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Als sich Isabella allein in dem unbekannten Zimmer sah, in dem die Gefahr jeden Augenblick in geheimnisvoller Gestalt auftauchen konnte, fühlte sie ihr Herz von einer unaussprechlichen Angst bedrückt, obschon ihre umherziehende Lebensweise sie mutiger gemacht hatte, als Frauen sonst zu sein pflegen. Dennoch hatte der Ort in seinem altväterischen, aber wohlerhaltenen Luxus nichts Unheimliches. Die Flammen tanzten lustig auf den ungeheuren Holzscheiten des Herdes, die Kerzen verbreiteten einen hellen Schein. Eine wohltätige Wärme herrschte, und alles lud zu Ruhe und Behagen ein.
Die Wandgemälde empfingen nicht zuviel Licht, und das Porträt, das Isabella über dem Kamin bemerkte, hatte nicht jenen bei gewissen Bildnissen fast ganz furchterregenden starren Blick, der gleichwohl dem Beschauer zu folgen scheint. Es schien vielmehr mit ruhiger, gönnerhafter Miene zu lächeln wie das Bild eines Heiligen, den man in der Stunde der Gefahr anrufen kann.
All diese beruhigende gastliche Umgebung vermochte gleichwohl nicht Isabellas Nerven zu beschwichtigen. Sie zitterten wie die Saiten einer Gitarre, die soeben gespielt worden.
Bald wurde ihre Unruhe so stark, daß sie beschloß, dieses helle, warme und bequeme Zimmer zu verlassen, um sich selbst auf die Gefahr einer gespenstischen Begegnung hin in die Korridors des Schlosses zu wagen und einen vergessenen Ausgang oder irgendeinen Zufluchtsort zu suchen. Nachdem sie sich überzeugt, daß die Türen ihres Zimmers nicht verschlossen waren, nahm sie die Lampe, die der Lakai für die Nacht hier stehengelassen, schirmte sie mit der Hand gegen den Luftzug und begab sich auf den Weg.
Zunächst stieß sie auf die Treppe mit dem schön verzierten eisernen Geländer, die sie, vom Diener begleitet, heraufgekommen war. Sie stieg jetzt diese Treppe wieder hinab, in der richtigen Erwägung, daß in dem ersten Stockwerk sich kein ihrer Flucht günstiger Ausgang befinden könnte. Am Fuße der Treppe gewahrte sie eine große Flügeltür, deren Knopf sie umdrehte und die sich vor ihr mit einem Knistern des Holzes und einem Knarren der Angeln öffnete.
Der schwache Schimmer der in der feuchten Luft eines lange geschlossen gewesenen Zimmers knisternden Lampe machte ein umfangreiches Gemach sichtbar. Große Bänke von Eichenholz standen an den mit Tapeten bekleideten Wänden, an denen Trophäen von Waffen, Handschuhen, Schwertern und Schildern hingen. Ein schwerfälliger Tisch mit massiven Füßen nahm die Mitte des Zimmers ein. Sie ging um ihn herum; wer aber beschreibt ihr Entsetzen, als sie sich der der Eingangstür gegenüber befindlichen, in die nächstfolgenden Zimmer führenden Tür näherte, und hier zwei vom Kopf bis zum Fuße geharnischte Gestalten erblickte, die wie Schildwachen unbeweglich zu beiden Seiten standen und ihre gekreuzten Panzerhandschuhe auf dem Griff großer Schwerter ruhen ließen, deren Spitze auf der Erde stand. Die Visiere ihrer Helme stellten scheußliche Vogelgesichter vor; auf dem obern Teil der Helme starrten wie zuckende Flügel eiserne, wie Federn ziselierte dünne Klingen. Bei dem flackernden Schimmer der Lampe, die in Isabellas Hand zitterte, gewannen diese beiden eisernen Phantome ein wahrhaft furchterregendes Ansehen, wohl geeignet, das mutigste Herz zu schrecken. Auch pochte das der armen Isabella so stark, daß sie sein Klopfen hörte und schwer bereute, ihr Zimmer verlassen und diese abenteuerliche nächtliche Promenade unternommen zu haben. Indessen, da die geharnischten Krieger sich nicht von der Stelle rührten und nicht Miene machten, ihre Schwerter zu schwingen, um ihr den Weg zu versperren, so näherte sie sich dem einen von ihnen und hielt ihm das Licht unter die Nase. Der Geharnischte nahm dieses durchaus nicht übel, sondern behielt mit vollkommener Unempfindlichkeit seine Stellung bei. Isabella hob ihm, nun dreist gemacht und die Wahrheit ahnend, das Visier, hinter dem nichts zu sehen war, als ein leerer finsterer Raum. Die beiden Schildwachen waren nichts weiter als Rüstungen, die man hier zur Zierde aufgestellt. Trotz ihrer Angst und Niedergeschlagenheit konnte Isabella nicht umhin zu lächeln, als sie ihren Irrtum einsah, und trat mutig in das zweite Zimmer, ohne sich weiter um die entlarvten ohnmächtigen Hüter zu kümmern.
Dieses zweite Zimmer war ein umfangreicher Speisesaal, wie aus den hohen Kredenztischen von geschnitztem Eichenholz hervorging, auf denen eine Menge Silber- und Glasgeschirr beisammen stand. Mit einem raschen Blick überschaute Isabella diese altertümliche Pracht und beeilte sich, die dritte Tür zu durchschreiten.
Dieses Zimmer, das der Ehrensaal zu sein schien, war noch größer als die anderen. Das schwache Licht der Lampe erhellte die Tiefe dieses Raumes nicht; wie unzureichend dieser Schein aber auch war, so machte er doch das Dunkel sichtbar und lieh demselben ungeheuerliche Formen und Umrisse. Isabella setzte ihren Weg fort und sah im Hintergrund des Saales einen mit Wappen geschmückten Baldachin über einem Thronsessel, der auf einer mit einem Teppich bedeckten Estrade stand, zu welcher drei Stufen hinaufführten. Isabella beschleunigte ihren Schritt und wie leicht derselbe auch war, so klang doch das Knarren ihrer Schuhe in dieser Totenstille furchtbar laut.
Das vierte Gemach war ein Schlafzimmer, das teilweise von einem ungeheuren Bett eingenommen war, dessen Vorhänge von dunkelrotem, indischem Damast schwer herabfielen.
Auf das Schlafzimmer folgte die Bibliothek. In Schränken, auf denen die Büsten von Dichtern, Philosophen und Geschichtschreibern standen, die Isabella mit ihren großen weißen Augen betrachteten, zeigten zahlreiche Bände ihre mit Zahlen und Titeln bedruckten Rücken, deren Gold beim Vorüberstreifen des Lichtes heller erglänzte.
Das Gebäude machte hier einen rechten Winkel und man kam in eine lange Galerie, die die andere Seite des Hofes einnahm.
