein!«

Graf Egge lächelte und faßte den Sohn an dem Haarschopf, der ihm in die Stirn hing. »Ja, Bub, recht hast!« sagte er in seinem breitesten Dialekt. »Mach' dich fertig und fahr' in die Schuh! Weck' den Lappschwanz da droben! Oder wenn ihm von der Pirsch die Knie schnackeln, soll er liegenbleiben. Ich geh mit dir, ich brauch' keinen andern! Und durchs Hochholz nunter mach' ich eine Pirsch mit dir. Da drunten stehen um die Mittagszeit die guten Hirsch gern umeinander. Nimm dein Büchsl! Ich laß das meine in der Hütt, damit ich net in Versuchung komm, wenn ein Hirsch vor uns aufspringt. Ich will dir eine Freud' machen. Drum geh ich lieber mit dem Stecken. Weißt du, ich kenn' mich!« Lachend holte er Willys Bergschuhe unter dem Ofen hervor und stellte sie ihm vor die Füße.

Als Willy für die Wanderung fertig war, kletterte er auf den Heuboden und weckte den Bruder.

Graf Egge wollte sich nicht gedulden, bis Robert mit seiner umtändlichen Toilette zu Ende käme. Das Gewehr in der Hand, faßte er Willy am Fuß der Leiter ab. »Komm nur, da hab' ich schon dein Büchsl! Der ander wird den Weg auch allein finden.«

Von der Hand des Vaters fortgezogen, stolperte Willy über die Schwelle und nahm, da er sich zu bücken vergaß, noch eine schmerzliche Erinnerung an das »Palais Dippel« mit auf den Weg.

Bei der Wanderung durch das Latschenfeld und über die Almgehänge war Graf Egge in gemütlichster Laune, erzählte lustige Jagdgeschichten, amüsierte sich auf Kosten Roberts und schilderte mit drolliger Ironie das bestürzte Gesicht, das Schipper machen würde, wenn er von der Nachsuche zurückkäme und die Hütte leer fände. Doch mit dem ersten Schritt in den schattendunklen Hochwald verwandelte sich seine gesprächige Laune in schweigsamen Ernst. Er selbst lud Willys Büchse, nachdem er die beiden Patronen einer genauen Musterung unterzogen hatte.

»So! Jetzt nimm deine Tapper in acht und halt die Gucker offen!«

Lautlos pirschten sie über den weichen Moosgrund, voran Graf Egge, der in dem pfadlosen Wald jeden Baum zu kennen schien. Als sie eine lehmige Furche überschritten, deutete er zu Boden und flüsterte: »Da spürt sich einer ganz frisch, ein guter! Mach' die Büchs fertig!« Immer leiser wurde seine Stimme, während er Willy für den Fall, daß sie den Hirsch anträfen, ein Dutzend Verhaltungsmaßregeln vordozierte: »Und vor allem: nicht zu hitzig, laß dir Zeit, fahr langsam von unten auf, und wenn du Rot vor dem Korn hast, zieh ruhig ab!«

Vorsichtig pirschten sie weiter und überstiegen einen moosigen Grat. Kaum hatten sie die Höhe erreicht, da duckte sich Graf Egge und lispelte: »Dort sitzt er! Siehst du ihn?«

Willy spannte den Hahn und hob die Büchse. Der Hirsch hatte schon das Haupt aufgeworfen und sprang aus dem Lager. Willy verlor die Ruhe nicht, sondern zielte mit Beobachtung aller guten Lehren, die er soeben gehört hatte. Schon sah er »Rot vor dem Korn« und wollte drücken. Da fuhren plötzlich zwei Hände nach seiner Büchse.

»Gib her! Du fehlst ihn ja doch!« Mit diesen Worten entriß ihm der Vater die Waffe, und ehe Willy sich von seiner Verblüffung erholen konnte, krachte der Schuß.

