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Als der Oberlehrer heim kam, saß in seinem Zimmer ein Mann, der auf ihn wartete. Es war derselbe Arbeiter, der vor einigen Tagen bei Oskar Steinert Hilfe gesucht hatte und erbittert und unverrichteter Dinge fortgegangen war.
Der Oberlehrer war nicht besonders verwundert. Als ein gesuchter Redner in Arbeiterschulen und Vereinen war er daran gewöhnt, daß die Arbeiter zu ihm kamen um sich Rats oder Belehrung zu erholen, und daß ein Arbeiter, der in der Woche über so wenig freie Zeit verfügt, auch einmal zu einer etwas ungewöhnlichen Zeit eine Unterredung begehrte, war auch weiter nichts Auffallendes. Diesmal aber kam ihm der Besuch doch recht ungelegen, und sein erster und ganz natürlicher Gedanke beim Anblick des Mannes war, daß ihm nun der Abend verdorben sei. Er kannte jedoch den Mann, wußte, daß er einer der Vertrauensmänner in Arbeiterkreisen war, und hatte auch schon mehr als einmal mit ihm geredet. Darum nahm er die Entschuldigungen des Mannes, daß er so spät noch komme, mit großer Freundlichkeit entgegen, erklärte sich bereit, anzuhören, was jener auf dem Herzen hatte, und bat ihn, Platz zu nehmen. »Sie müssen sich nur ein bißchen kurz fassen, Herr Simonsson«, sagte er aber doch. »Meine Frau wartet drüben auf mich, und wir haben gerade heut abend etwas zu besprechen.«
Als aber der Mann erzählte, was er auf dem Herzen hatte, wie er den Rechtsanwalt Steinert aufgesucht, wie dieser ihn aufgenommen hatte und wie unwahrscheinlich es wäre, daß die Strafe des armen Weibes gemildert würde, wenn sie nicht gleich bei der ersten Verhandlung die Hilfe eines geschickten Verteidigers zur Seite hätte, da erhob sich der Oberlehrer von seinem Platz, ging ins Eßzimmer, hatte dort eine kurze Unterredung mit seiner Frau und kam dann wieder zurück.
»Ich habe meiner Frau gesagt, daß das Gespräch länger dauern wird«, sagte er und bat darauf den Arbeiter, das soeben Gesagte noch einmal zu wiederholen.
Der Arbeiter tat es. Genau und gewissenhaft wiederholte er die Worte, die zwischen ihm und dem Rechtsanwalt gewechselt worden waren. Er sagte weder zu viel noch zu wenig, übertrieb nicht, und kleidete seine eigene Empörung über die Behandlung, die ihm zuteil geworden war, bloß in die Worte:
»Das hätten wir von einem solchen Mann nicht erwartet!«
Ein aufrichtiger Verdruß umwölkte des Oberlehrers Gesicht.
»Was beabsichtigen Sie jetzt zu tun?«
»Nichts – ich weiß nichts.«
Der Oberlehrer dachte einen Augenblick nach.
»Gibt es keinen andern Rechtsanwalt?«
»Wie viele gibt es denn überhaupt, mit denen man so etwas besprechen kann?«
Der Arbeiter lächelte scharf bei diesen Worten; seine Blicke wurden stechend. Nach einer Pause fuhr der Oberlehrer fort:
»Meinen Sie, daß ich einen Ausweg finden soll?«
»Ja, das dachte ich.«
»Und was sollte das sein?«
»Könnten der Herr Oberlehrer nicht mit dem Rechtsanwalt reden? Die Herren kennen sich doch?«
Der Oberlehrer hatte die ganze Zeit über gewußt, daß der andere darauf hinaus wollte. Aber der bloße Gedanke an einen solchen Schritt verursachte ihm ein Gefühl des Unbehagens, das geradezu unüberwindlich war. Sich in Oskar Steinerts Angelegenheiten zu mischen war etwas, wovor die allermeisten, die ihn kannten, zurückscheuten. Der Oberlehrer wußte, er würde auf eine Kälte stoßen, die er sich außerstande fühlte, zu besiegen, für die er übrigens auch nie eine Erklärung hatte finden können. Die Mischung von Wärme und Kälte im Wesen dieses Mannes hatte ihn immer zurückgestoßen, wie alles, was der Mensch nicht versteht, ihn abstößt; und wenn er an das Zusammensein vor ein paar Tagen dachte, schien ihm der Vorschlag noch viel unausführbarer. Denn der stärkste Eindruck, den er von jenem Tag empfangen hatte, war, daß er und Oskar Steinert mit den Jahren einander völlig fremd geworden waren.
»Ich versichere Sie,« sagte er, »es wäre ganz vergeblich. Wir stehen nicht so miteinander, daß ich es tun könnte. Und wenn ich es trotzdem versuchen wollte, so würde doch mein Wort bei ihm gar nichts ausrichten.«
Der Oberlehrer sah, daß sich das Gesicht des Arbeiters bei dieser Erklärung verdüsterte; und da es ihm unerträglich war, einen Menschen mit betrübter Miene von sich gehen zu lassen, fuhr er nach kurzer Überlegung fort:
»Wenn ich einen Ausweg finde, so werde ich Sie benachrichtigen. Ich will über die Sache nachdenken und, wenn es Ihnen recht ist, auch noch mit andern darüber reden. Vielleicht findet sich doch noch eine Möglichkeit.«
Der Arbeiter sah nachdenklich aus. Zufrieden war er nicht. Er hatte einen bestimmten Bescheid haben wollen, ja oder nein. Aber da der Oberlehrer ihn wenigstens nicht ganz abwies, mußte er sich doch bedanken. Das tat er auch und fügte noch hinzu:
»Ich wußte wohl, daß der Herr Doktor sein Möglichstes tun würde.«
»Was ich tun kann, das will ich tun«, lautete die Antwort.
Damit schüttelten sich die zwei Männer die Hände, und der Arbeiter ging.