Es war dies die Galerie, in der in chronologischer Ordnung die Familienbildnisse aufeinander folgten. Es war für Isabellas Mut eine ebenso schwere Aufgabe, diese von gespenstischen Gesichtern besetzte Galerie zu durchschreiten, wie für einen Soldaten, im Schritt vor einem Gewehrfeuer vorbeizumarschieren. Kalter Angstschweiß benetzte ihre Schultern, und es war ihr, als ob diese gepanzerten Phantome aus ihren Rahmen herabstiegen und ihr wie ein Leichenzug auf dem Fuße folgten. Sie glaubte sogar ihre Schattentritte auf dem Fußboden schlürfen zu hören. Endlich erreichte sie das andere Ende dieses breiten Ganges und stieß auf eine Glastür, die in den Hof führte. Sie öffnete sie nicht ohne sich die Finger fast an dem alten verrosteten Schlüssel zu quetschen, den sie kaum im Schlosse umzudrehen vermochte, und nachdem sie ihre Lampe an eine geschützte Stelle gesetzt hatte, um sie später wiederzufinden, verließ sie die Galerie, diesen Ort nächtlicher Schrecken.
Beim Anblick des freien Himmels, an dem einige Sterne, die durch das weiße Licht des Mondes nicht vollständig überstrahlt wurden, mit silbernem Scheine funkelten, empfand Isabella eine innige und tiefe Freude, als ob sie vom Tod zum Leben erwachte. Obwohl ihre Lage noch in keiner Beziehung gebessert war, fiel doch eine unendliche Last von ihrer Brust. Sie setzte ihre Forschungen weiter fort, der Hof war aber überall sorgsam geschlossen, wie der Gürtel einer Festung, mit Ausnahme eines kleinen Ausfalltores, das wahrscheinlich auf den Wassergraben ging, denn Isabella fühlte, indem sie sich vorsichtig hinausbog, die feuchte Frische des tiefen Wassers ihr ins Gesicht schlagen wie ein Windstoß, und sie hörte, wie eine leichte Welle sich am Fuße der Mauer brach. Dort wahrscheinlich wurden die Lebensmittel für die Schloßküche eingeliefert. Aber um hierher zu gelangen oder sich auf diesem Wege zu entfernen, bedurfte man eines kleinen Bootes, das ohne Zweifel am Fuße der Umfassungsmauer in einer Vertiefung lag, die Isabella nicht erreichen konnte. Von diesem Punkte aus war ein Entweichen also ebenso unmöglich wie von den andern.
Dies erklärte die verhältnismäßig große Freiheit, die man der Gefangenen gelassen hatte. Ihr Käfig stand offen wie der jener überseeischen Vögel, die auf den Schiffen gebracht werden. Man weiß, sie werden nach einem kurzen Ausfluge sich wieder auf die Masten niederlassen müssen, weil das nächste Land noch so weit entfernt ist, daß die Flügel erlahmen würden, ehe sie es erreichten.
In einem Winkel des Hofes fiel ein rötlicher Schein durch die Ritzen der Fensterläden eines Zimmers zu ebener Erde. Isabella lenkte ihre Schritte nach diesem Lichtschein. Von einer leichtbegreiflichen Neugier getrieben, legte sie das Auge an die Ritze eines Ladens, und sie konnte nun mit leichter Mühe beobachten, was im Innern des Zimmers vorging.
Um einen Tisch herum zechten Strolche von einem wilden, verdächtigem Aussehen. Obwohl Isabella sie nur maskiert gesehen hatte, erkannte sie in ihnen ohne Mühe die Männer, die bei ihrer Entführung mitgearbeitet hatten. Es waren Piedgris, Tordgueule, Rapée und Bringuenarilles. Am Ende des Tisches saß Agostin ohne die Perücke und den falschen Bart, dessen er sich bedient hatte, um den Blinden zu spielen. Auf dem Ehrenplatze saß Malartic, einstimmig erwählter König des Gelages. Sein Gesicht war weißer und seine Nase röter als gewöhnlich, eine Erscheinung, die sich durch die Zahl der auf dem Schenktische stehenden bereits geleerten und der noch vollen Flaschen erklärte, die der Kellermeister mit unermüdlichem Eifer ihm vorsetzte.
Isabella stand schon im Begriff sich zu entfernen, als Malartic, um Schweigen zu gebieten, mit der Faust auf den Tisch schlug, daß die Flaschen taumelten und die Gläser tanzten. Er erhob sich und sagte, indem er sein Glas hob und den Wein im Licht der Lampe funkeln ließ:
»Freunde, höret das Lied an, das ich gedichtet, denn ich handhabe die Leier ebensogut als den Degen, ein Trinklied, wie es einem guten Zechbruder zukommt. Die Fische, die Wasser saufen, sind stumm; tränken sie Wein, so würden sie singen.«
»Das Lied! das Lied! wir wollen hören!« riefen Bringuenarilles, Rapée, Tordgueule und Piedgris.
Malartic räusperte sich, hustete ein paarmal, um die Kehle frei zu machen, und stimmte dann mit allen Manieren eines bei Hofe auftretenden Sängers mit einer Stimme, die, obschon ein wenig rauh, doch ziemlich richtig intonierte, ein von ihm gedichtetes und komponiertes Trinklied an, das mit lautem Beifall aufgenommen wurde. Man füllte die Gläser, um sie zu Ehren des Sängers zu leeren, und nachdem dies geschehen, machte jeder die Nagelprobe, um zu beweisen, daß er gewissenhaft ausgetrunken. Dies gab den Schwächeren der Bande vollends den Rest. Rapée sank langsam unter den Tisch und bildete hier eine Matratze für Bringuenarilles, Piedgris und Tordgueule, die mehr vertragen konnten, ließen bloß ihre Köpfe vorwärts sinken und schliefen, ihre gekreuzten Arme als Kopfkissen benützend ein.
Malartic aber saß kerzengerade in seinem Stuhle, den Becher in der Faust, mit den Augen blinzelnd, und während seine Nase von so lebhaftem Rot strahlte, daß sie Funken zu sprühen schien wie ein aus dem Schmiedeofen gezogenes Eisen.
Angewidert von diesem Schauspiel trat Isabella von der Ritze des Fensterladens hinweg, und setzte ihre Forschungen weiter fort, die sie bald unter die Wölbung führten, an der die Ketten der aufgezogenen Zugbrücke mit ihren schweren Gegengewichten hingen. Es war für sie keine Hoffnung vorhanden, diese schwere Maschine in Bewegung setzen zu können, und da man, um herauszukommen, die Brücke niederlassen mußte, weil das Schloß keinen andern Ausgang hatte, mußte die Gefangene allen Fluchtplänen entsagen. Sie ging daher, um wieder ihre Lampe zu holen, die sie in der Porträtgalerie gelassen. Sie durchschritt diese jetzt mit geringerer Furcht. Dann ging sie rasch durch die Bibliothek, den Ehrensaal und alle andern Gemächer, die sie mit ängstlicher Vorsicht untersucht hatte.
