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Am Morgen nach dem Gespräch mit Tora Ljung erwachte der Rechtsanwalt Steinert nach langem, schwerem Schlaf mit dem eigentümlichen Kraftgefühl, das mitten in der Periode tiefster Niedergeschlagenheit plötzlich bei einem Menschen aufleben kann. Voller Angst, daß die Lahmheit des Willens, die ihn seit Monaten beherrscht, wiederkehren könnte, beschloß er, seine heutige Stimmung auszunützen, und mit einer Art Verzweiflung dachte er darüber nach, was alles er durchzukämpfen hatte, ehe er sich selber sagen konnte, er habe die Schwierigkeiten, die ihn am Leben hinderten, besiegt.
Als er ins Schlafzimmer trat, fand er seine Frau wach. Mit glücklichem Lächeln streckte sie ihm die Arme entgegen und sagte: »Es ist besser heute!«
Den Rechtsanwalt durchfuhr ein Stich, als er diesem hingebenden Blick begegnete, der ihm dereinst so viel Glück verheißen hatte; er mußte sich Gewalt antun, um sich nicht wieder, wie so oft schon, von der Hoffnung trügen zu lassen, daß diesmal wirklich alles vorüber und die geistige Gesundheit seiner Frau ein für allemal wiedergekehrt sei. Aber er bezwang seine Weichheit, setzte sich auf den Rand des Bettes, und während er zu sprechen begann, betrachtete er das abgezehrte, gelblichbleiche Gesicht seiner Frau und warf sich selber den Vorsatz, den er jetzt durchführen wollte, als eine Grausamkeit vor. Trotzdem fuhr er fort zu sprechen. Zu seiner großen Verwunderung widersprach sie ihm nicht. Auf seine Vorstellungen antwortete sie nicht, sondern sie senkte nur dann und wann unter seinen Worten den Kopf, stumm und gedankenvoll, und aus den Augen, die sie geschlossen hatte, als quäle sie das Tageslicht, tropften schwere Tränen. Als der Rechtsanwalt ging, wußte er, daß seine Frau eingewilligt hatte, aber er konnte noch nicht fassen, daß das, was er soeben begonnen hatte, auch Wirklichkeit werden würde.
Was ihn in den Tagen, die jetzt folgten, aufrecht hielt, wußte er ebensowenig. Er hatte die Empfindung, als helfe eine fremde Kraft ihm weiter. Er sah sich im Empfangszimmer des Arztes sitzen. Der Arzt und er waren Freunde, während der Krankheit seiner Frau Freunde geworden, und die Unterhaltung wurde in dem eigentümlich erregten Ton geführt, der ganz von selbst kommt, wo es sich um Geisteskrankheiten handelt.
»Es ist ja immer meine Ansicht gewesen,« sagte der Doktor, »daß deine Frau die Pflege, die sie braucht, daheim nicht haben kann.«
»Man möchte doch seine Frau so lang wie möglich bei sich behalten«, wandte Steinert ein.
»Freilich«, erwiderte der Doktor. »Das versteh' ich gut.«
»Glaubst du, sie wird lang fort sein müssen?«
Der Arzt machte eine Gebärde der Ungewißheit.
»Darauf läßt sich nicht so leicht antworten . . . Wir wollen hoffen, daß das Übel nicht zu tief sitzt.«
Oskar Steinert blickte zu Boden, als schäme er sich dessen, was er jetzt zu sagen hatte.
»Ich wäre dir dankbar,« äußerte er, »wenn es bald geschehen könnte.« Und als der andere das versprach, fügte er nervös hinzu:
»Ich fürchte mich vor mir selber. Wenn es nicht jetzt geschieht, so verläßt mich meine Kraft; und dann geschieht es überhaupt nicht.«
Er bemerkte den raschen, forschenden Blick, den der Arzt auf ihn warf, und verstand ihn auch.
»All das hat mich doch natürlich mitgenommen«, sagte er.