Im Feuer brach der Hirsch zusammen. Mit einem Jauchzer ließ Graf Egge die rauchende Büchse sinken, schwang sein mürbes Hütl und lachte: »Ja, Bub, recht hast du g'habt! Droben hab' ich meinem Pech davonlaufen müssen, damit ich da herunten mein Glück wiederfind!«

»So?« schmollte Willy. »Ich war der Meinung, du wolltest mir ein Vergnügen machen.«

»Richtig!« Graf Egge lachte. »Es ist mir in die Hände gefahren, ich weiß nicht wie. Aber sei nicht bös! Ein andermal also! Komm! Jetzt sollst du wenigstens lernen, wie man einen Hirsch weidgerecht aufbricht!«

Willy fand ein zweifelhaftes Vergnügen an dieser blutigen Lektion, doch er wollte dem Vater die Laune nicht verderben, wollte ihn bei gutem Humor nach Hubertus bringen. So fügte er sich. Fast eine Stunde dauerte der Unterricht. Als sie den Hirsch mit Fichtenzweigen bedeckt und am Moos die Hände gesäubert hatten, blickte Graf Egge, da sie sich schon zum Niederstieg anschicken wollten, lauschend durch den Wald hinauf.

Man hörte Steine rollen, einen Bergstock klirren. Schipper kam durch den Wald heruntergesprungen. Bleich, atemlos, von Schweiß überronnen, blieb er vor seinem Herrn stehen und zog den Hut.

»Was willst du? Ach so, du hast wohl den Schuß gehört? Du bist prompt am Fleck. Das gefällt mir.«

»Da liegt er ja, ich gratulier, Herr Graf!« Mühsam rang der Jäger nach Atem. »Ohne den Schuß hätt ich a schweres Suchen nach Ihnen ghabt. Ich bring gute Botschaft. Ihren Gamsbock hab ich. Aber dös is noch lang net 's Wichtigste! Wie ich auf'm Heimweg unterm Schneelahner vorbeikomm, steht a Rehbock droben. Am ersten Blick schon, da hat mir 's Gwichtl so gspassig in d' Augen blitzt, und wie ich 's Spektiv aufzieh, hab ich gmeint, ich muß aus der Haut fahren! So was von Abnormität haben S' noch net in Ihrer Sammlung! Fünf Stangen hat der Bock droben.«

»Alle Wetter!« stammelte Graf Egge, während dunkle Röte sein Gesicht überfloß.

»Und den Bock schießen S', da garantier ich!«

Zitternde Erregung befiel den Grafen. »Ich dank dir, Schipper! Schau dich um Leute um, die den Hirsch heimliefern, ich steig einstweilen hinauf zur Hütte!«

»Aber Papa!« fiel Willy mit der Miene eines schwer Gekränkten ein. »Den Hirsch hast du mir weggeschossen – ich hab' ihn dir ja von Herzen gegönnt – aber jetzt halte mir wenigstens dein anderes Versprechen. Der Bock läuft dir ja nicht davon. Aber ich und die Schmalgeiß –«

»Das verstehst du nicht.«

»Ich bitte dich, laß den Bock und komm mit mir hinunter nach Hubertus! Tu es mir zuliebe!«

»Ja, Junge, alles andere! Aber –«

»Papa, ich bitte dich!«

Graf Egge wurde ungeduldig. »Einen solchen Bock kann ich nicht auslassen. So viel Jäger solltest du sein, um das begreifen zu können. Jetzt bin ich wieder im Glück. In zwei Pirschen hab' ich ihn. Dann komm ich, darauf hast du mein Wort! Also sei zufrieden, geh gemütlich nach Haus und grüß' mir einstweilen die kleine Geiß! Morgen abend bin ich bei dir. Auf Wiedersehen!« Ohne Willys Antwort abzuwarten, faßte er den Bergstock mitsamt der Büchse seines Sohnes und stieg durch den Wald hinauf, während Schipper davoneilte, um auf der nächsten Alm ein paar Leute zu requirieren.