Wie groß aber war ihr Schreck, als sie von der Schwelle ihres Zimmers aus eine seltsame Gestalt in der Ecke ihres Kamins sitzen sah. Es war ein schwächlicher, zart gebauter Körper, aber doch ein sehr lebendiger, wie es zwei große wildfunkelnde Augen verrieten, die mit bestrickender Ruhe sich auf die im Rahmen des Türgewändes stehende Isabella hefteten.
Es war Chiquita, nicht in ihrem Mädchenkostüm, sondern noch als Knabe verkleidet, wie sie gewesen war, um den Führer des angeblichen Blinden zu spielen.
Sobald Isabella das seltsame Geschöpf erkannte, erholte sie sich von dem Schrecken, den ihr die unerwartete Erscheinung eingejagt hatte. Chiquita war an und für sich nicht sehr furchtbar, und überdies schien sie auch gegen die junge Schauspielerin eine wunderliche Dankbarkeit zu fühlen, die sie in ihrer Weise schon bei dem ersten Zusammentreffen an den Tag gelegt hatte.
»Hast du das Messer noch?« fragte Chiquita, als Isabella sich dem Kamin genähert hatte, »das Messer mit den drei roten Streifen?«
»Ja, Chiquita,« antwortete Isabella, »ich trage es hier in meinem Mieder. Aber warum diese Frage? Schwebt mein Leben vielleicht in Gefahr?«
»Ein Messer,« sagte die Kleine, deren Augen mit wildem Glanze funkelten, »ein Messer ist ein treuer Freund. Es verrät seinen Herrn nicht, wenn dieser ihm nur immer zu trinken gibt, denn das Messer hat Durst.«
»Du machst mir Furcht, böses Kind«, entgegnete Isabella, die diese unheimlichen Worte beunruhigten, obschon sie eine Warnung enthalten konnten.
Dennoch hatte andererseits Chiquitas Anwesenheit in ihrem Zimmer für sie etwas Tröstliches. Die Kleine schien für sie eine Zuneigung zu hegen, die, wenn sie sich auch auf einen alltäglichen Beweggrund stützte, nicht weniger aufrichtig war.
»Dir werde ich niemals den Hals abschneiden«, hatte Chiquita gesagt, und in ihrem weltfremden Ideengange war dies ein feierliches Versprechen, ein Bündnispakt, den sie nicht verletzen durfte. Isabella war das einzige menschliche Wesen, das nächst Agostin ihr Sympathie bewiesen. Von ihr hatte sie das erste Kleinod, mit dem sich ihre kindische Koketterie schmücken durfte. Noch zu jung, um eifersüchtig zu sein, bewunderte sie naiv die Schönheit der jungen Schauspielerin. Dieses sanfte Antlitz übte eine verführerische Macht auf sie aus, die bis jetzt nur wilde und grimmige Gesichter gesehen, auf denen nur Gedanken an Raub und Mord geschrieben standen.
»Wie kommt es, daß du hier bist?« fragte Isabella nach kurzem Schweigen. »Bist du beauftragt, mich zu bewachen?«
»Nein,« antwortete Chiquita, »ich bin ganz allein hierhergegangen. Das Licht und das Feuer sind meine Führer gewesen. Es war mir langweilig, da unten in einem Winkel zu sitzen, während die Männer eine Flasche nach der andern tranken. Ich bin so klein, so jung und so mager, daß man auf mich nicht mehr achtet, als auf eine Katze, die unter dem Tische schläft. Während der Lärm am tollsten war, entschlüpfte ich.«
»Und du hast dich nicht gefürchtet, ohne Licht durch diese langen finsteren Gänge und großen Zimmer zu irren?«
»Chiquita kennt keine Furcht. Ihre Augen sehen im Dunkeln, ihre Füße gehen darin, ohne zu straucheln. Ich will lieber hier bleiben, bei dem Feuer, bei dir, du bist schön, und ich sehe dich gerne an. Du gleichst der guten heiligen Jungfrau, die ich auf dem Altare strahlen gesehen, aber nur von weitem, denn man jagte mich mit den Hunden aus der Kirche und sagte, ich sei schlecht gekämmt, und mein gelber Rock würde die Andächtigen zum Lachen reizen. Wie weiß deine Hand ist! Die meinige sieht, darauf gelegt, aus wie eine Affenpfote. Dein Haar ist fein wie Seide, das meinige starrt wie eine Bürste. Oh, ich bin sehr häßlich, nicht wahr?«
»Nein, liebe Kleine,« antwortete Isabella, durch diese Bewunderung wider Willen gerührt, »du besitzest auch deine Schönheit. Du brauchst bloß ein wenig hergerichtet zu werden, um dich zu den hübschesten Mädchen zählen zu können.«
»Glaubst du? Nun, dann will ich schöne Kleider stehlen, und dann wird Agostin mich lieben.«
Dieser Gedanke erleuchtete das wilde Gesicht des Kindes, und einige Minuten lang war sie wie in wonniges tiefes Träumen versunken.
»Weißt du, wo wir hier sind?« hob Isabella wieder an, als Chiquita die eine Weile zu Boden gesenkten langen schwarzen Wimpern wieder aufschlug.
»In einem Schloß, das einem vornehmen Herrn gehört, der ungeheuer viel Geld hat, und der dich schon in Poitiers entführen lassen wollte. Ich brauchte bloß den Riegel zurückzuziehen, und die Sache war gemacht. Du hattest mir aber das Perlenhalsband geschenkt, und ich wollte dir keinen Kummer machen.«
»Diesmal aber hast du dennoch mich rauben geholfen«, sagte Isabella. »Du liebst mich also wohl nicht mehr, da du mich meinen Feinden in die Hände lieferst?«
»Agostin hatte befohlen, ich mußte gehorchen. Übrigens hätte sonst ein anderer den Führer des Blinden gemacht, und ich wäre dann nicht mit dir in das Schloß hereingekommen. Hier kann ich dir vielleicht zu etwas nützen. Ich bin mutig, behend und stark, wenn auch klein, und ich will nicht, daß man dir Übles tue.«
»Ist dieses Schloß, in dem man mich gefangen hält, weit von Paris?« sagte Isabella, indem sie Chiquita zwischen ihre Knie zog. »Hast du von einem der Männer vielleicht den Namen nennen hören?«
»Ja; Tordgueule sagte, der Ort hieße – aber wie denn gleich?« sagte die Kleine, indem sie sich mit verlegener Miene am Kopfe kratzte.
»Sieh zu, ob du dich darauf besinnen kannst, mein Kind«, sagte Isabella, indem sie mit der Hand die braunen Wangen Chiquitas streichelte, die vor Freude über diese Liebkosung errötete, denn noch nie hatte jemand ihr eine solche Aufmerksamkeit bewiesen.