Der Oberlehrer begab sich gleich darauf ins Eßzimmer und verzehrte hastig sein einsames Nachtessen. Die andern waren schon fertig, und Folke war schon zu Bett. Darauf ging er in des Knaben Zimmer, küßte den Schlaftrunkenen und sagte ihm viele gute Worte zum Dank für den schönen Tag, den sie heute miteinander verlebt hatten. Im Wohnzimmer fand er dann seine Frau. Die Lampe war angezündet, und der freundliche Raum mit dem Donatello-Knabenkopf auf dem Klavier, den großen Kupferstichen an den Wänden und der Goethemaske über dem niederen Bücherspind lag im warmen Dämmerschein. Und hier erzählte der Oberlehrer, wie so oft schon, auch heute, was ihn bedrückte, die ganze häßliche Geschichte, die er eben gehört hatte, die Geschichte von seinem früheren Freund, der den Arbeiter, der bei ihm Hilfe suchte, im Stich gelassen hatte. Daß hinter diesem Leiden, mit dem sein Herz so warm fühlte, noch ein anderes, ebenso heißes, ebenso bitteres stecken könnte – daran dachte der Oberlehrer nicht. Alles, was er an diesem Mann, der ein paar Jugendjahre lang sein Freund gewesen war, im innersten stets zu kritisieren gefunden hatte, fiel ihm jetzt wieder ein. Und es gewährte ihm unwillkürlich eine große Befriedigung, daß er immer scharfsichtig genug gewesen war, solchergestalt Kritik an dem andern zu üben, wiewohl vielleicht just das die Schuld daran trug, daß die zwei Männer sich damals nicht näher getreten waren. Ihm schien es, als gäbe dies letzte Vorkommnis ihm recht und bestätigte bloß die Ahnung, die er immer gehabt hatte – nämlich, daß mit diesem Mann nicht alles so war, wie es sein sollte.
»Verstehst du mich auch recht?« sagte er zu seiner Frau. »Dieser Mann hat seine Tätigkeit begonnen als Advokat der Arbeiter. Begreifst du, was das heißen will, daß er in einem derartigen Fall so handeln konnte? Das will heißen, daß er jetzt seinen guten Klientenkreis hat und die Arbeiter ihm überhaupt immer nur zur Reklame gedient haben. Nun er sie nicht mehr braucht, läßt er sie fallen. Ein Seelenmord ist es, was dieser Mann da begangen hat. Nicht mehr und nicht weniger.«
Frau Liese fühlte ihres Mannes Empörung vielleicht noch tiefer als er selber. Sie wurde ganz heiß vor eigenem Empfinden und vor Bewunderung über diese Entrüstung, die sie so redlich teilte.
»Für mich hat Steinert immer etwas Abstoßendes gehabt«, sagte sie. »Wenn er einen ansieht, ist's immer, als müsse man denken: kann er dich brauchen oder kann er dich nicht brauchen? Aber für so herzlos hätte ich ihn doch nicht gehalten.«
Der Oberlehrer stand auf und ging erregt im Zimmer auf und ab.
»Als junge Leute sind wir viel zusammen gewesen«, sagte er nach einer Weile. »Er hatte damals grade sein Examen gemacht. Und als er zum erstenmal in den Kreisen der Hauptstadt auftauchte, setzte man große Erwartungen auf ihn. Mir war er, wie du weißt, nie so recht sympathisch. Aber er interessierte mich. Er steckte damals voller Ideen, und seine ganze Persönlichkeit hatte etwas Blendendes. Wenn man ihn jetzt sieht, so kann man sich keine Vorstellung davon machen, was er damals war, so hat er sich verändert. Ein paar Jahre lang waren wir fast täglich zusammen, schon weil wir im selben Lokal zu Mittag aßen. Er interessierte sich damals für Literatur und moderne Philosophie. Und die meisten glaubten, er würde die Jurisprudenz an den Nagel hängen und Schriftsteller werden. Daß der Mann ein so bedeutendes Talent fürs Praktische, im guten und bösen Sinne, hatte, wie er das später gezeigt hat, das ahnte niemand. Seine Laune war sehr wechselnd. Wenn er eine Zeitlang der Losgelassenste von uns allen gewesen war, konnte er ganz plötzlich verstummen, und es sah aus, als ob da etwas ganz Gefährliches, ich möchte fast sagen, Unterirdisches in ihm ausbräche. Er konnte dann stundenlang stumm dasitzen und trinken, und wenn man ihn störte, so fuhr er in einer Weise auf, die geradezu unheimlich war. Wir vergaßen das ja schnell wieder, die Jugend nimmt es nicht so genau mit der Form. Aber später kam es mir zum Bewußtsein, daß es eben dieser jähe Umschlag in seinem Wesen war, der mich daran hinderte, ihm näher zu kommen. Und jetzt halt' ich das für ein großes Glück.«
Der Oberlehrer schwieg. Über den Erinnerungen, die in ihm erwachten, hatte er fast seine Entrüstung vergessen. Er lächelte still vor sich hin.
»Ich weiß noch, eines Abends,« fuhr er dann fort, »war er noch wechselnder als sonst in seinen Äußerungen. Er behauptete, er habe herausgefunden, warum er nie mit den Menschen würde auskommen können. Wie schwer das auf ihm lastete, dessen war er sich ganz bewußt. Er sagte dann etwas, was erst ganz amüsant klang: ›Es kommt daher,‹ sagte er, ›daß ich nicht die Gabe habe, Bosheit und Dummheit mit dem gebührenden Respekt zu tolerieren.‹ Wir hatten ein bißchen getrunken, und die Stimmung war sehr heiter. Daß er mehr getrunken hatte als die andern, hatte keiner gemerkt. Jedenfalls war es aber doch so. Denn plötzlich wandte er sich zu mir und sagte ganz laut über den Tisch weg: ›Du bist nicht dumm. Das behaupt' ich gar nicht. Aber du bist mittelmäßig; und das ist viel schlimmer.‹«
Der Oberlehrer lachte ein bißchen gezwungen bei dieser Erinnerung, und auch Frau Liese lächelte.