Mit trauernden Augen sah Willy dem Vater nach. Es war nicht Ärger, was er empfand. Ein seltsames Schmerzempfinden füllte ihm das Herz, und die Kehle war ihm wie zugeschnürt. »Was hab' ich denn nur?« Eine Weile noch sah er auf die grünen Reiser nieder, unter denen der Hirsch so gut verborgen lag, daß nur ein paar Enden des Geweihes hervorragten; dann rückte er den Hut und suchte den Heimweg. Lange irrte er im Wald umher, bis es ihm gelang, den talabwärts führenden Pfad zu finden. Dabei war er müde geworden. Während des Niederstieges rastete er häufig; auch bei der Buche mit dem Marterl. Während er im Schatten der Äste saß, von denen lautlos die welken Blätter niederfielen, beschlich ihn ein quälendes Unbehagen. »Ach, Unsinn!« murrte er vor sich hin und erhob sich. »Ich weiß doch, wie er ist. Und er wird auch nimmer anders.«

Mittag war vorüber, als er das Dorf erreichte. Verdrossen dankte er den Leuten, die ihn grüßten. Am Zaunerhaus ging er vorüber, ohne zu merken, wo er sich befand. Als er die Ecke des Gärtchens erreichte, fühlte er einen leichten Schlag an der Wange, sah eine rote Nelke über seine Schulter fallen und hörte hinter den Johannisbeerstauden ein leises Kichern. Er lächelte und wollte auf den Zaun zutreten. Da war ihm plötzlich, als stünde sein Bruder Tassilo vor ihm und sähe ihn mit ernsten Augen an, wie vor Tagen da droben in der Bergschlucht.

»Wort halten!« Er schleuderte mit dem Fuß die Nelke in den Straßengraben und ging seiner Wege. Als er an die Parkmauer kam, blieb er stehen und sah sich um. »Eigentlich war das von mir eine überflüssige Flegelei!« dachte er. »Ich hätt' ihr ein paar harmlose Worte sagen und dann gehen können. Aber na, jetzt hat die Geschichte ein Ende! Tas wird lachen, wenn ich ihm das erzähle.«

Beim Eintritt in die Ulmenallee klang ihm vom Adlerkäfig ein wildes Geflatter entgegen. Er achtete nicht darauf. Auch sah er am Ausgang der Allee die Schwester erscheinen, die ihm entgegeneilte, als hätte sie um sein Kommen gewußt und hätte ihn mit Ungeduld erwartet. Sie warf sich an seinen Hals und küßte ihn. Dann fragte sie zögernd: »Wo ist Papa?«

»Droben! Er will morgen abend kommen. Das heißt, wer's glaubt. Ich nicht.«

»Morgen abend?« wiederholte Kitty erregt. »Aber sag' mir, was ist zwischen ihm und Robert vorgefallen?«

»Warum?«

»Robert ist vor einer halben Stunde heimgekommen wie ein beleidigter Olympier, hat sich umgekleidet und ist davongeritten.«

»Papa hat ihn etwas unfair behandelt. Mich hat er zwar auch gehörig aufsitzen lassen, aber das ist Nebensache. Weißt du schon, was mit Tas geschehen ist?«

»Alles!« sagte Kitty mit heißen Wangen. »Und sag' es mir lieber gleich: bist du für oder gegen ihn?«

»Für ihn, natürlich!«

Kitty belohnte ihn mit einem Kuß. »Das hab' ich von dir erwartet. Komm ins Haus! Tas hat mir einen Brief für dich übergeben. Den mußt du augenblicklich lesen. Und dann sprechen wir weiter. Fünf Minuten laß ich dir Zeit, um dich umzukleiden. Komm!« Mit ungeduldiger Hast zog sie ihn gegen die Veranda.

»Wie geht es Tante Gundi?«

»Besser, Gott sei Dank! Sie trägt zwar den Arm noch im Verband, aber sie ist heut schon mit mir ausgefahren und hat herunten diniert. Und jetzt, Willy, sag' ich dir was: Diese üblichen Scherze mit Tante Gundi müssen ein Ende haben! Ich dulde nicht mehr, daß sie nur im geringsten verletzt wird. Sie ist eine goldene Person!« Das erklärte Kitty mit so leidenschaftlicher Energie, daß der Bruder sie verwundert betrachtete. »Komm nur!« Im Korridor rief sie den Diener und befahl, ihrem Bruder das Diner in seinem Zimmer nachzuservieren; dann flog sie über die Treppe hinauf.