Ein paar Tage später saß er mit den Kindern in seinem Arbeitszimmer und teilte ihnen mit, sie dürften heute einen Ausflug machen. Eine Tante, die sie noch nicht kennten, mit der er aber sehr befreundet wäre, würde sie mitnehmen. Er glaubte, in leichtem, halb scherzendem Ton zu sprechen; aber seine Stimme zitterte, und Robin wechselte einen hastigen Blick mit der Schwester, der andeutete, daß sie beide von dem, was sie wußten, schweigen könnten.
Dann blieb der Rechtsanwalt eines Vormittags zu Hause. Unruhig wanderte er in seinem Zimmer auf und ab und wartete auf seine Frau und die Krankenpflegerin, die noch immer nicht kamen.
Unten auf der Straße hielt die geschlossene Droschke. Um ihn brütete das Schweigen: er fürchtete noch in dieser elften Stunde, er möchte vergebens warten. Gespannt horchte er auf jedes Geräusch. Endlich, als seine Unruhe aufs höchste gestiegen war, kam seine Frau, zur Reise gekleidet. Als Steinert sie sah, mußte er sich abwenden, um nicht schwach zu werden. Ihr Gesicht zeigte keine Tränenspuren; aber der Mund war fest geschlossen, wie hinter einem Entschluß. In diesem Augenblick war ihre Seele wach; das wußte er. Sie sah und verstand alles, wie es wirklich war. Und vor diesem Anblick ward der Mann weich. Er fühlte, es bedurfte nur eines Wortes von seiten seiner Frau, und er hätte sie in die Arme geschlossen und ihr gesagt, es sei alles nur ein böser Traum! Er konnte das, was jetzt geschah, nicht ertragen, konnte es nicht ertragen! Aber die Frau ging an ihm vorüber und schien seine Gegenwart gar nicht zu beachten. In sich verschlossen schritt sie durchs Zimmer, und ihre Augen irrten umher, wie um Abschied zu nehmen. Als sie an ihrem Mann vorbei kam, wandte sie sich instinktiv zur Seite, und um ihre Lippen kam ein verächtlicher, unwilliger Zug.
Hinter ihr kam die Wärterin, und dann Oskar Steinert, der noch eine Weile brauchte, um die Korridortür zu schließen. Als er gleich darauf neben seiner Frau im Wagen saß, sah er, daß der entschlossene Zug aus ihrem Gesicht verschwunden war und dem hoffnungslos ausdrucksleeren Starren Platz gemacht hatte, das er so wohl kannte. So völlig verändert war ihr Gesicht, so bar jedes seelischen Ausdrucks, daß er sich fragte, ob das, was er eben noch gesehen hatte, nicht ein Spiel seiner Einbildung gewesen sei. Jetzt scheint an der Kranken nichts mehr zu leben, als die Finger, die, wie die eines Sterbenden am Bettuch, an der leichten Decke pflücken.
Oskar Steinert legt seine Hand auf eine der beiden kleinen Hände im Handschuh, die er so oft geküßt hat. Er kann ihre Unruhe nicht länger mit ansehen.
»Liebe Ellen!« sagt er.