»Und weißt du, was ich glaube?« fuhr er dann fort. »Er meinte es auch tatsächlich.«
Jetzt mußte Frau Liese lachen.
»Dann ist's ja eine noch ärgere Ungezogenheit!«
»Natürlich. Im übrigen hab' ich mich ja nie für ein Genie ausgegeben. Aber das ist schließlich nicht weiter interessant. Was ich eigentlich sagen wollte, ist –: er warf immer so gleichsam im Scherz Dinge hin, die er im Innersten tatsächlich auch meinte, aber nicht gut auf andere Weise sagen konnte. Es war, als hätte er ein Bedürfnis, andere zu verletzen, ich möchte fast sagen, grausam zu sein. Es steckte ein kalter, kritischer Mensch in ihm, der uns alle und vielleicht auch ihn selber durch eine Heftigkeit, die wie Wärme aussehen konnte, täuschte.«
Wieder verstummte der Oberlehrer und nahm seinen Spaziergang durchs Zimmer auf.
»Weißt du, mit wem er jetzt verkehrt?« fragte Frau Liese.
»Nein«, antwortete der Mann kurz. »Er hat sich vollständig isoliert.«
»So einsam ist er?«
»Vollständig. Bekannte hat er genug, aber keine Freunde. Diese Vereinsamung fing mit seiner Heirat an. Er heiratete im Ausland. Keiner von seinen Bekannten wußte davon. Sie hatten sich in Paris kennen gelernt, wo ja der Verkehr zwischen den Geschlechtern freier ist als hier. Über ihre Familienverhältnisse usw. weiß ich nichts und habe auch fast nichts darüber gehört. Es heißt, ihr verstorbener Vater sei eine Art Teilhaber in einem Geschäft in Paris gewesen. Die Mutter soll eine Französin gewesen sein. Ich habe sie selber ja auch ein paarmal gesehen, aber immer nur ganz flüchtig. Übrigens kennst du sie ja auch.«
»Ich kann nicht finden, daß sie schön ist, und sonst ist sie doch erst recht nichts«, urteilte Frau Liese kurz.
»Wie gesagt,« fuhr der Oberlehrer fort, »nach seiner Verheiratung zog er sich zurück. Er kam hierher, ohne es einem Menschen zu schreiben, ließ sich als Rechtsanwalt nieder, ohne irgend jemand ins Vertrauen zu ziehen. Von alten Plänen und Gedanken wollte er gar nicht mehr reden hören. Er hat sich seinen Weg gewählt und geht durchs Leben als ein Mann, der mit allem fertig ist und bloß noch sich selber lebt. Das merkwürdige daran ist, daß er genau so geworden ist, wie er selber voraussagte.«
Frau Liese sah auf.
»Das hast du mir nie erzählt.«
»Ich hatte es vergessen«, erwiderte der Oberlehrer. »Es war an einem Abend, vor vielen Jahren, als wir noch täglich zusammen waren. Ich hatte es längst vergessen, aber neulich, als wir zusammen zu Mittag aßen, erinnerte er mich daran. So auf seine Weise. Ich berührte nämlich zu jener Zeit einmal ganz zufällig seine Schriftstellerpläne, über die er selber oft gesprochen hatte. Da wurde er plötzlich finster und sagte: ›Hast du nicht gemerkt, daß ich in letzter Zeit ganz still davon war? Ich glaub' nicht mehr daran. Was bei mir wie Wille und Enthusiasmus aussieht, ist nichts als ein gewisser Überschuß an Lebenslust, der eines Tages verbrauchtes Kapital sein wird. Glaub' mir, ich weiß das besser als du.‹«
Frau Liese saß ganz still; einen Augenblick lang schien es ihr, als könne in diesen Worten etwas anderes, Tieferes liegen, als die brutale Bankerotterklärung, wofür ihr Mann es hielt. Aber der Groll gegen Steinert, der einem Menschen in tiefster Not den Rücken wenden konnte, saß zu tief in ihr, und ganz im Gedanken hieran erwiderte sie: »Es geschieht ihm nur recht, wenn er jetzt allein ist.«
So war denn Oskar Steinert bei den beiden Eheleuten abgetan. In der folgenden Zeit verging kaum ein Tag, ohne daß sein Name auf die eine oder andere Art zwischen ihnen aufs Tapet gekommen wäre. Daß man die Sache näher untersuchen, eine Erklärung finden, mildernde Umstände annehmen könnte, der Gedanke kam ihnen gar nicht. Die Entrüstung, die die Menschen »gerecht« und »heilig« nennen, beherrschte sie ganz und gar, und auf ihrem Altar ward Steinerts Name, Ehre und Persönlichkeit geopfert. Je öfter sie von ihm redeten, desto schwärzer ward sein Bild. Die Handlung, die sie anfänglich so streng verurteilt hatten, ward nach und nach fast vergessen oder wenigstens in den Hintergrund geschoben. Denn es stellte sich gar bald heraus, daß sie keineswegs einzig dastehend war in Oskar Steinerts Leben und Charakter. Sondern dem Oberlehrer und seiner Frau fielen im Lauf der Tage ohne Schwierigkeit immer mehr Aussprüche und Handlungen des Rechtsanwalts ein, die, im Licht dieser letzten Begebenheit gesehen, eine ganz andere Bedeutung erhielten, als man sie ihnen früher beigelegt hatte. All diese Geschichten blieben auch nicht etwa in der Familie Hjälm. Der Oberlehrer nahm sie ins Lehrerzimmer der Schule mit, Frau Liese beschäftigte sich mit ihnen während ihrer Vormittagsbesuche. Im Anfang sprach der Oberlehrer nur ungern von der Sache, höchstens mit einem vertrauten Freund, unter vier Augen. Aber da er nach wenigen Wochen fand, daß sogar Leute, mit denen er selber nie darüber gesprochen hatte, davon wußten, so hielt er die Geschichte für allgemein bekannt und fand es unnötig, sie noch länger als Diskretionssache zu behandeln. Seine Frau wiederum erzählte die Sache überhaupt jedem, der sie hören wollte, und beantwortete ihres Mannes Einwand, daß sie dazu doch wohl nicht berechtigt seien, mit der volltönenden Erklärung, alles was sie tue, geschehe im Interesse der Wahrheit, und sie halte es einfach für ihre Pflicht, allen Leuten die Augen darüber zu öffnen, was für ein Mensch dieser Oskar Steinert eigentlich sei. Und wenn er und ihr Gatte früher einmal Kameraden gewesen seien, so sei das in ihren Augen nur ein Grund mehr, mit dem, was sie wisse und denke, nicht hinter dem Berg zu halten.