»Ich glaube, der Name war Vallombreuse«, antwortete Chiquita Silbe um Silbe, als ob sie ein inneres Echo hörte. »Ja, Vallombreuse, jetzt weiß ich es gewiß. Das Schloß führt denselben Namen wie der vornehme Herr, den dein Freund, der Kapitän Fracasse, im Duell verwundet hat. Besser wäre es freilich gewesen, wenn er ihn getötet hätte. Dieser Herzog ist sehr bösartig. Du hassest ihn, nicht wahr? und es wäre dir sehr lieb, wenn du ihm entrinnen könntest?«
»Ja, aber das ist unmöglich«, sagte die junge Schauspielerin. »Ein tiefer Wassergraben umgibt das Schloß, und die Zugbrücke ist aufgezogen. Jede Flucht wäre unausführbar.«
»Chiquita spottet der Gittertore, der Schlösser, der Mauern und der Wassergräben. Chiquita kann, wenn sie Lust hat, das festeste Gefängnis verlassen und vor den Augen des verblüfften Kerkermeisters in den Mond hinauffliegen. Wenn sie will, so wird, ehe noch die Sonne aufgeht, der Kapitän erfahren, wo die, die er sucht, versteckt gehalten wird.«
Isabella fürchtete, als sie diese unzusammenhängenden Worte hörte, der Wahnsinn habe Chiquitas schwaches Gehirn verwirrt; die Züge der Kleinen aber waren so vollkommen ruhig, ihre Augen hatten einen so hellen Blick und der Ton ihrer Stimme einen solchen Ausdruck von Überzeugung, daß diese Annahme nicht zulässig war. Ganz gewiß besaß dieses seltsame Geschöpf einen gewissen Grad der beinahe magischen Gewalt, die es sich beilegte.
Wie um Isabella zu überzeugen, daß sie nicht prahlte, sagte Chiquita:
»Ich will sogleich von hier fort. Laßt mich einen Augenblick nachdenken, um das Mittel zu finden. Sprich nicht; halte den Atem an. Das mindeste Geräusch stört mich. Ich muß den Geist hören.«
Chiquita senkte den Kopf, legte die Hand auf die Augen, um sich zu isolieren, und verharrte einige Minuten lang in völliger Unbeweglichkeit. Dann richtete sie die Stirn wieder empor, öffnete das Fenster, stieg auf dessen Brett und schaute mit angestrengter Aufmerksamkeit in die Finsternis hinab. Am Fuße der Mauer hörte man das Anschlagen des von dem Nachtwinde bewegten schwarzen Wassers im Graben. Dem Fenster gegenüber, auf der andern Seite des Wassergrabens, stand ein großer, mehrere hundert Jahre alter Baum, dessen größte und stärkste Zweige sich beinahe horizontal halb über die Erde, halb über das Wasser des Grabens erstreckten; doch war die äußerste Spitze des längsten Astes immer noch acht bis zehn Fuß von der Mauer entfernt. Dieser Baum war es, auf den Chiquita ihren Fluchtplan baute. Sie stieg wieder von dem Fenster herunter und zog aus einer ihrer Taschen eine sehr feine, sehr feste, zehn bis zwölf Ellen lange Haarschnur, die sie sorgfältig auf dem Fußboden aufrollte. Dann nahm sie aus einer andern Tasche eine Art eisernen Angelhaken, den sie an der Schnur befestigte. Hierauf näherte sie sich wieder dem geöffneten Fenster und schleuderte den Haken in die Äste des Baumes. Das erstemal griff der Haken nicht, sondern fiel mit der Schnur klirrend an die Steine der Mauer. Bei dem zweiten Versuche jedoch griff die Angel in die Rinde ein, und Chiquita gab nun Isabella die Schnur in die Hände und bat sie, sich mit ihrem ganzen Gewicht daranzuhängen. Der angehakte Ast gab so weit nach, als die Biegsamkeit des Stammes gestattete, und näherte sich dem Fenster um fünf bis sechs Fuß. Nun befestigte Chiquita die Schnur durch einen festen Knoten an dem eisernen Geländer des Balkons, hob ihren zartgebauten Körper mit eigentümlicher Behendigkeit empor, hing sich mit den Händen an die Schnur und erreichte, indem sie sich daran fortgriff, sehr bald den Ast. Sobald sie fühlte, daß er fest war, schwang sie sich dahin und kam fest darauf zu sitzen.
»Knüpfe jetzt den Knoten der Schnur auf, damit ich sie herüberziehen kann,« sagte sie dann zu der Gefangenen mit leiser, aber deutlicher Stimme; »wenn du nicht Lust hast, mir zu folgen. Aber die Furcht wird dir die Kehle zuschnüren, und der Schwindel dich an den Füßen ziehen, so daß du ins Wasser stürzen müßtest. Leb wohl, ich gehe nach Paris und werde bald wieder da sein. Im Mondschein kommt man schnell vorwärts.«
Isabella gehorchte. Der Baum, nicht mehr festgehalten, schnellte sofort in seine gewöhnliche Stellung zurück und versetzte Chiquita an das andere Ufer des Grabens. Binnen weniger als einer Minute befand sie sich am Fuße des Stammes auf festem Boden und bald sah die Gefangene, wie Chiquita sich mit raschem Schritt entfernte und in die bläulichen Schatten der Nacht verlor.
Alles Geschehene erschien Isabella wie ein Traum. Wie in einer Betäubung befangen, hatte sie noch nicht wieder das Fenster geschlossen, sondern betrachtete den unbewegten Baum, der ihr gegenüber die schwarzen Linien seines Skeletts auf dem Milchgrau einer Wolke zeichnete, hinter der sich die Scheibe des Mondes barg.
Sie schauderte, als sie sah, wie dünn der Ast an seinem äußersten Ende war, dem die mutige, leichte Chiquita sich anzuvertrauen nicht gefürchtet hatte. Sie fühlte sich gerührt bei dem Gedanken an die Anhänglichkeit, die ihr dieses elende, verwilderte Geschöpf bewies.
Als endlich die frische Nachtluft allzu fühlbar wurde, schloß sie die Fenster wieder, zog die Vorhänge herab und setzte sich in einen Lehnsessel an den Kamin, wo sie die Füße auf die blanken Kugeln der Feuerböcke stemmte. Sie hatte sich kaum gesetzt, als der Haushofmeister mit denselben beiden Dienern eintrat, die einen kleinen, mit einem kostbaren Damasttuch gedeckten Tisch trugen, worauf ein nicht weniger gewähltes und köstliches Abendbrot als das Mittagessen serviert war.
Wären die Lakaien nur einige Minuten eher gekommen, so wäre dadurch Chiquitas Flucht vereitelt worden.
Isabella, noch ganz aufgeregt von der ergreifenden Szene, berührte die ihr vorgesetzten Gerichte nicht, sondern gab zu verstehen, daß man sie wieder mitnehmen solle. Der Haushofmeister ließ jedoch einen Teil der Speisen in die Nähe des Bettes stellen und legte ein vollständiges feines, mit Spitzen besetztes Nachtkostüm auf einen Sessel. Mehrere große Holzscheite wurden dann auf die noch glühenden Kohlen geworfen und frische Kerzen aufgesteckt. Hierauf sagte der Haushofmeister, wenn Isabella zu ihrer Bedienung eine Kammerfrau bedürfe, so wolle er ihr eine schicken. Da die junge Komödiantin eine verneinende Gebärde machte, so entfernte sich der Haushofmeister, nachdem er ihr auf die ehrerbietigste Weise gute Nacht gewünscht hatte.