Die fünf Minuten waren noch nicht vergangen, als sie schon an Willys Tür pochte. »Kann man eintreten?«

»Nur los!« klang die Antwort. »Aber viel umsehen darfst du dich nicht.«

Die Warnung hatte ihre Gründe. In dem Zimmer herrschte eine greuliche Unordnung. Vor dem übel zugerichteten Waschtisch lagen alle Stücke des Jagdgewandes auf dem Boden, der eine Bergschuh stand mitten im Zimmer, der andere unter dem Tisch, auf dem Bett lag der Uniformrock über dem Bergstock, aus dem offen stehenden Kleiderschrank hing ein Beinkleid auf die Diele heraus, in der halb aufgezogenen Lade einer Kommode war die frische Wäsche durcheinandergeworfen, und auf der Marmorplatte des Nachttisches bildeten Zigarrentasche, Jagdmesser, Uhr und Börse ein Stilleben mit dem silbernen Leuchter, in dessen Schale der Rubin und die beiden Hirschgranen lagen.

Hinter dem Tisch saß Willy in blauer Soldatenhose und weißem Seidenhemd auf dem Sofa und hielt seine verspätete Mahlzeit.

Kitty hatte, als sie das Zimmer betrat, einen gelinden Schreck zu überwinden. »Ach du lieber Gott! Willy!«

»Na, fall nur nicht in Ohnmacht!« meinte der Bruder, ohne seine Auseinandersetzung mit dem Hirschbraten zu unterbrechen. »Fritz wird Ordnung machen. Komm her und schieß los!«

Sie gab ihm Tassilos Brief, und während Willy zu lesen begann, beobachtete sie gespannt sein Gesicht; er schien gerührt zu sein, und tiefe Bewegung sprach aus seiner Stimme, als er, den Brief zusammenfaltend, sagte: »Unser Tas ist ein herzensguter Kerl!«

»Darf ich lesen?« fragte Kitty.

Verlegen schob Willy den Brief in die Hosentasche. »Nein, Maus! Tas hat da auch von militärischen Angelegenheiten geschrieben.« Um über die Sache hinwegzugleiten, fragte er, wie Tassilo von der Jagdhütte zurückgekommen wäre, und was die Schwester über den »Krach mit Papa« erfahren hätte.

In heißem Eifer erzählte Kitty von Tassilos Abreise, von jenem Nachmittag, an dem sie das »große Geheimnis« erfahren, und von ihrem Besuch bei Anna Herwegh. »Tas muß wahnsinnig glücklich werden!«

»Ich gönn' ihm sein Glück von Herzen. Er hat recht, daß er dafür durch dick und dünn geht. Glück, weißt du, das ist eine schöne Sache. Besonders, wenn es das echte ist! Die wahre Blume! Freilich, der arme Kerl wird auch die Dornen spüren. Aus dem Klatsch der Leute braucht er sich wenig zu machen. Aber der Bruch mit Papa wird ihm wie ein Stein auf der Seele liegen.« Willy Griff nach der Obstschale und knackte eine Krachmandel auf. »Papa hat ja gewiß seine Eigenheiten! Aber Kind ist Kind. Und Tas hängt an ihm wie wir alle – Robert ausgenommen, der sich an Papa nur erinnert, wenn er Ursache hat, ihn zu schröpfen.« Die zweite Mandel krachte. »Wenn es einen Menschen gibt, der an dem Bruch zwischen Tas und Papa seine heimliche Freude hat, so ist es Robert. Aber wir beide, du und ich, wir wollen ihm einen Strich durch die abscheuliche Rechnung machen. Wir halten zusammen, Maus!«

»Ja! Und fest!« Sie klammerte sich an seinen Arm. »Das wollen wir sofort beweisen!«