Tatsächlich gingen auch in dieser Zeit einer ganzen Menge Menschen die Augen über das eigentliche Wesen von Rechtsanwalt Steinerts Charakter auf. Das Interesse für Psychologie ist ja bekanntlich in unseren Tagen ganz außerordentlich stark entwickelt, und da sich dies Interesse noch dazu auf eine bekannte Persönlichkeit konzentrierte, war es ja nur natürlich, daß die vereinten Anstrengungen ein gar nicht zu unterschätzendes Resultat zuwege brachten. In solchen Fällen entwickeln sonst im Grund gutherzige Menschen oft eine Tätigkeit, die um so unheilvoller ist, je mehr ihre Beweggründe in ihren und anderer Leute Augen über jedem Verdacht und jeglicher Kritik zu stehen scheinen. Das solide Interesse, das diese Art von psychologischen Untersuchungen auszeichnet, verleiht dem Klatsch eine Ausdehnung und Autorität, die jeden Zweifel verbannen und um so wirksamer sind, als die Betreffenden selber nicht die geringste Besorgnis zu hegen brauchen, daß sie selbst jemals würdig sein könnten, dem Hohn der Allgemeinheit zum Opfer zu fallen. Der Fall Steinert war eine geradezu unübertreffliche Gelegenheit zur Ausübung dieser Lynchjustiz des zivilisierten Europas. Er erwies sich so reich an Möglichkeiten, daß er die geistig führenden Kreise und alle, die in näherer oder fernerer Berührung mit ihnen standen, volle vierzehn Tage lang in Atem hielt, grade ehe der Sommerlandaufenthalt die Mitglieder jener Gesellschaft von heimlichen Heiligen zersplitterte, in der schon so viele der Persönlichkeiten unseres Landes gewogen und zu leicht befunden worden sind.
Hätte Oskar Steinert zu denen gehört, die aus unerforschlichen Gründen bei der Mehrzahl der Einflußreichen persona grata sind, so hätte sich sicherlich zum mindesten eine einflußreiche Stimme zu seinen Gunsten erhoben. Oder zum mindesten wäre irgendein Mensch in gewisse persönliche Verhältnisse eingeweiht gewesen, die doch immerhin eine Art Erklärung gaben. Aber wie seine Aktien nun einmal standen, war er ein Einsamer, und sein Schicksal war besiegelt, noch vor dem Abend, an dem Professor Grape und seine Frau zum letztenmal vor den Sommermonaten ihre Freunde zu einem Abschiedsfest versammelten, ehe der ganze Kreis auseinander splitterte und jeder für sich Natur und Ruhe oder Natur und Arbeit suchte.
Professor Grapes Heim war ein Musterheim; alles von dem großen Porträt Herbert Spencers über dem Wohnzimmersofa bis zu den originellen Tannenholzmöbeln in modernem Stil, zeugte davon, daß das Beste, was die Gegenwart hervorbrachte, hier gewürdigt wurde und ein Heimatrecht hatte. Künstler und Schriftsteller, jüngere Gelehrte und ernsthafte Journalisten versammelten sich hier, Frauen, die teilnahmen am Streben der Männer und andere Interessen als die des Alltags hatten. Da war Doktor Sixten Ebeling, noch immer Junggesell, mit seinem leicht graugesprenkelten Haar und dem unvermeidlichen Kneifer. Direktor Gösta Wickner, der sein ganzes Ansehen wiedererlangt hatte, seit er die Übereilung von damals, als er Bob Flodins Frau verführte und heiratete, durch eine neue, kluge Ehe in Vergessenheit gebracht hatte, war auch zurückgekehrt in den Kreis, den er eine Zeitlang hatte meiden müssen. Auch Oberlehrer Ake Hjälm war da, freundlich, glücklich im Bewußtsein, daß die Wellen der Bucht bei seiner geliebten »Kathe« bald allen Schulstaub des Winters von ihm abspülen würden; Frau Liese sah man in vertraulichem Gespräch mit der Wirtin des Hauses. Fräulein Tora Ljung hatte sich heute abend von ihren Studien und ihrer Einsamkeit losgerissen, obgleich man sie sonst nur selten in Gesellschaft traf, und neben ihr saß stumm und verträumt Olof Björk, der junge Dichter mit dem Kindergesicht und den scheuen Augen. Er war neu eingeführt in diesen Kreis, und saß da, ein Fremdling, der sich mit scheuen und doch kritischen Blicken umschaute und sich ganz heimlich wieder zurückwünschte in den freien Kreis der Kameraden, den er nur widerwillig verlassen hatte.