Sobald er mit den Lakaien das Zimmer verlassen hatte, warf Isabella den ihr gebrachten Nachtmantel um die Schultern und legte sich völlig angekleidet auf das Bett. Dann zog sie Chiquitas Messer aus dem Mieder, öffnete es, drehte die Zwinge und legte es neben sich. Nach diesen Vorsichtsmaßregeln schloß sie ihre langen Wimpern und wollte schlafen, aber der Schlaf ließ sich bitten. Die Ereignisse des Tages hatten ihre Nerven aufgeregt, und die Furcht vor dieser Nacht war auch nicht geeignet, sie zu beruhigen. Endlich aber übermannte sie der Schlummer.
Nach einem Schlafe, der von seltsamen Träumen beunruhigt worden, in dem sie bald Chiquita, die Arme wie Flügel bewegend, vor dem zu Pferde sitzenden Kapitän Fracasse herrennen, bald den Herzog von Vallombreuse mit vor Haß und Liebe flammenden Augen sah, erwachte Isabella und war ganz erstaunt, daß sie solange geschlafen hatte. Die Kerzen waren fast vollständig niedergebrannt, die Holzscheite hatten sich in kaum noch glühende Asche verwandelt, und ein durch die Ritzen der Vorhänge dringender heiterer Sonnenstrahl spielte auf ihrem Bette. Diese Rückkehr des Tageslichts war für die Gefangene eine große Erleichterung. Ihre Lage hatte sich gewiß um nichts gebessert, aber die Gefahr war doch frei von jenen phantastischen Schrecknissen, womit die Nacht und das Unbekannte selbst das festeste Gemüt erfüllt.
Ihre Freude war jedoch nicht von langer Dauer, denn plötzlich ließ das Knarren und Klirren von Ketten sich vernehmen, die Zugbrücke senkte sich, das Rollen einer schnellfahrenden Karosse dröhnte darüber hinweg, klang dann unter dem Gewölbe wie dumpfer Donner und verhallte in dem innern Hof. Wer anders konnte auf diese stolze gebieterische Weise nahen, als der Herr des Hauses, der Herzog von Vallombreuse selbst? Isabella fühlte an jener innern Bewegung, die der Taube die Nähe des Geiers verkündet, obwohl sie ihn noch nicht sieht, daß es wirklich der Feind war und kein anderer. Ihre schönen Wangen wurden bleich wie Wachs, und ihr armes kleines Herz begann in der Festung seines Mieders zum Rückzug zu schlagen, obschon es nicht Lust hatte, sich zu ergeben. Dies dauerte jedoch nicht lange. Bald raffte sie ihren Mut wieder zusammen und machte sich zur Verteidigung bereit.
»Wenn nur«, sagte sie bei sich, »Chiquita noch zeitig genug kommt und mir Hilfe bringt.«
Ihre Augen hefteten sich unwillkürlich auf das über dem Kamin hängende Porträt:
»O du, dessen Antlitz so edel und gut ist, schütze mich gegen die Gewalttätigkeit und Bosheit deines Nachkommen! Gestatte nicht, daß dieser Ort, wo dein Bild strahlt, Zeuge meiner Schande sei!«
Nach Verlauf einer Stunde, die der junge Herzog brauchte, um die Unordnung zu beseitigen, die eine rasche Reise in der Toilette hervorzubringen pflegt, erschien der Haushofmeister, um den Herzog von Vallombreuse anzumelden. Isabella hatte sich halb von ihrem Sessel erhoben, in den sie totenbleich vor Gemütsbewegung niedergesunken war.
Vallombreuse kam, mit dem Hute in der Hand und in der ehrerbietigsten Haltung auf sie zu. Als er sie bei seiner Annäherung zusammenzucken sah, blieb er in der Mitte des Zimmers stehen, verneigte sich und sagte mit jener Stimme, die er so sanft und verführerisch zu machen verstand:
»Wenn meine Gegenwart Ihnen jetzt noch zuwider ist, reizende Isabella, und Sie vielleicht einiger Zeit bedürfen, um sich an den Gedanken meines Anblickes zu gewöhnen, so will ich mich wieder entfernen. Sie sind allerdings meine Gefangene, aber deswegen bin ich nicht weniger Ihr Sklave.«
»Diese Höflichkeit kommt etwas spät nach der Gewalttätigkeit, die Sie gegen mich in Anwendung gebracht haben«, antwortete Isabella.
»Dies ist die Folge, wenn man durch eine zu grausame Tugend die Leute zum Äußersten treibt. Wenn sie keine Hoffnung mehr haben, so greifen sie zu den verwegensten Mitteln, weil sie ja wissen, daß sie dadurch ihre Lage nicht verschlimmern können. Wenn Sie gestattet hätten, daß ich Ihnen den Hof machte, wenn Sie meine Liebesglut ein wenig begünstigt hätten, wäre ich in den Reihen Ihrer Anbeter geblieben, und hätte durch galante Aufmerksamkeiten und ritterliche Hingebung dieses widerspenstige Herz allmählich zu erweichen gesucht.«
»Wenn Sie diese redlichen Mittel angewandt hätten,« sagte Isabella, »so hätte ich eine Liebe beklagt, die ich nicht hätte teilen können, weil ich mein Herz niemals verschenken werde. Wenigstens aber wäre ich dann nicht gezwungen gewesen, Sie zu hassen, denn der Haß ist ein Gefühl, das für meine Seele nicht geschaffen ist.«
»Sie verabscheuen mich also sehr«, sagte der Herzog von Vallombreuse, während seine Stimme vor Unmut zu zittern begann. »Aber dennoch verdiene ich dies nicht. Das Unrecht, dessen ich mich gegen Sie vielleicht schuldig mache, hat seinen Grund eben in meiner Leidenschaft, und welche Dame, möge sie noch so keusch und tugendhaft sein, zürnt wohl ernstlich einem galanten Manne wegen der Wirkung, die ihre Reize, wenn auch gegen ihren Willen, auf ihn ausgeübt haben?«
»Gewiß ist dies kein Grund zur Abneigung, solange der Liebende sich in den Grenzen der Ehrerbietung hält«, entgegnete Isabella. »Selbst die Sprödeste kann ihn dann ertragen, wenn aber seine zudringliche Ungeduld sich gleich anfangs dem äußersten Exzeß hingibt und Hinterhalt, Raub und Einsperrung in Anwendung bringt, wie Sie sich zu tun nicht gescheut haben, so ist kein anderes Gefühl möglich als unüberwindlicher Widerwille. Jede ein wenig stolze Seele empört sich, wenn man sie zwingen will. Die Liebe, die göttlichen Ursprunges ist, läßt sich weder befehlen noch erpressen.«
»Also, unüberwindlicher Widerwillen – dies ist alles, was ich von Ihnen erwarten kann«, antwortete Vallombreuse, dessen Wangen bleich geworden waren und der sich mehr als einmal auf die Lippen gebissen hatte, während Isabella mit sanfter Festigkeit sprach.