»Was meinst du damit?«

»Du hast wohl keine Ahnung, wann Tas und Anna sich trauen lassen?«

»Davon hat er keine Silbe geschrieben.«

»Ich weiß es!« flüsterte sie mit blassem Gesicht. »Er hat es auch vor mir verheimlicht. Aber es schoß mir gleich ein Verdacht durch den Kopf, als ich erfuhr, daß Herr Forbeck so plötzlich abreisen mußte.«

»Herr Forbeck? Wer ist das?«

Purpurne Röte huschte über Kittys Wangen. »Ich kann dir das nicht so genau erklären. Aber damit du das Nötigste weißt: Herr Forbeck ist ein junger Künstler aus München. Sehr begabt! Hat eine glänzende Zukunft! Tas und Forbeck sind intime Freunde. Und Tas sagte mir, daß er ihn gebeten hätte, sein Trauzeuge zu sein. Und als er so plötzlich abreiste –«

»Wer? Tas?«

»Aber nein doch! Herr Forbeck! Ganz plötzlich! Er hatte sonst keine Ursache, abzureisen, ganz im Gegenteil! Und da fuhr es mir gleich durch den Kopf, wie alles zusammenhängt. In meiner Aufregung hab' und heimlich nach München telegraphiert.«

»An wen?«

»An meine Schneiderin. Die kommt hinter alles. Da, lies das Telegramm, das ich gestern abend von ihr bekommen habe!« Kitty zerrte aus ihrem Kleid das zerknüllte Blatt hervor.

Willy las: »Übermorgen mittag ein Uhr in der Frauenkirche.« Erschrocken sprang er auf. »Übermorgen? Aber das ist ja schon morgen!«

»Morgen! Ja! Was sagst du!« Auch Kitty erhob sich; sie schlang den Arm um Willys Hals und stammelte: »Und das siehst du doch ein, das dürfen wir nicht geschehen lassen, daß unser Tas in dieser heiligen Stunde allein steht? Das wäre für ihn nicht nur ein tiefer Schmerz, auch eine Demütigung vor den Verwandten seiner Braut!«

»Ja, Maus, recht hast du! Das ist eine wahrhaft geniale Idee! Ich reise. Noch heute nacht. Ich freue mich närrisch auf das Gesicht, das er machen wird. Und dir, das versprech' ich, dir schick' ich ein ellenlanges Telegramm.«

»Das kannst du dir sparen,« erklärte Kitty, »ich fahre mit!«

»Du? Nein, Maus, das ist Unsinn!«

»Ich muß zu ihm, ich muß, ich muß!« Wie in Verzweiflung umklammerte Kitty den Bruder.

Etwas ratlos streichelte er das Haar und die Wangen der Schwester. »Sei vernünftig, kleine Maus! Das geht nicht. Wenn Papa hinter die Geschichte kommt – ich vertrage einen Puff, aber du? Nein, Maus! Eine solche Verantwortung darf ich nicht auf mich nehmen.«

»So übernehm' ich sie selbst. Ich verantworte alles.« Energisch richtete sie sich auf und erklärte mit jener Sophistik, wie sie heiß erregten Mädchenköpfen geläufig ist: »Ich weiß wohl, daß ich einen solchen Schritt nicht unternehmen sollte, ohne Papas Erlaubnis einzuholen. Aber wo ist Papa? In der Hütte droben wie immer, immer, immer! Es ist nicht meine Schuld, wenn ich Papa nicht fragen kann! Wäre er mit dir heruntergekommen – nach fünf Monaten für seine Hirsche und Gemsböcke ein einziger Tag für mich, das ist doch nicht zuviel verlangt –, wäre er gekommen, so würde ich ehrlich mit ihm gesprochen haben und hätte ihm so lang mit Bitten zugesetzt, bis er ja gesagt hätte!«

Belustigt sag Willy die Schwester an, schob die Hände in die Hosentaschen und wiegte sich auf den Hacken. »Du kannst ja die Kleesberg fragen!«

Bei diesem Einwurf geriet Kitty ein bißchen aus der Fassung. »Laß doch die Ärmste in Ruh'! Soll ich ihr zu allen Schmerzen noch meine Sorgen aufladen? Auch will ich sicher gehen. Darum frag' ich sie nicht! Ich muß nach München. Willy, ich muß! Davon bringt mich niemand ab.« Ihre Wangen brannten, und ihre Augen leuchteten. »Nimm mich mit! Sieh nur, wie ich bitte!«

Er hatte nicht das Herz, um nein zu sagen. Lachend zog er sie an sich und küßte sie auf das Ohrläppchen. »Na also –«

Mit ersticktem Freudenschrei umarmte sie ihn.