Die Unterhaltung floß lebhaft und leicht dahin. Ungehemmt von jeder Verantwortlichkeit konnte hier ein jeder frei die Ansichten und Gedanken aussprechen, die so selten an die Öffentlichkeit gelangen; und im sichern Bewußtsein, daß jedes Wort seine wahre Würdigung fand und nicht mißverstanden wurde, besprachen diese Menschen ihre Eindrücke von Ereignissen des Tages, ihre Urteile über Bücher und Kunstwerke, alles vermischt mit den kleinen persönlichen Einzelheiten, die da und dort ein rasches Lächeln, einen Austausch verstehender Blicke hervorrufen. Es war ein Kreis von Menschen, die sich gegenseitig stützten, aufmunterten und halfen in dem oft so gar nicht leichten Kampf, den alle Menschen kämpfen, die sich der Arbeit im Dienst der Öffentlichkeit weihen. Das Verlangen nach Bildung war hier mehr als ein bloßes Wort, das Interesse fürs allgemeine war wahr, lebendig. Das Urteil war mild und doch streng in diesem Kreis, und keiner war da, der nicht die Stellung des anderen kannte und respektierte. Und ebenso war keiner da, der nicht seinen Platz in der nationalen Kulturarbeit der Zeit eingenommen und ihn zu verteidigen gewußt hätte.
Jeder dieser Männer und Frauen kannte die Geschichte von Oskar Steinert und dem hilfesuchenden Arbeiter, die den Oberlehrer Hjälm und seine Frau so heftig erregt hatte. Die einzige in der ganzen Gesellschaft, der die Geschichte fremd war, war jedenfalls Fräulein Tora Ljung. Dank ihrem zurückgezogenen Leben gehörte sie zu den wenigen Beneidenswerten, die das on dit des Tages nur selten erreicht.
Wie in einem gemeinsamen Instinkt mochte aber anfänglich keiner die Sache aufs Tapet bringen, und erst nach dem Nachtessen, als die Gesellschaft wieder um den großen Mahagonitisch unter Herbert Spencers Bild versammelt war, fiel Oskar Steinerts Name. Frau Liese war's, die ihn nannte. Der gerechte Groll, der sie seit Wochen erfüllte, ließ ihr den Gedanken ganz unmöglich erscheinen, daß dieser Abend vorübergehen sollte, ohne ihr die Überzeugung zu bringen, daß das Urteil, das ihr als ein gerechtes vorkam, auch innerhalb des Kreises, in dem sie gewöhnt war eine Stütze für ihre Ansichten zu finden, gebilligt wurde. Es war, als müsse sie sich auf diese Weise eine gewisse Sicherheit für die Gültigkeit ihres eigenen Urteils verschaffen. Und voller Spannung wartete sie auf die Worte der anderen, obgleich sie eigentlich im voraus wußte, wie das Urteil lauten würde.
Tatsächlich entstand einen Augenblick völliges Schweigen, als dies Thema aufs Tapet kam; und fast als möchte er weiterer Diskussion über den Gegenstand vorbeugen, sagte Professor Grape:
»Ich denke, wir sind mit ihm fertig.«
Es war, als ersuche er die Gesellschaft in diskreter Weise, sich nicht mehr mit dem Namen eines solchen Mannes zu beschäftigen.
Tora Ljung zuckte bei dem geringschätzigen Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, zusammen; und weil sie die Ursache nicht kannte und nicht ahnte, was für einen Sturm sie mit ihren unschuldigen Worten entfesselte, fragte sie ruhig: »Was ist denn geschehen?«
Ein allgemeiner Ausruf des Erstaunens antwortete ihr. Daß jemand das nicht wissen konnte, was in aller Munde war! Teils um seiner Frau zu helfen, die die Sache aufs Tapet gebracht hatte, teils auch aus Rücksicht für Fräulein Ljung, deren jahrelange Freundschaft mit dem Rechtsanwalt ihm bekannt war, ergriff jetzt der Oberlehrer das Wort. In seiner ruhigen Art erzählte er sein Gespräch mit dem Arbeiter, der ihn besucht und ihn um Rat gebeten hatte, und was dabei zutage gekommen war. Hjälm sprach ruhig und wehmütig, fast wie einer, der stillschweigend beklagt, daß er Unvorteilhaftes über einen kürzlich Verstorbenen sagen muß; und er war ganz bestürzt, als er sah, daß Fräulein Ljung während seines Berichts abwechselnd bleich und rot wurde und, als er schloß, mit vor Erregung zitternder Stimme rief:
»Also Sie allein sind es, der diese Sache weiter trägt? Oder hat etwa der Arbeiter, von dem Sie gesprochen haben, noch andere aufgesucht?«
Der Oberlehrer zuckte zusammen. Der Ton, in dem Fräulein Ljung sprach, war an sich schon eine Kränkung.
»Ich gebe mich nicht mit Klatsch ab«, erwiderte er trocken. »Die Sache, von der wir hier sprechen, ist ganz allgemein bekannt.«
»Aber wieso?« fuhr Fräulein Ljung mutig fort. »Wieso ist sie bekannt geworden?«
Sie sah sich um; und da sie ringsum bloß Gesichter sah, die sie mit einer Mischung kühlen Erstaunens und Unwillens betrachteten, begriff sie, daß Oskar Steinerts Schicksal in diesem Kreis besiegelt war. Er war gerichtet. Von Natur scheu und zurückhaltend, war es ihr sehr peinlich, weiter zu sprechen, schon deshalb, weil sie merkte, welches Aufsehen sie erregte. Ganz plötzlich glaubte sie zu sehen, daß sie eigentlich in diesem Kreis ganz allein stand, und sie wunderte sich nur darüber, daß sie das nicht schon früher gemerkt hatte. Da sie aber um keinen Preis einen Unschuldigen im Stich gelassen hätte, um so weniger, als es sich um einen Freund handelte, raffte sie ihren Mut noch einmal zusammen und sagte, jedes Wort stark betonend:
»Ich kenne Oskar Steinert seit vielen Jahren und zweifle nicht, daß er aus der einen oder andern Ursache auch einmal unüberlegt gehandelt haben kann. Aber einer niedrig gesinnten und gemeinen Handlung ist er unfähig, das weiß ich. Hat er so gehandelt, wie alle ihm das jetzt vorwerfen, so gibt es auch eine Erklärung dafür.«
Der Oberlehrer zuckte die Achseln und erwiderte:
»Ich glaube nicht, daß es in diesem Fall mehr als eine Erklärung gibt oder geben kann.«
»Doch,« gab Fräulein Ljung leise zurück, »es gibt eine. Leider kann ich sie nicht aussprechen. Ich habe versprochen zu schweigen.«
Frau Liese hatte mit glühenden Wangen zugehört. Jetzt konnte sie sich nicht länger beherrschen.