»Wohl gäbe es ein Mittel für Sie,« hob sie wieder an, »meine Achtung wieder zu gewinnen und meine Freundschaft zu erwerben. Geben Sie mir großmütig die Freiheit zurück, die Sie mir raubten. Lassen Sie mich in einem Wagen zu meinem Freunde bringen, der nicht weiß, was aus mir geworden ist, und mich in tödlicher Angst und Unruhe suchen wird. Lassen Sie mich wieder mein bescheidenes Komödiantenleben aufnehmen, ehe dieses Abenteuer, durch das meine Ehre leiden könnte, unter dem über meine Abwesenheit verwunderten Publikum bekannt wird.«
»Welch Unglück,« rief der Herzog, »daß Sie von mir gerade das einzige verlangen, was ich Ihnen nicht gewähren kann, ohne mich selbst zu verraten. Begehren Sie einen Thron, und ich werde Ihnen einen erobern; verlangen Sie einen Stern, und ich werde den Himmel stürmen und Ihnen einen herabholen. Sie wollen aber, daß ich Ihnen die Tür dieses Käfigs öffne, in den Sie, sobald Sie einmal hinaus sind, niemals zurückkehren würden. Das ist unmöglich. Ich weiß, Sie lieben mich so wenig, daß mir, um Sie zu sehen, nichts weiter übrigbleibt, als Sie einzusperren. Was dieses Mittel auch meinem Stolze kosten möge, so bringe ich es doch in Anwendung, denn ich kann Ihre Nähe ebensowenig entbehren, wie eine Pflanze das Licht. Wenn das, was ich gewagt habe, ein Verbrechen ist, so muß ich wenigstens Nutzen davon ziehen, denn verzeihen würden Sie mir es doch nicht, obgleich Sie es sagen. Hier habe ich Sie wenigstens. Ich umgebe Ihren Haß mit meiner Liebe, ich lasse über das Eis Ihrer Kälte den warmen Atem meiner Leidenschaft wehen. Ihre Augen sind gezwungen, mein Bild widerzuspiegeln, Ihr Ohr den Ton meiner Stimme zu hören. Trotz Ihres Widerwillens dringt etwas von mir in Ihre Seele; ich wirke auf Sie ein, wäre es auch nur durch die Furcht, die ich in Ihnen erwecke. Das Geräusch meines Trittes im Vorzimmer läßt Sie erzittern. Ferner trennt auch diese Gefangenschaft Sie von dem Manne, nach dem Sie sich sehnen, und den ich verabscheue, weil er das Herz, das mein gewesen wäre, abwendig gemacht hat. Meine befriedigte Eifersucht begnügt sich mit diesem dürftigen Glück und will es nicht dadurch aufs Spiel setzen, daß Ihnen die Freiheit geschenkt würde, die Sie nur zu meinem Nachteile benutzen würden.«
»Und«, fragte Isabella, »wie lange gedenken Sie mich nicht wie ein Christ und Edelmann, sondern wie ein Barbar und Seeräuber so gefangenzuhalten?«
»Bis Sie mich lieben oder es mir sagen, was auf ein und dasselbe hinausläuft«, antwortete der junge Herzog in völligem Ernst und mit der überzeugtesten Miene von der Welt. Dann verneigte er sich auf die anmutigste Weise und verließ das Zimmer mit vollkommen ungezwungener Haltung wie ein echter Hofmann, der durch nichts in Verlegenheit gebracht wird.
Eine halbe Stunde später brachte ein Lakai ein Bukett von den seltensten Blumen, die ihre Farben und ihren Wohlgeruch mischten. Der untere Teil des Buketts war von einem prachtvollen, einer Königin würdigen Armband umschlossen.
Der Duft der größtenteils fremden Blumen entwickelte sich durch die Wärme des Zimmers in fast betäubender und schwindelerregender Weise. Isabella ergriff sie und warf sie in das Vorzimmer, ohne das Diamantenarmband zurückzubehalten, denn sie fürchtete, daß dieses sowohl als die Blumen in irgendeine narkotische Substanz getaucht sein könnten.
Kaum hatte sie das geächtete Bukett auf einen Kredenztisch des Nebenzimmers geworfen und sich wieder in ihren Lehnstuhl gesetzt, als eine Zofe erschien, um ihr bei ihrer Toilette behilflich zu sein. Dieses sehr hübsche und sehr bleiche Mädchen, von sanftem und wehmütigem Aussehen hatte bei all ihrem Eifer doch etwas Lebloses und schien von einer geheimen Angst oder einer furchtbaren Last niedergebeugt zu sein. Sie bot Isabella ihre Dienste an, fast ohne sie anzusehen, mit einer tonlosen Stimme, als ob sie gefürchtet hätte, von dem Ohr der Wände gehört zu werden. Auf Isabellas bejahende Gebärde kämmte sie ihr das infolge der gewaltsamen Auftritte des vorigen Tages und der unruhigen Nacht ganz in Unordnung geratene blonde Haar, knüpfte Samtschleifen in die seidenen Locken, und entledigte sich ihrer Aufgabe wie eine Dienerin, die ihr Handwerk versteht. Dann nahm sie aus einem in der Wand angebrachten Schrank mehrere Kleider von seltener Eleganz, die eigens für Isabella angefertigt zu sein schienen; diese aber wollte keines davon anlegen, obschon das ihrige alt und zerknittert war. Denn es wäre ihr dann vorgekommen, als trüge sie die Livree des Herzogs, und ihr fester Entschluß war, nichts anzunehmen, was von dem Herzog käme, sollte ihre Gefangenschaft auch noch solange dauern. Die Zofe bestand weiter nicht auf ihrem Verlangen, sondern respektierte Isabellas Laune. Isabella, die anfangs geglaubt hatte, sie könne einige Aufschlüsse durch sie erhalten, sah ein, daß es vergeblich sein würde, sie ausfragen zu wollen, und überließ sich daher nicht ohne eine gewisse Anwandlung von Furcht ihren stummen Dienstleistungen.
Als die Zofe sich entfernt hatte, brachte man indes das Mittagessen, und trotz ihrer traurigen Lage ließ Isabella ihm Gerechtigkeit widerfahren. Die Natur macht ihre Rechte geltend selbst bei dem zartest organisierten Wesen. Dieses Mahl gab der Gefangenen die Kräfte, deren sie im höchsten Grade bedurfte, denn die ihrigen waren durch alle diese vorangegangenen Auftritte und Gemütsbewegungen im höchsten Grade erschöpft.