»Machen wir in Gottes Namen den fidelen Streich in Kompanie! Papa wird uns zwar eine böse Suppe auszulöffeln geben, ganz besonders gesalzen für meine Wenigkeit! Aber wenn er sich ärgert, wasch ich meine Hände in Unschuld. Hätte er sein Versprechen gehalten und wäre mit heruntergekommen, statt dem verwünschten Rehbock nachzulaufen! Die Schuld hat er! Und komm, jetzt wollen wir Kriegsrat halten.«

Sie setzen sich Arm in Arm auf das Sofa und sprachen flüsternd miteinander, wie zwei Kinder, die eine Weihnachtsüberraschung vorbereiten. Sie beschlossen, den ersten Lokalzug zu benützen, der früh um sechs Uhr von der Station abging; da hatten sie Anschluß an den um elf Uhr in München eintreffenden Zug und konnten Tassilos Wohnung noch zeitig genug erreichen. »Punkt halb fünf Uhr müssen wir hier verduften!« sagte Willy. »Ich bleibe die Nacht über wach, damit ich nicht verschlafe, und lege mich lieber jetzt ein paar Stunden aufs Ohr. Gegen Abend kannst du mich wecken. Dann geh ich ins Dorf, bestelle den Wagen und soupiere beim Seewirt. Ich will eine Begegnung mit Robert vermeiden, und dir rate ich ebenfalls, dich unsichtbar zu machen. Sag': du hast Kopfweh. Und sperr' dich in dein Zimmer ein! Da kannst du in aller Ruhe packen. Ich schmuggle dir meinen Handkoffer hinüber. Der wird genügen. Große Toilette brauchst du nicht zu machen. Wie ich vermute, werden sich die beiden im Reisekostüm trauen lassen. Ich nehme für mich gar nichts mit. Lackstiefel und Handschuhe kann ich mir in München kaufen. Aber jetzt kommt ein Punkt, über den ich ratlos bin: das Hochzeitsgeschenk! Geben müssen wir doch was.«

»Ich weiß schon, was!«

»Na, da bin ich neugierig.«

Kittys Augen blitzten. »Mamas Perlenkollier!«

Willy erschrak. »Aber Maus! Diese Perlen sind ein Vermögen wert! Papa wird einen unerhörten Spektakel schlagen.«

Stolz richtete sich das Köpfchen auf. »Die Perlen sind mein Eigentum. Und ich weiß sehr gut, was ich tue. Hätte Mama diesen Tag erlebt, so hätte sie selbst diese Perlen um Annas Hals gelegt.«

Willy tätschelte ihr die Wange. »Maus! Du bist ein famoser Kerl! Tas wird über deine Idee vor Wonne zerfließen. Somit wären wir über alles im reinen! Mach' nur in der Aufregung keine Dummheiten. Und in der Nacht schlaf tüchtig, damit du am Morgen frisch bist. Punkt vier Uhr klopf ich an deine Tür. Und jetzt drück' dich, Maus! Ich möchte mich niederlegen.«

Kitty erhob sich. »Gib mir die Hand darauf, daß alles fest und abgemacht ist!«

»Abgemacht!«

Er reichte ihr die Hand, und Kitty drückte sie mit so feierlichem Ernst, als gält' es einen Staatsakt von der Bedeutung des Rütlischwures.

Einige Minuten später schmuggelte Willy den kleinen Lederkoffer in Kittys Zimmer; dann kehrte er zurück und warf sich mit der brennenden Zigarre aufs Bett. Er brauchte nicht lange, um den Schlaf zu finden; aus seinen Fingern fiel die qualmende Zigarre und brannte ein handgroßes Loch in den Teppich.