»Das soll wohl heißen, daß er unzurechnungsfähig ist«, rief sie.
»Nein«, erwiderte Fräulein Ljung wie vorhin. »Das wollte ich damit nicht sagen.«
Jetzt mischte sich der Wirt selbst ins Gespräch, um die Situation, die kritisch zu werden drohte, zu retten. Mit seiner milden, heiteren Stimme äußerte er: »Hätten wir ahnen können, daß Rechtsanwalt Steinert in Fräulein Ljung eine so warme Freundin hat, so hätte sicher niemand dies Gespräch angeschnitten. Wenn man zu den persönlichen Sympathien und Antipathien kommt, hört ja überhaupt jede Diskussion auf.«
Des Professors Frau sandte ihrem Mann einen sprechenden Blick zu, zum Dank, daß er auf so feine Art der peinlichen Sache ein Ende gemacht hatte; und Fräulein Ljung fühlte, daß sie hiermit, zusammen mit dem zuvor Abgeurteilten, auch gerichtet war. Gedankenvoll, in sich versunken saß sie da, während das Gespräch weiter glitt. Sie dachte daran, wie in dieser ganzen Gesellschaft jeder einzelne so gut wußte, daß, wo es sich um eine wissenschaftliche Frage handelt, jederzeit irgendein unbekannter Faktor sich offenbaren kann, der eine schon so gut wie fertige Theorie plötzlich über den Haufen wirft. In solchen Fällen galt ein vorschnelles Urteil einfach als eine grobe Inkompetenzerklärung. Und wo es sich um einen Menschen handelte, brauchte eine Ansicht nur weiter entwickelt zu werden, sich geltend zu machen, und keine Macht der Welt vermochte sie später mehr zu erschüttern! Ein Wort gab das andere, eine Leidenschaft reihte sich an die andere, ein Mensch hetzte den andern auf. Wie eine geistige Seuche verbreitete sich die Sympathie oder Antipathie, wo es sich um einen Mann, eine Frau handelte. Die Höchstgebildeten, der roheste Volkshaufe schienen gleich zugänglich für diese Ansteckung, die wie eine Pest um sich greift und jedes Urteil blind macht. »Die bösen Worte,« dachte sie, »die bösen Worte! Wer fesselt sie?« Als sie sich endlich verabschieden konnte und auf die Straße trat, war ihr zu mute, als käme sie aus verdorbener Luft und müsse lange im Freien gehen, um wieder zur Ruhe zu kommen.
In Professor Grapes Vorzimmer aber stand noch eine Gruppe in lebhaftem Gespräch beieinander. Sie redeten leise, als fürchteten sie, ein Unberufener möchte sie hören. Sie sprachen von Oskar Steinert, nicht mehr von der Sache, deren er beschuldigt war, sondern von seiner Person, seinen Verhältnissen, seinem ganzen Leben. Sie redeten von einem Mann, den sie alle dereinst hoch geschätzt, an den sie große Hoffnungen geknüpft hatten, und mit dem sie nun plötzlich vollständig fertig waren.
»Sie ist zu kostbar, Fräulein Ljung!« sagte eine Damenstimme. »Eine Erklärung, die man nicht aussprechen kann! Was meint sie damit?«
Eine ernste Männerstimme erwiderte: »Zu solchen Gründen greift man nur, wenn man das Gefühl über die Vernunft Herr werden läßt!«
Nach einer Pause fügte ein anderer hinzu:
»Es ist etwas Trauriges um Menschen, die ihre persönlichen Neigungen nicht beherrschen können.«
»Ja«, antwortete eine junge Dame. »Wer so handelt, dringt nie zur Wahrheit durch!«
»Recht so, Fräulein,« sagte Professor Grape. »Die Wahrheit, das ist das Vornehmste und Erste.«
Während dies Gespräch sich noch fortsetzt, geht Fräulein Tora Ljung durch die Straßen heimwärts. Daß sie selber der Gegenstand irgendwelcher Aufmerksamkeit sein könnte, der Gedanke kommt ihr gar nicht. Ihr Herz ist viel zu voll von Bitterkeit gegen die Menschen, die sich so rasch verleiten lassen, ein Urteil zu fällen; und zugleich überkommt sie eine unbestimmte Angst um die Zukunft ihres Freundes. Sie fürchtet ganz ernstlich für sein Schicksal, glaubt, daß diese Geschichte, die doch sicher rasch vergessen sein wird, irgendwie entscheidend eingreifen könnte; und obwohl sie sich sagt, daß diese Verleumdung, wie ja das meiste Böse, was gesagt und geglaubt wird, seine Ohren ganz sicher nicht erreichen wird, so kann sie doch ihre Angst nicht los werden.
Furchtbar ist dies Gefühl der Machtlosigkeit, das den Menschen ergreift, wenn er sich, in großen oder kleinen Dingen, mit der Wahrheit ganz alleinstehend fühlt. Furchtbar ist das Bewußtsein von der Ohnmacht der Wahrheit, furchtbar die Entdeckung, daß die Menschen gerade der Wahrheit zuletzt glauben. Und furchtbarer als alles das Bewußtsein, daß die Göttin gerade denen, die sie am lautesten anrufen, ihr Scheinbild gibt, stolz, gleichgültig, als wolle sie zeigen, wie sehr sie alle die verachtet, die ihren Namen anrufen, ohne ihr Wesen zu kennen. »Und wenn ich ihnen auch alles hätte sagen können,« denkt Tora Ljung, »geglaubt hätte mir doch keiner. Wo nur die rohen Tatsachen gelten, da ist der Instinkt für die feinen Unterscheidungen tot. Und was noch schlimmer ist – er ist verachtet.«
Fröstelnd geht sie weiter. Sie kann das Angstgefühl, das sie gepackt hat, gar nicht mehr los werden; es beherrscht sie so stark, daß sie an jeder Straßenecke meint, jetzt müsse ihr Oskar Steinert begegnen. Und davor fürchtet sie sich; denn sie weiß, jetzt würde sie sich verraten. Sie fährt darum auch zusammen vor Schreck, als plötzlich aus dem Dunkel heraus eine Stimme ihren Namen nennt; ohne sich mehr beherrschen zu können, dreht sie sich um und sieht hinter sich auf dem Trottoir den jungen Dichter, der während des Gesprächs bei Professor Grape neben ihr gesessen hatte.