Als sie etwas ruhiger geworden war, begann sie an Sigognac zu denken. Jetzt war er nun jedenfalls benachrichtigt, und es war kein Zweifel, daß er zur Verteidigung derjenigen, die er mehr liebte als sein Leben, herbeieilen würde. Bei dem Gedanken an die Gefahren, denen er bei diesem gewagten Unternehmen sich aussetzen würde – denn der Herzog war nicht der Mann, der sich seine Beute ohne Widerstand entreißen ließ – wurde Isabellas Busen durch einen tiefen Seufzer gehoben, und eine Träne stieg ihr aus dem Herzen in die Augen.
Soweit war sie in ihren Betrachtungen gekommen, als an dem Fenster sich ein leises Geräusch hören ließ, gerade als ob mit einem Steinchen daran geworfen würde. Isabella näherte sich dem Fenster und sah auf dem gegenüberstehenden Baume Chiquita, die ihr geheimnisvoll winkte, das Fenster zu öffnen, und die am äußersten Ende mit einem eisernen Haken versehene Schnur hin und her schwang. Die Gefangene begriff sofort die Absicht der Kleinen, gehorchte dem Winke, und der von sicherer Hand geschleuderte Haken biß sich am Balkonfenster fest. Chiquita knüpfte sofort das andere Ende der Schnur an den Ast und hing sich daran wie am Abend vorher; sie war aber noch nicht zur Hälfte herüber, als der Knoten zu Isabellas Schrecken aufging und sich von dem Baume ablöste.
Anstatt jedoch in das grüne Wasser des Grabens zu fallen, schlug Chiquita, deren Geistesgegenwart durch diesen Unfall, wenn es ein solcher war, nicht erschüttert wurde, mit der durch den Haken an dem Balkon festhaltenden Schnur gegen die Wand des Schlosses unterhalb des Fensters an, das sie mit Hilfe ihrer Hände und Füße, die sie gegen die Mauer stemmte, sehr bald erreichte. Dann schwang sie sich rittlings auf den Balkon und sprang leichtfüßig in das Zimmer hinein.
Als sie sah, daß Isabella ganz bleich und beinahe ohnmächtig war, sagte sie lächelnd zu ihr:
»Du hast dich gefürchtet und geglaubt, Chiquita würde zu den Fröschen des Wassergrabens gehen. Ich hatte die Schnur bloß mittels einer Schlinge an dem Ast befestigt, um sie nachziehen zu können.«
»Liebe Kleine,« sagte Isabella, indem sie Chiquita auf die Stirn küßte, »du bist ein wackeres, mutiges Kind.«
»Ich habe deine Freunde gesprochen. Sie hatten dich gesucht, aber ohne Chiquita hätten sie dein Versteck nimmermehr gefunden. Der Kapitän rannte hin und her wie ein Löwe, sein Kopf dampfte, seine Augen schossen Blitze. Er nahm mich sogleich mit aufs Pferd und hält sich jetzt mit seinen Kameraden in einem Wäldchen nicht weit vom Schlosse versteckt. Heute abend, sobald es dunkel ist, wird man deine Befreiung versuchen. Es wird dabei an Säbelhieben und Pistolenschüssen nicht fehlen. Ich freue mich schon darauf, denn nichts ist schöner, als wenn Männer sich miteinander herumschlagen. Du darfst dann aber nicht erschrecken oder schreien. Wenn du willst, so will ich in deiner Nähe bleiben.«
»Sei unbesorgt, Chiquita, ich werde nicht durch törichte Furcht die braven Freunde entmutigen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um mich zu retten.«
»Gut, gut«, entgegnete die Kleine. »Bis heute abend verteidige dich mit dem Messer, das ich dir gegeben. Der Stoß muß von unten nach oben geführt werden! Vergiß das nicht! Man darf uns nicht beisammen sehen, ich werde mir daher einen Winkel suchen, wo ich schlafen kann. Vor allem sieh nicht zum Fenster hinaus. Dies könnte Verdacht erwecken und vielleicht verraten, daß du von dieser Seite Beistand erwartest. Man würde dann eine Treibjagd um das Schloß herum veranstalten und deine Freunde entdecken. Deine Rettung wäre dann vereitelt, und du bliebest in der Gewalt dieses Vallombreuse, den du verabscheuest.«
»Ich werde mich dem Fenster nicht nähern«, antwortete Isabella. »Ich verspreche es dir, wie sehr mich auch die Neugier treiben mag.«
Als Isabella sich allein sah, schlug sie ein Buch auf, das auf einem Pfeilertischchen lag. Sie versuchte ihre Gedanken auf die Lektüre zu richten, aber nur ihre Augen folgten mechanisch den Zeilen. Verdrießlich warf sie das Buch wieder weg. Sie hatte im stillen nacheinander so viele Vermutungen aufgestellt, daß sie endlich müde wurde, dies noch ferner zu tun, und ohne erraten zu wollen, auf welche Weise Sigognac sie befreien würde, rechnete sie auf die unbedingte Hingebung dieses wackeren Mannes.
Der Abend war da. Die Lakaien zündeten die Kerzen an, und es dauerte nicht lange, so erschien der Haushofmeister, um den Besuch des Herzogs von Vallombreuse anzumelden. Er trat unmittelbar hinter seinem Diener ein, und begrüßte seine Gefangene mit der vollkommensten Höflichkeit. Seine Schönheit und Eleganz war wirklich blendend. Sein schön geformtes Antlitz mußte jedem nicht gegen ihn eingenommenen Herzen Liebe einflößen. Ein Wams von perlgrauem Atlas, Beinkleider von rotem Samt, mit Spitzen besetzte Stiefel von weißem Leder, eine Schärpe von Silberbrokat, ein Degen, dessen Griff mit Edelsteinen besetzt war, hoben die Vorzüge seiner Person wunderbar hervor.
»Ich komme, um zu sehen, anbetungswürdige Isabella, ob ich nicht einen bessern Empfang finde, als mein Bukett«, sagte er, indem er in einem Sessel neben der jungen Schauspielerin Platz nahm. »Ich bin nicht so eingebildet, es zu glauben, will Sie aber wenigstens an mich gewöhnen. Morgen folgt ein neues Bukett und ein neuer Besuch.«
»Buketts werden sowenig zu etwas führen als Besuche«, antwortete Isabella. »Es kostet meiner Höflichkeit Überwindung, dies zu sagen, aber meine Aufrichtigkeit darf Ihnen keine Hoffnung lassen.«
»Wohlan,« sagte der Herzog mit hochmütiger Ruhe, »dann werde ich auf die Hoffnung verzichten, und mich mit der Wirklichkeit begnügen. Sie wissen also wohl nicht, armes Kind, daß es Vallombreuse ist, dem Sie zu widerstehen versuchen? Nie ist ein unbefriedigter Wunsch in seine Seele zurückgekehrt. Er geht auf das, was er will, los, ohne daß ihn irgend etwas zurückschrecken oder abwendig machen kann. Weder Tränen noch Bitten, noch Geschrei, noch Leichen, noch rauchende Trümmer. Selbst der Einsturz des Weltalls würde ihn nicht schrecken, und die Trümmer der Welt würden ihm bloß zum Schauplatze dienen, auf denen er sein Gelüst befriedigte. Steigern Sie seine Leidenschaft nicht durch den Reiz des Unmöglichen. Begehen Sie nicht die Unklugheit, den Tiger das Lamm wittern zu lassen und es ihm vorenthalten zu wollen.«
Isabella erschrak über die Veränderung, die in Vallombreuses Zügen vorging, während er diese Worte sprach. Der früher so anmutige Ausdruck seines Gesichtes war vollständig entwichen, und man las darin bloß kalte Bosheit und unerschütterliche Entschlossenheit. Mit instinktartiger Bewegung rückte Isabella mit ihrem Sessel zurück und legte die Hand an das Mieder, um Chiquitas Messer zu fühlen.