Die Pflegerin, die auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, gab ihm einen stummen Wink, nichts zu sagen. Aber seine Frau hörte ihn nicht. Stumm wie zuvor saß sie da, bis der Wagen vor der großen Gittertür hielt, die bei ihrer Ankunft sogleich aufsprang. Da erwachte Ellen aus ihrer Betäubung. Mit weit offenen Augen sah sie sich um, während sie einfuhren, und als der Wagen vor der Treppe hielt, an der der Arzt sie erwartete, schrie sie laut auf und wollte sich herausstürzen. Als Steinert sie zu beruhigen versuchte, immer noch hoffend, er würde ihr wenigstens Lebewohl sagen können, rief sie: »Wer ist der? Nehmt ihn fort. Ich will ihn nicht sehen!«
Der Ausbruch kam so heftig und so unvorbereitet, daß der Rechtsanwalt wie versteinert stehen blieb. Ohne zu fassen, was er hörte, blickte er sich ratlos um; und erst als der Doktor leise seinen Arm berührte und ihn zum Gehen mahnte, erwachte er wieder zur Besinnung. Und während er ging, hörte er seine Frau sagen:
»Ich hab' es so schwer gehabt, so schwer. Jetzt wird es besser, das weiß ich. Wenn er nur fort ist!«
Wie von Furien gehetzt sprang der Mann in den Wagen und befahl dem Kutscher, zuzufahren. In seinen Ohren klangen unaufhörlich die Worte: »Ich hab' es so schwer gehabt, so schwer!« Und dann: »Es wird besser, wenn er nur erst fort ist!« Noch war er in voller Spannung, noch hatte er Gewalt über sich. Er nahm den Hut ab und merkte, daß seine Stirn naß war von Schweiß. Dann riß er sich die Handschuhe herunter; seine Hände brannten wie Feuer. Unaufhörlich verfolgten ihn die schrecklichen Worte; und vor seinen Augen sah er den bösen, stechenden Blick, der sie begleitet hatte. Halb bewußtlos zog er auch den Überzieher aus. Alles, was er an hatte, drückte ihn, es war, als könne er nichts auf sich dulden. Und in der hellen Maisonne fror ihn so, daß er beide Fenster aufziehen mußte. Schwer fiel er in die Wagenecke zurück, immer den letzten Worten seiner Frau lauschend, die unablässig in ihm wiederhallten. Es war, als wäre sie gestorben und hätte ihm mit ihrem letzten Seufzer geflucht . . .
Endlich saß er in seinem Zimmer und schaute über den weiten Platz mit dem Waldkranz darum. Im blassen Mondschein lag die breite Ebene, dunkler als sonst hob sich dahinter der Wald. Aus der Erde stiegen Silberstreifen kalten Nebels. Und Oskar Steinert starrte gedankenlos über alles hinweg. Tora Ljung war da gewesen und war wieder gegangen. Die Kinder schliefen in ihren kleinen Stübchen. Alles, was gesagt werden mußte, war gesagt; der Tag, der so voll von Ereignissen und darum so endlos lang gewesen war, war zu Ende. Das Schlafsofa in seinem Zimmer war heut nicht zurecht gemacht. Zum erstenmal seit langer Zeit schlief der Rechtsanwalt wieder im Schlafzimmer. Tora hatte ihn gefragt, ob ihm das nicht schmerzlich sei. Und halb lächelnd hatte er geantwortet: »Jetzt nicht mehr.«
Jetzt fuhr plötzlich ein Gedanke auf in Oskar Steinert, der Gedanke: »Warum habe ich Tora Ljung nichts davon gesagt, daß Ellen mich auf einmal von sich stieß und vor mir zurückwich, wie vor einem Feind?« Er war ruhiger jetzt; das Entsetzen, das ihn nach dem Ausbruch seiner Frau gepackt hatte, war dem Nachdenken gewichen. »Habe ich sie schonen wollen?« dachte er. »Meine Frau? Oder Tora schonen, daß sie es nicht hören mußte?« Er entsann sich, gehört zu haben, daß Gemütskranke oft gerade auf die Menschen einen Haß werfen, die sie sonst am liebsten haben. Es war also nichts dabei, was man zu verbergen brauchte. Es war eine ganz natürliche Sache. Weshalb hatte er nicht davon sprechen können? Alles andere hatte er Tora erzählt. Jede Einzelheit, jede Kleinigkeit, von Anfang bis zu Ende des ganzen Tages. Ihre guten, klugen Augen auf ihn gerichtet, hatte sie ihn angehört; und als sie ging, glaubte sie sicher, sie besäße sein vollstes Vertrauen. Weshalb hatte er denn gerade das verschwiegen, was ihm jetzt das Wichtigste schien? Was allen Schmerz, den er je durchgemacht, weit übertraf? Daß sein Weib ihn mit bösen Augen angeblickt und ihm ihr Entsetzen, ihren Haß ins Gesicht geschrien hatte? Warum hatte er das verschwiegen? War es der letzte Rest von Verschwiegenheit, der seine Zunge gebunden hatte, jener männlichen Verschwiegenheit, die Männer auch in der äußersten Not noch davon abhält, einen Schatten auf die Frau zu werfen, die sie lieben?