»Ich wagte nicht gleich, Sie anzusprechen«, erklärte er. »Ich sah, daß Sie erregt waren, und wollte Sie in Ruhe lassen.«
Sie gehen zusammen weiter. Tora Ljung beruhigt sich; sie empfindet die Nähe des jungen Menschen fast wie einen Schutz.
»Ich muß Ihnen danken«, fährt der Dichter fort.
Seine Stimme zittert, die Muskeln in dem jungen Gesicht spielen nervös.
»Es muß Ihnen ja freilich sonderbar vorkommen,« spricht er weiter, – »daß ich so rede. Ich kenne Sie ja nicht, und Sie kennen mich nicht. Ich kenne überhaupt niemand hier außer Doktor Ebeling. Er führte mich ein und sagte, es könnte mir nützen. Den ganzen Abend über saß ich ganz für mich allein. Und immer hatte ich den Eindruck: was habe ich denn diesen Menschen zu sagen – oder sie mir? Ich habe mich den ganzen Abend über gefragt, warum ich mich denn so wenig wohl fühlte in jenem Kreis. Ich hab' gekämpft gegen meine eigenen Gefühle, hab' mich selber darum ausgescholten. Seelenmord begehen sie da – im großen Stil – und mein Gefühl hatte ganz recht, viel mehr noch, als ich wußte!«
Ein phantastischer Zug kommt in das Gesicht des jungen Mannes mit seinen zarten Muskeln und dem angestrengten, harten Ausdruck. So ernst ist seine ganze Art, so aufrichtig sein Empfinden, daß Tora Ljung vergißt, daß sie sich heut abend zum erstenmal getroffen und erst ein paar gleichgültige Worte gewechselt haben. Sie betrachtet ihn mit ihren ruhigen, forschenden Augen und sagt:
»Kennen Sie den Rechtsanwalt Steinert?«
Der junge Mann erwidert:
»Ich habe seinen Namen heute zum erstenmal gehört. Aber Sie brauchen gar nicht mehr zu sagen, als Sie schon gesagt haben. Ich verstehe doch, daß das, was Sie sagten, wahr ist.«
»Nicht nur darum, weil Sie allein waren«, fügt er lächelnd hinzu.
Tora Ljung wird ganz warm; es gibt also einen Menschen, der ihre Worte versteht und noch mehr – das, was hinter ihren Worten liegt! Sie streckt die Hand aus und drückt dankbar die des jungen Mannes. Still wandern sie nebeneinander dahin; um sie zittert das Licht des Frühlingsdämmerns und der Gaslaternen.
»Vielleicht muß man jung sein, um so zu denken und zu handeln, wie Sie«, sagte sie schließlich.
»Wenn ich das glauben müßte, möchte ich lieber gar nicht leben«, entgegnet der junge Mann.
Tora Ljung lächelt.
»Sie sind sehr jung«, sagt sie.
Und einen Augenblick darauf fügt sie hinzu:
»Ich habe Sie nicht kränken wollen.«
»Sie haben mich auch nicht gekränkt«, erwidert er, halb zerstreut.
Wieder gehen sie stumm weiter. Dann sagt Tora Ljung: »Sie haben mir heute abend wohl getan, mehr, als Sie überhaupt wissen.«
Der junge Mann nickt stumm; dann beugt er sich zu ihrem Gesicht hinüber und sagt:
»Es war mein erster Abend in einem Stockholmer Kreis.«
Tora Ljung bleibt stehen und blickt zu ihm auf; der Ton, in dem er gesprochen hat, zwingt sie dazu. Die ganze Verzweiflung der Jugend über getäuschte Erwartungen liegt in seinen Worten.
»Wie meinen Sie das?« sagt sie; aber ihre eignen Worte erscheinen ihr sinnlos; sie weiß wohl, daß sie ihn gut versteht.
»Ich bin hierher gekommen,« fährt der junge Mann fort, »weil ich dachte, hier würd' ich das Leben kennen lernen. Ich komme aus einer kleinen Stadt, wo jeder einzelne für seine eigenen kleinen Interessen lebt; mir war, als könnte ich da nichts lernen. Jahrelang hab' ich mich hierher gesehnt, gewiß nicht, um Berühmtheiten kennen zu lernen, sondern einfach um Menschen zu treffen, die Ideen haben und für sie leben. Ich bin heut' abend in diese Gesellschaft gekommen, so scheu, wie ich es gar nicht an mir gewöhnt bin. Werden Sie es verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß das, was ich heute gesehen und gehört habe, mein Selbstgefühl gekräftigt hat?«
»Sie meinen, Sie verstehen jetzt besser als zuvor, daß es grade die Jugend ist, die man hier braucht?« erwidert Tora.
»Ja«, antwortet der Jüngling, und sein Gesicht trägt einen Ausdruck finsterer Energie, der seltsam von seinen Worten absticht.
»Sie müssen aber doch immer denken, daß wir heute abend bloß ein paar Menschen gesehen haben, die sich täuschen, die irren und die darum ungerecht urteilen«, wendet Tora lächelnd ein. »Wenn Sie sie besser kennten, würden Sie auch wissen, daß viel Gutes in ihnen ist.«
Der junge Mann flammt auf.