Vallombreuse rückte ihr nach. Seinen Zorn bemeisternd, hatte er sein Gesicht schon wieder jene liebenswürdige, heitere und zärtliche Miene annehmen lassen, die bis jetzt unwiderstehlich gewesen war.
»Überwinden Sie sich«, hob er an. »Kehren Sie nicht zu einem Leben zurück, das fortan gleichsam ein vergessener Traum für Sie sein muß. Entsagen Sie dieser hartnäckigen Treue für eine Ihrer unwürdige Liebe und bedenken Sie, daß Sie in den Augen der Welt von jetzt an mir gehören. Bedenken Sie vor allen Dingen, daß ich Sie mit einem Wahnsinn anbete, den mir bis jetzt kein Weib eingeflößt hat. Versuchen Sie nicht, der Flamme, die Sie umgibt, zu entrinnen. Was Sie auch tun mögen, so werden Sie mich freiwillig oder gezwungen lieben, weil ich es will, weil Sie jung und schön sind, und weil auch ich jung und schön bin. Sträuben Sie sich, wie Sie wollen, es wird Ihnen nicht gelingen, sich den Armen zu entwinden, die Sie umschlungen halten. Jeder Widerstand wäre vergeblich. Ergeben Sie sich lächelnd. Ist es denn überhaupt ein so großes Unglück, von dem Herzog von Vallombreuse rasend geliebt zu werden? Wie glücklich würde sich mehr als eine schätzen, wenn dieses Unglück sie träfe?«
Während der Herzog mit jenem hinreißenden Feuer sprach, das die Vernunft der Frauen berauscht, diesmal aber keine Wirkung ausübte, glaubte Isabella ein beinahe unbemerkbares Geräusch zu vernehmen, das von dem andern Ufer des Wassergrabens herkam. Aus Furcht, daß Vallombreuse es ebenfalls bemerken werde, gab Isabella auf seine letzten Worte eine Antwort, die den stolzen Dünkel des Herzogs verletzen mußte. Sie wollte ihn lieber erzürnt als zärtlich sehen und hoffte dabei durch die lauter erhobene Stimme das leise Geräusch draußen zu übertäuben.
»Dieses Glück«, sagte sie, »wäre eine Schmach, der ich mich, wenn mir kein anderes Mittel bliebe, durch den Tod entziehen würde. Sie würden von mir nichts haben als meine Leiche. Früher waren Sie mir gleichgültig, jetzt aber sind Sie mir infolge Ihrer gewalttätigen, nichtswürdigen Handlungsweise geradezu verhaßt. Ja, ich liebe Sigognac, den Sie zu wiederholten Malen meuchlings morden zu lassen versucht haben.«
Das dumpfe Geräusch außen dauerte immer noch fort, und Isabella erhob die Stimme immer mehr.
Bei diesen letzten so kühnen Worten wurde Vallombreuse vor Wut totenbleich, seine Augen schossen Blitze wie die einer Schlange; ein leichter Schaum sammelte sich in den Winkeln seines Mundes, und er fuhr krampfhaft mit der Hand nach dem Griff seines Degens. Der Gedanke, Isabella umzubringen, durchzuckte sein Gehirn wie ein Blitz. Durch ungeheuere Selbstüberwindung aber bezwang er sich und schlug ein höhnisches, gellendes Gelächter auf, indem er sich zugleich der jungen Schauspielerin näherte.
»Bei allen Teufeln,« rief er, »so gefällst du mir! Wenn du mich beleidigst, so gewinnen deine Augen einen übernatürlichen Glanz, und deine Züge eine Farbe und einen Ausdruck, durch den deine Schönheit noch hundertfach vermehrt wird. Du hast wohl daran getan, offen mit der Sprache herauszugehen, deine Zurückhaltung langweilte mich schon längst. Also, du liebst Sigognac? Um so besser. Dann wird es mir nur um so süßer sein, dich zu besitzen. Welch Vergnügen, Lippen zu küssen, die sagen: ›Ich verabscheue dich!‹ Das ist weit reizvoller und pikanter als jenes ewige Fade: ›Ich liebe dich‹, das man in der Regel von den Frauen zu hören bekommt.«
Erschrocken über Vallombreuses entschlossene Miene, war Isabella aufgesprungen und hatte Chiquitas Messer aus ihrem Mieder gezogen.
»Ah,« sagte der Herzog, als er dies sah, »Sie ziehen schon den Dolch. Wenn Sie die römische Geschichte nicht vergessen hätten, so würden Sie, meine Allerschönste, wissen, daß Madame Lucretia sich ihres Dolches erst nach dem Attentate bediente, das Sextus, der Sohn des Tarquinius Superbus, an ihr verübt. Dieses Beispiel aus dem Altertum verdiente Nachahmung.«
Und ohne sich vor dem Messer mehr zu scheuen, als vor dem Stachel einer Biene, stürzte er sich auf Isabella und schloß sie in seine Arme, ehe sie noch Zeit hatte, die Klinge zu heben.
In demselben Augenblick vernahm man ein Knistern und dann ein furchtbares Getöse. Das Fenster stürzte, wie durch das Knie eines Riesen eingestoßen, klirrend in das Zimmer, in das zugleich mehrere Baumäste eindrangen, die eine Art Mauerbrecher und fliegende Brücke bildeten.
Es war die Krone des Baumes, der die Flucht und die Rückkehr Chiquitas begünstigt hatte. Der von Sigognac und seinen Freunden durchsägte Stamm folgte den Gesetzen der Schwere. Sein Sturz war so gelenkt worden, daß er von dem jenseitigen Wasserrande eine Verbindung mit Isabellas Fenster bildete.
Vallombreuse, nicht wenig erstaunt, ließ die junge Schauspielerin los und zog den Degen, um jedem, der versuchen würde, das Zimmer zu stürmen, die Spitze zu bieten.
Chiquita, die auf den Zehen, leicht wie ein Schatten, durch die Tür des Zimmers eingetreten war, zupfte Isabella am Ärmel und sagte zu ihr:
»Verbirg dich hinter diesem Schrank! Der Tanz beginnt!«
Die Kleine sprach die Wahrheit: Zwei oder drei Schüsse knallten durch das Schweigen der Nacht. Die Besatzung des Schlosses witterte den Angriff.