Oskar Steinert war ans Fenster getreten; und während er in die Nacht hinausblickte, ward es ihm klar, daß er so wie heute überhaupt immer geschwiegen hatte. Es ging ihm auf, daß er sein äußerstes, letztes Vertrauen, das wichtigste, nie einem Menschen geschenkt hatte. Männer und Frauen waren in sein Leben gekommen, waren wieder gegangen; gleich Schatten suchten sie ihn jetzt in der Erinnerung auf. Mehr als andere zu anderen reden, hatte er geredet; immer war ein Hunger in ihm gewesen nach Menschen, der Hunger nach Nehmen, nach Geben, der nie gestillt wird. Jeder einzelne, oder doch viele, hatten geglaubt, sie hätten von ihm alles empfangen, was seinem Innersten am nächsten stand. Und auch er hatte sich dieser Illusion hingegeben, nicht nur die anderen. Jetzt sah er zum erstenmal diese Eigenschaft an sich selber. Wenn er am alleroffensten gesprochen hatte, hatte er am tiefsten geschwiegen. Immer kam ein Augenblick, wo er verstummte.
Daß sein Schweigen diesmal eine Gefahr bergen könnte, das kam ihm nicht in den Sinn. Es beschäftigte ihn jetzt ausschließlich diese Eigenschaft, die er mit so vielen teilte, die er aber für eine nur ihm eigene Eigenheit ansah. Daß sie ihn einsam machte, das fühlte er. Und zugleich wußte er auch gut, daß er sie nie los werden würde. Sein schwerstes Leiden würde er stets allein tragen müssen; und ihm war, als läge in dem Entsetzen, das er heute empfunden, der Vorbote eines unbestimmten, zukünftigen Dunkels, das ihn dereinst unentrinnbar umschließen würde.
Sachte stieg der Nebel im Mondschein über den Plan. Gleich einer Wolke wälzte er sich dem Walde zu, dessen Wipfel schwarz aus dem weißen Silbergewölk aufstiegen.
Oskar Steinert ging durch die stillen Zimmer zur Ruhe. Als er ins Schlafzimmer kam und das eine Bett, zugedeckt, leer neben seinem eigenen stehen sah, da war ihm, als begännen die Wände zu sprechen, als hätte jeder einzelne Gegenstand in diesem Raum, den er so gut kannte, etwas zu erzählen, etwas Neues, etwas das hier geschehen war in all der langen Zeit, da er einsam geschlafen hatte, etwas, wovon er noch nichts wußte. Aber er war zu müde, zu matt, um denken zu können. Die Müdigkeit überwältigte ihn, und als er das Licht gelöscht hatte, schlief er auch schon – schwer und traumlos.
Er schlief, ahnungslos, daß etwas, was Tora Ljung ihm so gern gesagt hätte, nie gesagt werden würde. Nie würde sie ihm sagen können, daß die Menschen, deren Urteil er trotz all seines Stolzes und Eigenwillens schätzte und brauchte, daß gerade diese Menschen ihn gerichtet, verurteilt, ihm, wenn auch nicht das Leben, so doch die Ehre abgesprochen hatten.
Ganz erfüllt vom Gedanken an das Urteil dieser Menschen war Tora Ljung in den letzten Tagen neben Oskar Steinert hergegangen, hatte ihm über die schwere Zeit weggeholfen, hatte ihn wieder verlassen. Jetzt sitzt sie daheim, wach, ruhelos. Sie kennt Oskar Steinert, sie weiß, das Leid kann er tragen, aber das Bewußtsein eines ungerechten Urteils, dem er nicht entgehen, das er nicht in ein gerechtes wandeln kann, das wird ihn zerschmettern. Und so schweigt sie und ängstigt sich vor dem Unrecht, das stumm und unaufhaltsam sein Werk vollbringt.
Oskar Steinert aber kann schlafen; er weiß ja nichts. Mit neugestärkten Kräften kann er zum neuen Tag erwachen.
Barmherzig ist die Verschwiegenheit zwischen Menschen – barmherzig und erbarmungslos.