»Haben Sie soviel Mitleid mit der geistigen Armut?« sagt er hitzig.
Fräulein Ljung hat ihre Haustür erreicht. Sie kehrt um. Langsam wandern die zwei, die sich so kurze Zeit erst kennen, auf dem Trottoir auf und ab, die jungen Bäume auf dem Johanneskirchhof rauschen leis über ihren Häuptern. Auf Tora Ljungs Gesicht liegt die klare Mischung von Klugheit und Wärme, die ihr eigen ist, aber ihre Stimme klingt scharf, als sie erwidert:
»Böse Geister sind zu den guten gekommen. Ich hab' es lang gefühlt, aber erst heut' abend hab' ich es recht begriffen. Es werden heutzutage bessere Bücher geschrieben, es wird bessere Kunst geschaffen, als je. Und doch fehlt etwas. Wie eine Mißtrauenskrankheit liegt es in der Luft. Ich kann es in einem Bild ausdrücken. Jesus von Nazareth ist für uns so ziemlich vergessen. Aber der Glaube an Judas ist lebendig. Wenn Sie länger hier leben, werden Sie sehen, daß es hier eine Meinung gibt, die viel gefährlicher ist als die öffentliche, weil sie viel schwerer anfechtbar ist: die Meinung der sogenannten führenden Kreise und derer, die mit ihnen in Berührung stehen. Wenn ein Mann oder eine Frau sich im Laufe ihrer Entwicklung von einigen der Anschauungen losmacht, denen der Kreis, dem sie angehören, huldigt, so wird das selten natürlich gefunden; sondern man betrachtet es als eine Beleidigung. Man fragt sich nicht: In welchem Zusammenhang steht das mit seiner oder ihrer Natur, mit seinem oder ihrem Charakter? Sondern man fragt: Welchen Nutzen kann er oder sie davon haben? Wenn diese Frage aufgeworfen wird, so ist der Betreffende schon eine zweifelhafte Persönlichkeit. Dann fängt man an, sentimental zu werden, und beklagt seine oder ihre traurige Entwicklung. Man toleriert sie noch eine Zeitlang. Denn man hofft doch bis zum äußersten, sie werden wieder umkehren. Aber der Verbrecher, der in dem einen oder andern Punkt vom Katechismus abgewichen ist, merkt bald, daß es um ihn leer wird. Die Freunde sind nicht mehr so freundlich wie sonst. Ohne in seiner Unschuld zu begreifen, wieso, merkt das Opfer, daß die Atmosphäre, die Meinungsatmosphäre um ihn eine ganz andere wird, eine, in der ihn friert, und ohne sich die Ursache erklären zu können, fühlt er sich unglücklich, unbehaglich, welkt dahin . . . Um ihn wird eine Leere – in ihm sieht es traurig aus . . . Er ist, um in der Sprache der Bibel zu sprechen, ›unter dem Gericht‹, und wenn's ihm ganz schlecht ergeht, endet er im höllischen Feuer und wird obendrein noch ein Narr gescholten, oder schlimmeres. Das ist der Satanismus des Parteigeistes. Und es hat nicht den Anschein, als hätten die neuen Parteibildungen in dieser Hinsicht etwas von den alten gelernt.«
Tora Ljung hat geendet. Sie bleibt eine Weile stumm stehen, und in ihrem ganzen Wesen liegt etwas, das den jungen Dichter abhält, ihr jetzt zu antworten. Plötzlich füllen sich ihre Augen mit Tränen, und im Gedanken an das Lebensschicksal, das eben am heutigen Abend in die Sphäre des Hasses getreten ist, die sie in ihren Worten geschildert hat, sagt sie langsam:
»Früher oder später findet man an einem solchen Menschen etwas, das aussieht wie ein Charakterfehler. Und über diesem einen Fehler wird dann alles vergessen, was er getan oder gelitten hat. Nicht bloß die Regierungen bedienen sich des Begriffs der ›Mißfälligkeit‹. Auch der Freisinn hat seinen Despotismus. Man wünscht, einen Mann zu vernichten, und nichts kann da sein Schicksal mehr aufhalten. Er ist aus dem Leben ausgestoßen. Der Judasglaube trägt den Sieg über ihn davon.«
Der junge Mann flammt nicht auf, sondern er ist noch bleicher als zuvor. Er antwortet:
»Nie, in meinem ganzen Leben nicht, werd' ich den Haß vergessen, den ich heute abend kennen gelernt habe.«
»Ach,« sagt Tora Ljung, »was heißt Haß? Glauben Sie mir, unter den Besten, grade unter den Allerbesten geschieht so etwas. Darin liegt ja das furchtbare aller Geheimnisse!«
»Glauben Sie?« wandte er ein.
Aber Tora Ljung hört ihn nicht mehr. Sie ist unter dem Torbogen verschwunden, und der Dichter hört nur noch, wie die schwere Tür mit einem Krach zuschlägt. Rasch gleitet seine hohe Gestalt an den Häuserreihen entlang, die ihm plötzlich dunkel erscheinen, drohend, Böses weissagend. Er fühlt sich erregt, verwirrt, und vor seinem Innern steigt das Bild einer kleinen Stadt empor mit engen, dunklen Gassen, spärlich erleuchtet von einzelnen Gasflammen, die wie ertrunken in einem milden, tiefen Dunkel scheinen. Zwischen den Gaslaternen schimmern Schattenbilder niederer, von Gärten umgebener Gebäude, und ein Stück Meer, über dem das Licht des Leuchtfeuers blinkt wie der Widerschein kurzer, hastiger Atemzüge . . . Und wie er dereinst sich fortsehnte, so sehnt er sich jetzt nach Haus. Und weiß doch, er ist einsam, und einsam wird er bleiben in einem Leben, das ihm jetzt so endlos, so ziellos erscheint, lang, wie die Ewigkeit. Vor seinem Blick spukt das Gespenst der Vereinsamung. Und die Großstadt schreckt ihn.