Er erwachte nicht, als Kitty gegen sechs Uhr in das Zimmer trat. Um ihn zu wecken, huschte sie zum Bett. Beim Anblick seines Gesichtes erschrak sie. Die geschlossenen Lider waren von durchsichtiger Bläue, die Züge blutleer und von welker Zerfallenheit, wie das Gesicht eines Schwerkranken in der Erschöpfung nach heftigem Fieber.

»Willy!«

Der angstvolle Ruf weckte ihn. Hastig fuhr er auf und sah die Schwester mit heiß glänzenden Augen an, als vermöchte er seine Sinne nicht völlig zu ermuntern.

»Bist du krank?«

»Ich? Unsinn! Mir ist pudelwohl!« Lachend sprang er vom Bett, und da mußte er plötzlich husten, lange und heftig.

»Willy! Was hast du denn?« stammelte Kitty und brachte ihm das Glas Wasser, nach dem er mit einer Geste verlangte.

Er leerte das Glas und drückte die Hand auf die Brust. »Ich muß mich im Aufwachen überschluckt haben. Na, nun ist es ja wieder vorüber.« Er stellte das Glas auf den Tisch und atmete tief.

Besorgt sah ihm Kitty in das Gesicht, dessen Wangen sich wieder zu röten begannen. »Ist dir auch wirklich wohl? Ganz?«

»Vollkommen!«

»Gott sei Dank! Ich kann dir nicht sagen, wie ich erschrocken bin.«

»Ach geh, du bist komisch!« brummte er und schob die Schwester zur Tür hinaus. Er trat vor den Spiegel und betrachtete sein Gesicht, aufmerksam, mit einer Art von sentimentalem Ernst. Dann begann er sich für den Weg zum Seewirt fertigzumachen und pfiff dazu einen lustigen Marsch.

So schmuck wie aus dem Ei geschält, in bester Laune, verließ er das Haus und schlenderte durch die Allee. Als er sich dem Adlerkäfig näherte, sah er dünnen Staub aus dem Drahtgitter hervorquellen; rings um den Käfig war der Boden mit kleinen Federn angestreut, und weißer Flaum flog überall umher. »Mir scheint, sie haben wieder gerauft miteinander!« Während er näher trat, sah er fünf von den Adlern einträchtig in einem Winkel sitzen, während der sechste mit dem Hals in den verbogenen Drähten einer schadhaften Stelle des Gitters hing; der Vogel mußte sich schon halb zu Tode gezappelt haben; sein Gefieder war zerschlagen und abgeschunden, und nur noch wenig zuckten die Schwingen und Fänge.

»Moser! Moser!« schrie Willy erschrocken.

Der Alte kam aus der Zwirchkammer herbeigeschossen. »Was is, Herr Graf?«

»Schnell! Den Schlüssel zum Adlerkäfig! Einer der Vögel hängt im Gitter!«

Jammernd holte Moser den Schlüssel und fand den Adler bereits verendet.

Dem Alten war das Weinen nah. »Der zweite! Was wird der gnädige Herr sagen! Da gnad mir unser lieber Himmelvater!« Die Hände zitterten ihm, und seine schlotternden Backen waren weiß. »Ich kann mir gar net fürstellen, wie so was passieren hat können! Die Gschicht is mir schon völlig unheimlich! Dös geht nimmer zu mit rechte Ding! Passen S' auf, Herr Graf, dös muß was bedeuten!«

»Sie alter Narr!« schalt Willy ärgerlich. »Ich will Ihnen sagen, was es bedeutet: daß Sie immer andere Dinge im Kopf haben, statt für die Vögel zu sorgen, die Ihnen von Papa anvertraut sind wie Kinder einem Vater! Hätten Sie den Käfig überwacht und Ihre Pflicht getan, so ginge nicht einer nach dem andern zugrunde. Das hat es zu bedeuten!«

Während Moser wortlos neben dem verendeten Adler zurückblieb und sich in Zerknirschung den Kehlkopf kraute, bummelte Willy dem Parktor und der Straße zu.


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